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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Über verminderte Zurechnungsfähigkeit

zwischen Gesundheit und Krankheit keine unübersteigliche Schranke errichtet hat,
daß psychische Gesundheit und Krankheit in vielen Fällen ohne scharfe Grenze
in einander übergehen, daß es Menschen giebt, die nicht ausgesprochen geistes¬
krank, aber auch durchaus nicht geistesgesund sind.

Es ist wichtig, daß die Gleichstellung der Psychiatrie mit den andern
Zweigen der exakten Wissenschaften bekannt wird. Jetzt denkt doch so mancher
Laie, er könne es recht gut allein entscheiden, ob jemand geistig gesund oder
geisteskrank sei. Einen allgemeinen Eindruck, eine Meinung hierüber kann sich
ja gewiß jeder Gebildete verschaffen. Aber nur dessen Urteil hat Anspruch
auf Zuverlässigkeit, der mit den Methoden psychiatrischer Untersnchungstechnik
vertraut ist und hiermit feststellen kann, ob der untersuchte Einzelfall zu einer
der wissenschaftlich erforschten Formen von Psychose wenigstens annähernd
gehört. Namentlich für den Richter ist ein Begriff von der Schwierigkeit
Psychiatrischer Beurteilung unentbehrlich. Die Rechtsprechung bedient sich ja
verschiedner Wissenschaften zur Aufklärung über Spezialfragen. zu deren Be¬
antwortung die Richter der Hilfe Sachverständiger bedürfen. Soll der Richter
über die Beschaffenheit und den Wert einer Violine urteilen, so muß er einen
sachverständigen Geigenküustler oder einen Jnstrnmentenmcicher befragen und
sich bis zu einem gewissen Grade auf dessen Gutachten stützen. Er wird so
entscheiden können, ob das Saiteninstrument verdorben, vorübergehend ver¬
stimmt oder in Ordnung ist, ob es sich um eine gewöhnliche Geige oder um
eine Amati handelt. Dann erst wird die Entscheidung gerecht werden. Um
wieviel wichtiger ist nicht die gerechte Beurteilung der Psyche eines Menschen!
Was für weittragende Folgen kann diese Beurteilung im Strafprozeß haben!

Die fortschreitende Entwicklung der Psychiatrie bringt es nun mit sich, daß
der Gerichtsarzt sein Urteil zuweilen nicht nnr nach zwei Richtungen hin abgeben
kaun: entweder dahin, daß der Angeklagte geistig gesund ist, oder dahin, daß
er an einer krankhaften Störung der Geistesthütigkeit leidet, wodurch seine freie
Willensbestimmung ausgeschlossen ist; sondern es giebt auch Fälle, bei denen
deutliche Zeichen psychischer Abnormität nachweisbar sind, während die Freiheit
der Willensbestimmung nicht vollständig ausgeschlossen ist. Diese psychv-
Pathisch minderwertigen Individuen sollen uns im folgenden ausschließlich
beschäftigen.

Es ist sehr bedauerlich, daß solche auf der Grenze zwischen geistiger Ge¬
sundheit und geistiger Krankheit stehenden Personen gegenwärtig eine sehr ver-
schiedne Beurteilung erfahren, je nachdem der begutachtende Arzt und der
entscheidende Richter Menschen von milder Gemütsart oder von strenger Ge¬
rechtigkeit sind. In dem einen Fall berücksichtigen sie vor allem die Thatsache,
daß der betreffende Angeklagte kein geistig normaler Mensch ist. Sie bezeichnen
ihn daher für "im Sinne des Gesetzes" geisteskrank, Ärzte sind oft geneigt,
den Unterschied zwischen Nervenkrankheit und Geisteskrankheit unbewußt zu


Grenzboten IV 1898 24
Über verminderte Zurechnungsfähigkeit

zwischen Gesundheit und Krankheit keine unübersteigliche Schranke errichtet hat,
daß psychische Gesundheit und Krankheit in vielen Fällen ohne scharfe Grenze
in einander übergehen, daß es Menschen giebt, die nicht ausgesprochen geistes¬
krank, aber auch durchaus nicht geistesgesund sind.

Es ist wichtig, daß die Gleichstellung der Psychiatrie mit den andern
Zweigen der exakten Wissenschaften bekannt wird. Jetzt denkt doch so mancher
Laie, er könne es recht gut allein entscheiden, ob jemand geistig gesund oder
geisteskrank sei. Einen allgemeinen Eindruck, eine Meinung hierüber kann sich
ja gewiß jeder Gebildete verschaffen. Aber nur dessen Urteil hat Anspruch
auf Zuverlässigkeit, der mit den Methoden psychiatrischer Untersnchungstechnik
vertraut ist und hiermit feststellen kann, ob der untersuchte Einzelfall zu einer
der wissenschaftlich erforschten Formen von Psychose wenigstens annähernd
gehört. Namentlich für den Richter ist ein Begriff von der Schwierigkeit
Psychiatrischer Beurteilung unentbehrlich. Die Rechtsprechung bedient sich ja
verschiedner Wissenschaften zur Aufklärung über Spezialfragen. zu deren Be¬
antwortung die Richter der Hilfe Sachverständiger bedürfen. Soll der Richter
über die Beschaffenheit und den Wert einer Violine urteilen, so muß er einen
sachverständigen Geigenküustler oder einen Jnstrnmentenmcicher befragen und
sich bis zu einem gewissen Grade auf dessen Gutachten stützen. Er wird so
entscheiden können, ob das Saiteninstrument verdorben, vorübergehend ver¬
stimmt oder in Ordnung ist, ob es sich um eine gewöhnliche Geige oder um
eine Amati handelt. Dann erst wird die Entscheidung gerecht werden. Um
wieviel wichtiger ist nicht die gerechte Beurteilung der Psyche eines Menschen!
Was für weittragende Folgen kann diese Beurteilung im Strafprozeß haben!

Die fortschreitende Entwicklung der Psychiatrie bringt es nun mit sich, daß
der Gerichtsarzt sein Urteil zuweilen nicht nnr nach zwei Richtungen hin abgeben
kaun: entweder dahin, daß der Angeklagte geistig gesund ist, oder dahin, daß
er an einer krankhaften Störung der Geistesthütigkeit leidet, wodurch seine freie
Willensbestimmung ausgeschlossen ist; sondern es giebt auch Fälle, bei denen
deutliche Zeichen psychischer Abnormität nachweisbar sind, während die Freiheit
der Willensbestimmung nicht vollständig ausgeschlossen ist. Diese psychv-
Pathisch minderwertigen Individuen sollen uns im folgenden ausschließlich
beschäftigen.

Es ist sehr bedauerlich, daß solche auf der Grenze zwischen geistiger Ge¬
sundheit und geistiger Krankheit stehenden Personen gegenwärtig eine sehr ver-
schiedne Beurteilung erfahren, je nachdem der begutachtende Arzt und der
entscheidende Richter Menschen von milder Gemütsart oder von strenger Ge¬
rechtigkeit sind. In dem einen Fall berücksichtigen sie vor allem die Thatsache,
daß der betreffende Angeklagte kein geistig normaler Mensch ist. Sie bezeichnen
ihn daher für „im Sinne des Gesetzes" geisteskrank, Ärzte sind oft geneigt,
den Unterschied zwischen Nervenkrankheit und Geisteskrankheit unbewußt zu


Grenzboten IV 1898 24
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[0196] Über verminderte Zurechnungsfähigkeit zwischen Gesundheit und Krankheit keine unübersteigliche Schranke errichtet hat, daß psychische Gesundheit und Krankheit in vielen Fällen ohne scharfe Grenze in einander übergehen, daß es Menschen giebt, die nicht ausgesprochen geistes¬ krank, aber auch durchaus nicht geistesgesund sind. Es ist wichtig, daß die Gleichstellung der Psychiatrie mit den andern Zweigen der exakten Wissenschaften bekannt wird. Jetzt denkt doch so mancher Laie, er könne es recht gut allein entscheiden, ob jemand geistig gesund oder geisteskrank sei. Einen allgemeinen Eindruck, eine Meinung hierüber kann sich ja gewiß jeder Gebildete verschaffen. Aber nur dessen Urteil hat Anspruch auf Zuverlässigkeit, der mit den Methoden psychiatrischer Untersnchungstechnik vertraut ist und hiermit feststellen kann, ob der untersuchte Einzelfall zu einer der wissenschaftlich erforschten Formen von Psychose wenigstens annähernd gehört. Namentlich für den Richter ist ein Begriff von der Schwierigkeit Psychiatrischer Beurteilung unentbehrlich. Die Rechtsprechung bedient sich ja verschiedner Wissenschaften zur Aufklärung über Spezialfragen. zu deren Be¬ antwortung die Richter der Hilfe Sachverständiger bedürfen. Soll der Richter über die Beschaffenheit und den Wert einer Violine urteilen, so muß er einen sachverständigen Geigenküustler oder einen Jnstrnmentenmcicher befragen und sich bis zu einem gewissen Grade auf dessen Gutachten stützen. Er wird so entscheiden können, ob das Saiteninstrument verdorben, vorübergehend ver¬ stimmt oder in Ordnung ist, ob es sich um eine gewöhnliche Geige oder um eine Amati handelt. Dann erst wird die Entscheidung gerecht werden. Um wieviel wichtiger ist nicht die gerechte Beurteilung der Psyche eines Menschen! Was für weittragende Folgen kann diese Beurteilung im Strafprozeß haben! Die fortschreitende Entwicklung der Psychiatrie bringt es nun mit sich, daß der Gerichtsarzt sein Urteil zuweilen nicht nnr nach zwei Richtungen hin abgeben kaun: entweder dahin, daß der Angeklagte geistig gesund ist, oder dahin, daß er an einer krankhaften Störung der Geistesthütigkeit leidet, wodurch seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen ist; sondern es giebt auch Fälle, bei denen deutliche Zeichen psychischer Abnormität nachweisbar sind, während die Freiheit der Willensbestimmung nicht vollständig ausgeschlossen ist. Diese psychv- Pathisch minderwertigen Individuen sollen uns im folgenden ausschließlich beschäftigen. Es ist sehr bedauerlich, daß solche auf der Grenze zwischen geistiger Ge¬ sundheit und geistiger Krankheit stehenden Personen gegenwärtig eine sehr ver- schiedne Beurteilung erfahren, je nachdem der begutachtende Arzt und der entscheidende Richter Menschen von milder Gemütsart oder von strenger Ge¬ rechtigkeit sind. In dem einen Fall berücksichtigen sie vor allem die Thatsache, daß der betreffende Angeklagte kein geistig normaler Mensch ist. Sie bezeichnen ihn daher für „im Sinne des Gesetzes" geisteskrank, Ärzte sind oft geneigt, den Unterschied zwischen Nervenkrankheit und Geisteskrankheit unbewußt zu Grenzboten IV 1898 24

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/196>, abgerufen am 24.07.2024.