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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Die Sozialpolitik der nächsten Zeit

bis zu drei Monaten. Es ist Heller Unsinn, das Verlangen nach einer Ver¬
schärfung dieser Strafbestimmung als ein Attentat auf das sogenannte "Streik¬
recht" oder gar das "Koalitionsrecht" der Arbeiter zu denunziren. Es genügt
darauf hinzuweisen, daß ein so waschechter Kathedersozialist wie Schönberg
selbst sich noch neuerdings ganz entschieden für die Verschärfung ausspricht.
Alle großen Streikbewegungen der neuern Zeit hätten gezeigt, daß es in
dieser Hinsicht an einem genügenden Schutz gegen die thatsächliche Ver¬
gewaltigung fehle, die von den Führern und ihren Werkzeugen gegen Arbeiter,
die sich einem Streik nicht anschlössen oder nach ausgebrochnem Streik die
Arbeit wieder aufnehmen wollten, ausgeübt werde. Nichts andres hat der
Kaiser in Oeynhausen gesagt und versprochen. Von einer Beseitigung des
Streikrechts ist dabei ebensowenig die Rede, wie durch die Aufrechterhaltung
einer wirksamen Staatsaufsicht über die Ausübung des Koalitionsrechts dieses
Recht selbst beseitigt wird.

Aber die von rechts wie von links versuchte Ausbeutung der Oeynhausener
Rede macht es heute denen, die ehrlich und treu zum Kaiser stehen, doppelt
zur Pflicht, daraus hinzuweisen, ein wie schwerer Fehler es wäre, den
notwendigen Ausbau unsrer sozialpolitischen Gesetzgebung, soweit sie den
Arbeiterschutz im besondern betrifft, zu vernachlässigen oder zu vertagen.
Nichts könnte die Staatsautorität ärger schädigen, nichts das unaufschiebbare
Erziehungswerk mehr erschweren. Wir haben der Forderung des Grafen
Posadvwsky. den bisherigen Sozialreformen die nötige Ruhe zu lassen, sich
einzuleben und zur Wirklichkeit zu werden, aus voller Überzeugung zugestimmt,
aber gerade deshalb müssen wir den Ausbau der bestehenden Einrichtungen,
wo immer Lücken und Mängel in ihnen den ruhigen, zweckentsprechenden Ge¬
brauch stören, um so dringender verlangen.

Vor allem wird man gerade jetzt mit der Durchführung und Sicherung
des Arbeiterschutzes, soweit er gesetzlich vorgeschrieben ist, Ernst zu machen
haben. Nicht nur aus den Berichten der Gewerbeaufsichtsbeamten geht es
hervor -- wer es nur sehen will, kann sich aus eigner Wahrnehmung davon
überzeugen --, daß in dieser Beziehung sehr viel zu wünschen übrig ist. Es
ist klar, daß die stritte Befolgung eines so komplizirten Apparats von Be¬
stimmungen wie unser Arbeiterschutz überall zu sichern ein Ding der Unmög¬
lichkeit ist, und daß allzu scharfe Buchstabcnreiterei dabei eine Thorheit wäre.
Aber ebenso klar ist es, daß die mit der Aufrechterhaltung der Staatsautorität
betrauten Verwaltungen, und sogar die Gerichte, noch immer in sehr weitem
Umfange selbst die wissentliche, grundsätzliche, frivole und eigennützige Mi߬
achtung der Arbeiterschutzbestimmungen durch die verpflichteten Unternehmer
mit einer das Ansehen des Gesetzes schwer schädigenden, geradezu leichtfertige"
Milde behandeln. Sie setzen die Leute ins Recht, die den Arbeitern einreden,
sie könnten von dem "Klassenstaat" überhaupt keinen Schutz erwarten. Wenn


Die Sozialpolitik der nächsten Zeit

bis zu drei Monaten. Es ist Heller Unsinn, das Verlangen nach einer Ver¬
schärfung dieser Strafbestimmung als ein Attentat auf das sogenannte „Streik¬
recht" oder gar das „Koalitionsrecht" der Arbeiter zu denunziren. Es genügt
darauf hinzuweisen, daß ein so waschechter Kathedersozialist wie Schönberg
selbst sich noch neuerdings ganz entschieden für die Verschärfung ausspricht.
Alle großen Streikbewegungen der neuern Zeit hätten gezeigt, daß es in
dieser Hinsicht an einem genügenden Schutz gegen die thatsächliche Ver¬
gewaltigung fehle, die von den Führern und ihren Werkzeugen gegen Arbeiter,
die sich einem Streik nicht anschlössen oder nach ausgebrochnem Streik die
Arbeit wieder aufnehmen wollten, ausgeübt werde. Nichts andres hat der
Kaiser in Oeynhausen gesagt und versprochen. Von einer Beseitigung des
Streikrechts ist dabei ebensowenig die Rede, wie durch die Aufrechterhaltung
einer wirksamen Staatsaufsicht über die Ausübung des Koalitionsrechts dieses
Recht selbst beseitigt wird.

Aber die von rechts wie von links versuchte Ausbeutung der Oeynhausener
Rede macht es heute denen, die ehrlich und treu zum Kaiser stehen, doppelt
zur Pflicht, daraus hinzuweisen, ein wie schwerer Fehler es wäre, den
notwendigen Ausbau unsrer sozialpolitischen Gesetzgebung, soweit sie den
Arbeiterschutz im besondern betrifft, zu vernachlässigen oder zu vertagen.
Nichts könnte die Staatsautorität ärger schädigen, nichts das unaufschiebbare
Erziehungswerk mehr erschweren. Wir haben der Forderung des Grafen
Posadvwsky. den bisherigen Sozialreformen die nötige Ruhe zu lassen, sich
einzuleben und zur Wirklichkeit zu werden, aus voller Überzeugung zugestimmt,
aber gerade deshalb müssen wir den Ausbau der bestehenden Einrichtungen,
wo immer Lücken und Mängel in ihnen den ruhigen, zweckentsprechenden Ge¬
brauch stören, um so dringender verlangen.

Vor allem wird man gerade jetzt mit der Durchführung und Sicherung
des Arbeiterschutzes, soweit er gesetzlich vorgeschrieben ist, Ernst zu machen
haben. Nicht nur aus den Berichten der Gewerbeaufsichtsbeamten geht es
hervor — wer es nur sehen will, kann sich aus eigner Wahrnehmung davon
überzeugen —, daß in dieser Beziehung sehr viel zu wünschen übrig ist. Es
ist klar, daß die stritte Befolgung eines so komplizirten Apparats von Be¬
stimmungen wie unser Arbeiterschutz überall zu sichern ein Ding der Unmög¬
lichkeit ist, und daß allzu scharfe Buchstabcnreiterei dabei eine Thorheit wäre.
Aber ebenso klar ist es, daß die mit der Aufrechterhaltung der Staatsautorität
betrauten Verwaltungen, und sogar die Gerichte, noch immer in sehr weitem
Umfange selbst die wissentliche, grundsätzliche, frivole und eigennützige Mi߬
achtung der Arbeiterschutzbestimmungen durch die verpflichteten Unternehmer
mit einer das Ansehen des Gesetzes schwer schädigenden, geradezu leichtfertige»
Milde behandeln. Sie setzen die Leute ins Recht, die den Arbeitern einreden,
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[0027] Die Sozialpolitik der nächsten Zeit bis zu drei Monaten. Es ist Heller Unsinn, das Verlangen nach einer Ver¬ schärfung dieser Strafbestimmung als ein Attentat auf das sogenannte „Streik¬ recht" oder gar das „Koalitionsrecht" der Arbeiter zu denunziren. Es genügt darauf hinzuweisen, daß ein so waschechter Kathedersozialist wie Schönberg selbst sich noch neuerdings ganz entschieden für die Verschärfung ausspricht. Alle großen Streikbewegungen der neuern Zeit hätten gezeigt, daß es in dieser Hinsicht an einem genügenden Schutz gegen die thatsächliche Ver¬ gewaltigung fehle, die von den Führern und ihren Werkzeugen gegen Arbeiter, die sich einem Streik nicht anschlössen oder nach ausgebrochnem Streik die Arbeit wieder aufnehmen wollten, ausgeübt werde. Nichts andres hat der Kaiser in Oeynhausen gesagt und versprochen. Von einer Beseitigung des Streikrechts ist dabei ebensowenig die Rede, wie durch die Aufrechterhaltung einer wirksamen Staatsaufsicht über die Ausübung des Koalitionsrechts dieses Recht selbst beseitigt wird. Aber die von rechts wie von links versuchte Ausbeutung der Oeynhausener Rede macht es heute denen, die ehrlich und treu zum Kaiser stehen, doppelt zur Pflicht, daraus hinzuweisen, ein wie schwerer Fehler es wäre, den notwendigen Ausbau unsrer sozialpolitischen Gesetzgebung, soweit sie den Arbeiterschutz im besondern betrifft, zu vernachlässigen oder zu vertagen. Nichts könnte die Staatsautorität ärger schädigen, nichts das unaufschiebbare Erziehungswerk mehr erschweren. Wir haben der Forderung des Grafen Posadvwsky. den bisherigen Sozialreformen die nötige Ruhe zu lassen, sich einzuleben und zur Wirklichkeit zu werden, aus voller Überzeugung zugestimmt, aber gerade deshalb müssen wir den Ausbau der bestehenden Einrichtungen, wo immer Lücken und Mängel in ihnen den ruhigen, zweckentsprechenden Ge¬ brauch stören, um so dringender verlangen. Vor allem wird man gerade jetzt mit der Durchführung und Sicherung des Arbeiterschutzes, soweit er gesetzlich vorgeschrieben ist, Ernst zu machen haben. Nicht nur aus den Berichten der Gewerbeaufsichtsbeamten geht es hervor — wer es nur sehen will, kann sich aus eigner Wahrnehmung davon überzeugen —, daß in dieser Beziehung sehr viel zu wünschen übrig ist. Es ist klar, daß die stritte Befolgung eines so komplizirten Apparats von Be¬ stimmungen wie unser Arbeiterschutz überall zu sichern ein Ding der Unmög¬ lichkeit ist, und daß allzu scharfe Buchstabcnreiterei dabei eine Thorheit wäre. Aber ebenso klar ist es, daß die mit der Aufrechterhaltung der Staatsautorität betrauten Verwaltungen, und sogar die Gerichte, noch immer in sehr weitem Umfange selbst die wissentliche, grundsätzliche, frivole und eigennützige Mi߬ achtung der Arbeiterschutzbestimmungen durch die verpflichteten Unternehmer mit einer das Ansehen des Gesetzes schwer schädigenden, geradezu leichtfertige» Milde behandeln. Sie setzen die Leute ins Recht, die den Arbeitern einreden, sie könnten von dem „Klassenstaat" überhaupt keinen Schutz erwarten. Wenn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/27>, abgerufen am 04.07.2024.