Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Über verminderte Zurechnungsfähigkeit

ignoriren, und manche von ihnen bescheinigen jedem Neurastheniker, daß er der
freien Willensbestimmung beraubt gewesen sei. Im andern Fall legen die
maßgebenden Beamten den Hauptwert darauf, daß der Angeklagte nicht in
dem Grade geistig gestört ist, daß seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen
wäre, sie erklären ihn für zurechnungsfähig, es erfolgt seine Verurteilung und
Bestrafung. Der Arzt und der Verteidiger werden sich in zweifelhaften Füllen
eher für Geisteskrankheit aussprechen. Der Staatsanwalt und der Richter
werden vielleicht geneigt sein, so oft als möglich Zurechnungsfähigkeit anzu¬
nehmen. Solche verschiedne Beurteilung derselben Person führt natürlich zu
vielen Unzutrüglichkeiten. Es werden verschiedne Gutachten eingeholt, die
Gutachten widersprechen sich. Es werden verschiedne richterliche Instanzen in
Bewegung gesetzt, die Instanzen urteilen verschieden. Auch unbefangne Männer
des Volkes, deren Rechtsbewußtsein mit einem Richterspruch in Einklang stehen
soll, sind verschiedner Meinung. Daher macht sich ein Gefühl der Rechtsun¬
sicherheit im Staate geltend.

Es ist nicht der Zweck dieser Zeilen, die in das Grenzgebiet zwischen
geistiger Gesundheit und psychischer Krankheit zu rechnenden Krankheitszustände
aufzuzählen und zu beschreiben. Nur eine allgemeine Skizze mag hier ein¬
geflochten werden. Die betreffenden Leute sind gemütlich reizbarer und erreg¬
barer als andre, der Antrieb zum Schlechten ist bei ihnen oft überstark, alle
Leidenschaften werden leichter entflammt, die Stimmung wechselt ohne Motiv.
Derartige Menschen denken meist nur an sich und ihr Wohlbefinden, haben
keinen Sinn für das Recht des Nächsten, kennen kein Pflichtbewußtsein, ent¬
behren jedes sittlichen Halts. Sie fangen allerlei an, halten aber nirgends
aus, ihrem Willen fehlt die gesunde Festigkeit. Bei aller intellektuellen Thätig¬
keit tritt vorzeitige Ermüdung ein. Ihr Urteil ist unreif, ihr Erinnerungs¬
vermögen oft nicht treu, die Phantasie umso lebhafter, die Veeinflußbarkeit
überstark. Zwangsvorstellungen und Wahnideen sind zwar nicht ausgebildet,
können aber leicht augedeutet sein. Alle derartigen psychischen Anomalien
können angeboren oder erst erworben sein, können sich nur vorübergehend aber
auch dauernd bemerkbar machen; sehr häufig verstärken sie sich nach unregel¬
mäßigen Zwischenräumen, sind eine Zeit lang sehr augenfällig und treten dann
wieder bis zum nächsten Anfall in den Hintergrund. Die krankhafte Beschaffen¬
heit des Nervensystems giebt sich außer in solchen und andern psychischen
Anomalien oft auch auf körperlich nervösem Gebiete in mancherlei Zeichen zu
erkennen, z. B. in Krampfanfällen, in hysterischen Störungen der Sensibilität,
der Reflexerregbarkeit und der Motilität und in neurasthenischen Beschwerden.
Die Ursache der krankhaften Konstitution des Nervensystems kann sehr mannig¬
faltig sein: Starke erbliche Belastung schafft am häufigsten die geschilderte
Entartung. Allerlei Gifte, wie Morphium, Coeain, Alkohol, können das
Nervensystem geschädigt haben. Akute und chronische körperliche Krankheiten,


Über verminderte Zurechnungsfähigkeit

ignoriren, und manche von ihnen bescheinigen jedem Neurastheniker, daß er der
freien Willensbestimmung beraubt gewesen sei. Im andern Fall legen die
maßgebenden Beamten den Hauptwert darauf, daß der Angeklagte nicht in
dem Grade geistig gestört ist, daß seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen
wäre, sie erklären ihn für zurechnungsfähig, es erfolgt seine Verurteilung und
Bestrafung. Der Arzt und der Verteidiger werden sich in zweifelhaften Füllen
eher für Geisteskrankheit aussprechen. Der Staatsanwalt und der Richter
werden vielleicht geneigt sein, so oft als möglich Zurechnungsfähigkeit anzu¬
nehmen. Solche verschiedne Beurteilung derselben Person führt natürlich zu
vielen Unzutrüglichkeiten. Es werden verschiedne Gutachten eingeholt, die
Gutachten widersprechen sich. Es werden verschiedne richterliche Instanzen in
Bewegung gesetzt, die Instanzen urteilen verschieden. Auch unbefangne Männer
des Volkes, deren Rechtsbewußtsein mit einem Richterspruch in Einklang stehen
soll, sind verschiedner Meinung. Daher macht sich ein Gefühl der Rechtsun¬
sicherheit im Staate geltend.

Es ist nicht der Zweck dieser Zeilen, die in das Grenzgebiet zwischen
geistiger Gesundheit und psychischer Krankheit zu rechnenden Krankheitszustände
aufzuzählen und zu beschreiben. Nur eine allgemeine Skizze mag hier ein¬
geflochten werden. Die betreffenden Leute sind gemütlich reizbarer und erreg¬
barer als andre, der Antrieb zum Schlechten ist bei ihnen oft überstark, alle
Leidenschaften werden leichter entflammt, die Stimmung wechselt ohne Motiv.
Derartige Menschen denken meist nur an sich und ihr Wohlbefinden, haben
keinen Sinn für das Recht des Nächsten, kennen kein Pflichtbewußtsein, ent¬
behren jedes sittlichen Halts. Sie fangen allerlei an, halten aber nirgends
aus, ihrem Willen fehlt die gesunde Festigkeit. Bei aller intellektuellen Thätig¬
keit tritt vorzeitige Ermüdung ein. Ihr Urteil ist unreif, ihr Erinnerungs¬
vermögen oft nicht treu, die Phantasie umso lebhafter, die Veeinflußbarkeit
überstark. Zwangsvorstellungen und Wahnideen sind zwar nicht ausgebildet,
können aber leicht augedeutet sein. Alle derartigen psychischen Anomalien
können angeboren oder erst erworben sein, können sich nur vorübergehend aber
auch dauernd bemerkbar machen; sehr häufig verstärken sie sich nach unregel¬
mäßigen Zwischenräumen, sind eine Zeit lang sehr augenfällig und treten dann
wieder bis zum nächsten Anfall in den Hintergrund. Die krankhafte Beschaffen¬
heit des Nervensystems giebt sich außer in solchen und andern psychischen
Anomalien oft auch auf körperlich nervösem Gebiete in mancherlei Zeichen zu
erkennen, z. B. in Krampfanfällen, in hysterischen Störungen der Sensibilität,
der Reflexerregbarkeit und der Motilität und in neurasthenischen Beschwerden.
Die Ursache der krankhaften Konstitution des Nervensystems kann sehr mannig¬
faltig sein: Starke erbliche Belastung schafft am häufigsten die geschilderte
Entartung. Allerlei Gifte, wie Morphium, Coeain, Alkohol, können das
Nervensystem geschädigt haben. Akute und chronische körperliche Krankheiten,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0197" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/229146"/>
          <fw type="header" place="top"> Über verminderte Zurechnungsfähigkeit</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_502" prev="#ID_501"> ignoriren, und manche von ihnen bescheinigen jedem Neurastheniker, daß er der<lb/>
freien Willensbestimmung beraubt gewesen sei. Im andern Fall legen die<lb/>
maßgebenden Beamten den Hauptwert darauf, daß der Angeklagte nicht in<lb/>
dem Grade geistig gestört ist, daß seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen<lb/>
wäre, sie erklären ihn für zurechnungsfähig, es erfolgt seine Verurteilung und<lb/>
Bestrafung. Der Arzt und der Verteidiger werden sich in zweifelhaften Füllen<lb/>
eher für Geisteskrankheit aussprechen. Der Staatsanwalt und der Richter<lb/>
werden vielleicht geneigt sein, so oft als möglich Zurechnungsfähigkeit anzu¬<lb/>
nehmen. Solche verschiedne Beurteilung derselben Person führt natürlich zu<lb/>
vielen Unzutrüglichkeiten. Es werden verschiedne Gutachten eingeholt, die<lb/>
Gutachten widersprechen sich. Es werden verschiedne richterliche Instanzen in<lb/>
Bewegung gesetzt, die Instanzen urteilen verschieden. Auch unbefangne Männer<lb/>
des Volkes, deren Rechtsbewußtsein mit einem Richterspruch in Einklang stehen<lb/>
soll, sind verschiedner Meinung. Daher macht sich ein Gefühl der Rechtsun¬<lb/>
sicherheit im Staate geltend.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_503" next="#ID_504"> Es ist nicht der Zweck dieser Zeilen, die in das Grenzgebiet zwischen<lb/>
geistiger Gesundheit und psychischer Krankheit zu rechnenden Krankheitszustände<lb/>
aufzuzählen und zu beschreiben. Nur eine allgemeine Skizze mag hier ein¬<lb/>
geflochten werden. Die betreffenden Leute sind gemütlich reizbarer und erreg¬<lb/>
barer als andre, der Antrieb zum Schlechten ist bei ihnen oft überstark, alle<lb/>
Leidenschaften werden leichter entflammt, die Stimmung wechselt ohne Motiv.<lb/>
Derartige Menschen denken meist nur an sich und ihr Wohlbefinden, haben<lb/>
keinen Sinn für das Recht des Nächsten, kennen kein Pflichtbewußtsein, ent¬<lb/>
behren jedes sittlichen Halts. Sie fangen allerlei an, halten aber nirgends<lb/>
aus, ihrem Willen fehlt die gesunde Festigkeit. Bei aller intellektuellen Thätig¬<lb/>
keit tritt vorzeitige Ermüdung ein. Ihr Urteil ist unreif, ihr Erinnerungs¬<lb/>
vermögen oft nicht treu, die Phantasie umso lebhafter, die Veeinflußbarkeit<lb/>
überstark. Zwangsvorstellungen und Wahnideen sind zwar nicht ausgebildet,<lb/>
können aber leicht augedeutet sein. Alle derartigen psychischen Anomalien<lb/>
können angeboren oder erst erworben sein, können sich nur vorübergehend aber<lb/>
auch dauernd bemerkbar machen; sehr häufig verstärken sie sich nach unregel¬<lb/>
mäßigen Zwischenräumen, sind eine Zeit lang sehr augenfällig und treten dann<lb/>
wieder bis zum nächsten Anfall in den Hintergrund. Die krankhafte Beschaffen¬<lb/>
heit des Nervensystems giebt sich außer in solchen und andern psychischen<lb/>
Anomalien oft auch auf körperlich nervösem Gebiete in mancherlei Zeichen zu<lb/>
erkennen, z. B. in Krampfanfällen, in hysterischen Störungen der Sensibilität,<lb/>
der Reflexerregbarkeit und der Motilität und in neurasthenischen Beschwerden.<lb/>
Die Ursache der krankhaften Konstitution des Nervensystems kann sehr mannig¬<lb/>
faltig sein: Starke erbliche Belastung schafft am häufigsten die geschilderte<lb/>
Entartung. Allerlei Gifte, wie Morphium, Coeain, Alkohol, können das<lb/>
Nervensystem geschädigt haben.  Akute und chronische körperliche Krankheiten,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0197] Über verminderte Zurechnungsfähigkeit ignoriren, und manche von ihnen bescheinigen jedem Neurastheniker, daß er der freien Willensbestimmung beraubt gewesen sei. Im andern Fall legen die maßgebenden Beamten den Hauptwert darauf, daß der Angeklagte nicht in dem Grade geistig gestört ist, daß seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen wäre, sie erklären ihn für zurechnungsfähig, es erfolgt seine Verurteilung und Bestrafung. Der Arzt und der Verteidiger werden sich in zweifelhaften Füllen eher für Geisteskrankheit aussprechen. Der Staatsanwalt und der Richter werden vielleicht geneigt sein, so oft als möglich Zurechnungsfähigkeit anzu¬ nehmen. Solche verschiedne Beurteilung derselben Person führt natürlich zu vielen Unzutrüglichkeiten. Es werden verschiedne Gutachten eingeholt, die Gutachten widersprechen sich. Es werden verschiedne richterliche Instanzen in Bewegung gesetzt, die Instanzen urteilen verschieden. Auch unbefangne Männer des Volkes, deren Rechtsbewußtsein mit einem Richterspruch in Einklang stehen soll, sind verschiedner Meinung. Daher macht sich ein Gefühl der Rechtsun¬ sicherheit im Staate geltend. Es ist nicht der Zweck dieser Zeilen, die in das Grenzgebiet zwischen geistiger Gesundheit und psychischer Krankheit zu rechnenden Krankheitszustände aufzuzählen und zu beschreiben. Nur eine allgemeine Skizze mag hier ein¬ geflochten werden. Die betreffenden Leute sind gemütlich reizbarer und erreg¬ barer als andre, der Antrieb zum Schlechten ist bei ihnen oft überstark, alle Leidenschaften werden leichter entflammt, die Stimmung wechselt ohne Motiv. Derartige Menschen denken meist nur an sich und ihr Wohlbefinden, haben keinen Sinn für das Recht des Nächsten, kennen kein Pflichtbewußtsein, ent¬ behren jedes sittlichen Halts. Sie fangen allerlei an, halten aber nirgends aus, ihrem Willen fehlt die gesunde Festigkeit. Bei aller intellektuellen Thätig¬ keit tritt vorzeitige Ermüdung ein. Ihr Urteil ist unreif, ihr Erinnerungs¬ vermögen oft nicht treu, die Phantasie umso lebhafter, die Veeinflußbarkeit überstark. Zwangsvorstellungen und Wahnideen sind zwar nicht ausgebildet, können aber leicht augedeutet sein. Alle derartigen psychischen Anomalien können angeboren oder erst erworben sein, können sich nur vorübergehend aber auch dauernd bemerkbar machen; sehr häufig verstärken sie sich nach unregel¬ mäßigen Zwischenräumen, sind eine Zeit lang sehr augenfällig und treten dann wieder bis zum nächsten Anfall in den Hintergrund. Die krankhafte Beschaffen¬ heit des Nervensystems giebt sich außer in solchen und andern psychischen Anomalien oft auch auf körperlich nervösem Gebiete in mancherlei Zeichen zu erkennen, z. B. in Krampfanfällen, in hysterischen Störungen der Sensibilität, der Reflexerregbarkeit und der Motilität und in neurasthenischen Beschwerden. Die Ursache der krankhaften Konstitution des Nervensystems kann sehr mannig¬ faltig sein: Starke erbliche Belastung schafft am häufigsten die geschilderte Entartung. Allerlei Gifte, wie Morphium, Coeain, Alkohol, können das Nervensystem geschädigt haben. Akute und chronische körperliche Krankheiten,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/197
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/197>, abgerufen am 12.12.2024.