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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Über verminderte Zurechnungsfähigkeit

Körper des Menschen ist im Laufe der Jahrtausende mit immer feinern
Methoden studirt worden, die Beschaffenheit und der Zweck der meisten Organe
des Körpers sind jetzt im großen und ganzen hinreichend bekannt, große und
kleine Abweichungen von der Norm sind in überwältigender Zahl festgestellt.
Je feiner die technischen Hilfsmittel werden, umso besser werden die Geheim¬
nisse des gesunden Menschenleibes enthüllt, umso bewundernder staunt man
über das Regelmäßige seiner Entwicklung, das Künstlerische seines Vanes, über
das Zweckmäßige in der Bethätigung seiner Teile. Je rüstiger die Pathologie
fortschreitet, umso deutlicher erkennt man, daß alle Krankheitserscheinungen des
Körpers ewigen, ehernen Gesetzen unterworfen sind. Zuerst einigte man sich
über die wichtigsten Krankheitsgruppen; jetzt begreift man immer mehr die
feinern Einzelstörungen, die jeden Apparat des menschlichen Körpers treffen
können.

Es ist erst eine verhältnismäßig kurze Zeit verflossen, seit sich die exakte
naturwissenschaftliche Forschung in gleicher Weise dem Studium des gesunden
und kranken Seelenlebens zugewandt hat. Auch hier mußten in Physiologie,
Pathologie und Anatomie erst große Mengen von Erfahrungen gesammelt
werden, und auch hier ergiebt sich bei ihrer Sichtung immer mehr, daß nicht
nur der gesunde Geist in vorgeschriebnen Bahnen nach klaren Gesetzen arbeitet,
sondern daß anch alle Störungen der Seelenthätigkeit nichts andres sind als
die unabänderlichen Wirkungen bestimmter angeborner Mängel oder erworbner
Veränderungen in der Funktion oder in dem Bau des Seeleuorgaus, nichts
andres als die Zeichen bestimmter Krankheiten, die unmittelbar oder mittelbar
das Vorderhirn treffen. Je nach dem Sitz, dem Umfang und der Art der
Krankheiten des Vorderhirns kommt es zu schweren oder leichten psychischen
Anomalien, zu stärkern oder schwächern Abweichungen vom gesunden Geistes¬
und Gemütsleben und von der gesunden Willensthätigkeit. Man ist überein¬
gekommen, die schweren Störungen der Seelenthütigkeit Geisteskrankheiten zu
nennen. Die psychiatrische Wissenschaft, die sich die Erkenntnis und Behand¬
lung der Geisteskrankheiten zum Ziele gesetzt hat, kannte früher etwa fünf sich
in groben Zügen von einander unterscheidende und kennt jetzt mehr als
zwanzig in feinern Nüancen von einander sicher unterscheidbare Einzelkrank¬
heiten; an der innern schärfern Abgrenzung dieser Krankheiten von einander
wird mit Eifer und offenbar mit Glück weiter gearbeitet. Es ist interessant,
daran zu erinnern, daß das sichere Fortschreiten auch in der Psychiatrie von
dem Zeitpunkt herrührt, wo man alle theoretischen Spekulationen über Bord
warf und sich ausschließlich auf Erfahrungen stützte, die durch vorurteilsfreie,
gewissenhafte, sich auf die ganze Zeit der Krankheit erstreckende Einzelbeobachtung
gewonnen worden waren.

Was nun bei diesen Studien zur Zeit immer deutlicher hervortritt, ist,
daß die Natur wie bei allen andern Organen, so auch beim Seelenorgan


Über verminderte Zurechnungsfähigkeit

Körper des Menschen ist im Laufe der Jahrtausende mit immer feinern
Methoden studirt worden, die Beschaffenheit und der Zweck der meisten Organe
des Körpers sind jetzt im großen und ganzen hinreichend bekannt, große und
kleine Abweichungen von der Norm sind in überwältigender Zahl festgestellt.
Je feiner die technischen Hilfsmittel werden, umso besser werden die Geheim¬
nisse des gesunden Menschenleibes enthüllt, umso bewundernder staunt man
über das Regelmäßige seiner Entwicklung, das Künstlerische seines Vanes, über
das Zweckmäßige in der Bethätigung seiner Teile. Je rüstiger die Pathologie
fortschreitet, umso deutlicher erkennt man, daß alle Krankheitserscheinungen des
Körpers ewigen, ehernen Gesetzen unterworfen sind. Zuerst einigte man sich
über die wichtigsten Krankheitsgruppen; jetzt begreift man immer mehr die
feinern Einzelstörungen, die jeden Apparat des menschlichen Körpers treffen
können.

Es ist erst eine verhältnismäßig kurze Zeit verflossen, seit sich die exakte
naturwissenschaftliche Forschung in gleicher Weise dem Studium des gesunden
und kranken Seelenlebens zugewandt hat. Auch hier mußten in Physiologie,
Pathologie und Anatomie erst große Mengen von Erfahrungen gesammelt
werden, und auch hier ergiebt sich bei ihrer Sichtung immer mehr, daß nicht
nur der gesunde Geist in vorgeschriebnen Bahnen nach klaren Gesetzen arbeitet,
sondern daß anch alle Störungen der Seelenthätigkeit nichts andres sind als
die unabänderlichen Wirkungen bestimmter angeborner Mängel oder erworbner
Veränderungen in der Funktion oder in dem Bau des Seeleuorgaus, nichts
andres als die Zeichen bestimmter Krankheiten, die unmittelbar oder mittelbar
das Vorderhirn treffen. Je nach dem Sitz, dem Umfang und der Art der
Krankheiten des Vorderhirns kommt es zu schweren oder leichten psychischen
Anomalien, zu stärkern oder schwächern Abweichungen vom gesunden Geistes¬
und Gemütsleben und von der gesunden Willensthätigkeit. Man ist überein¬
gekommen, die schweren Störungen der Seelenthütigkeit Geisteskrankheiten zu
nennen. Die psychiatrische Wissenschaft, die sich die Erkenntnis und Behand¬
lung der Geisteskrankheiten zum Ziele gesetzt hat, kannte früher etwa fünf sich
in groben Zügen von einander unterscheidende und kennt jetzt mehr als
zwanzig in feinern Nüancen von einander sicher unterscheidbare Einzelkrank¬
heiten; an der innern schärfern Abgrenzung dieser Krankheiten von einander
wird mit Eifer und offenbar mit Glück weiter gearbeitet. Es ist interessant,
daran zu erinnern, daß das sichere Fortschreiten auch in der Psychiatrie von
dem Zeitpunkt herrührt, wo man alle theoretischen Spekulationen über Bord
warf und sich ausschließlich auf Erfahrungen stützte, die durch vorurteilsfreie,
gewissenhafte, sich auf die ganze Zeit der Krankheit erstreckende Einzelbeobachtung
gewonnen worden waren.

Was nun bei diesen Studien zur Zeit immer deutlicher hervortritt, ist,
daß die Natur wie bei allen andern Organen, so auch beim Seelenorgan


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[0195] Über verminderte Zurechnungsfähigkeit Körper des Menschen ist im Laufe der Jahrtausende mit immer feinern Methoden studirt worden, die Beschaffenheit und der Zweck der meisten Organe des Körpers sind jetzt im großen und ganzen hinreichend bekannt, große und kleine Abweichungen von der Norm sind in überwältigender Zahl festgestellt. Je feiner die technischen Hilfsmittel werden, umso besser werden die Geheim¬ nisse des gesunden Menschenleibes enthüllt, umso bewundernder staunt man über das Regelmäßige seiner Entwicklung, das Künstlerische seines Vanes, über das Zweckmäßige in der Bethätigung seiner Teile. Je rüstiger die Pathologie fortschreitet, umso deutlicher erkennt man, daß alle Krankheitserscheinungen des Körpers ewigen, ehernen Gesetzen unterworfen sind. Zuerst einigte man sich über die wichtigsten Krankheitsgruppen; jetzt begreift man immer mehr die feinern Einzelstörungen, die jeden Apparat des menschlichen Körpers treffen können. Es ist erst eine verhältnismäßig kurze Zeit verflossen, seit sich die exakte naturwissenschaftliche Forschung in gleicher Weise dem Studium des gesunden und kranken Seelenlebens zugewandt hat. Auch hier mußten in Physiologie, Pathologie und Anatomie erst große Mengen von Erfahrungen gesammelt werden, und auch hier ergiebt sich bei ihrer Sichtung immer mehr, daß nicht nur der gesunde Geist in vorgeschriebnen Bahnen nach klaren Gesetzen arbeitet, sondern daß anch alle Störungen der Seelenthätigkeit nichts andres sind als die unabänderlichen Wirkungen bestimmter angeborner Mängel oder erworbner Veränderungen in der Funktion oder in dem Bau des Seeleuorgaus, nichts andres als die Zeichen bestimmter Krankheiten, die unmittelbar oder mittelbar das Vorderhirn treffen. Je nach dem Sitz, dem Umfang und der Art der Krankheiten des Vorderhirns kommt es zu schweren oder leichten psychischen Anomalien, zu stärkern oder schwächern Abweichungen vom gesunden Geistes¬ und Gemütsleben und von der gesunden Willensthätigkeit. Man ist überein¬ gekommen, die schweren Störungen der Seelenthütigkeit Geisteskrankheiten zu nennen. Die psychiatrische Wissenschaft, die sich die Erkenntnis und Behand¬ lung der Geisteskrankheiten zum Ziele gesetzt hat, kannte früher etwa fünf sich in groben Zügen von einander unterscheidende und kennt jetzt mehr als zwanzig in feinern Nüancen von einander sicher unterscheidbare Einzelkrank¬ heiten; an der innern schärfern Abgrenzung dieser Krankheiten von einander wird mit Eifer und offenbar mit Glück weiter gearbeitet. Es ist interessant, daran zu erinnern, daß das sichere Fortschreiten auch in der Psychiatrie von dem Zeitpunkt herrührt, wo man alle theoretischen Spekulationen über Bord warf und sich ausschließlich auf Erfahrungen stützte, die durch vorurteilsfreie, gewissenhafte, sich auf die ganze Zeit der Krankheit erstreckende Einzelbeobachtung gewonnen worden waren. Was nun bei diesen Studien zur Zeit immer deutlicher hervortritt, ist, daß die Natur wie bei allen andern Organen, so auch beim Seelenorgan

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/195>, abgerufen am 24.07.2024.