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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Die strategische Bedeutung der schweizerischen Festungsmerke

1896 nicht viel Schlimmeres mehr gehört hat, wenn vielleicht auch alle An¬
strengungen gemacht worden sind, die Übelstände zu heben, wird dies von
dauerndem Nutzen und Erfolg sein? Abermals nein!

Es ist immer noch ein gewaltiger Unterschied, im sichern Frieden eine
kurze, wenn auch noch so anstrengende Übung zu leisten, und dagegen im
Kriege, im Bereiche feindlichen Feuers, vielleicht monatelang eingeschlossen
mit Entbehrungen aller Art, volle Schlagfertigkeit zu bewahren. Der Krieg¬
führung im Gebirge steheu natürliche Hindernisse entgegen. Man kann die
Alpen wohl überschreiten. Hannibal, die Führer in der Völkerwanderung, die
deutschen Imperatoren, Suwarow, Napoleon und viele andre haben das kühne
Wagnis unternommen und dabei heiß und blutig gestritten. Aber eine Be-
lagerung 2500 Meter über dem Meeresspiegel ist eine andre Sache. Eine
Besatzungstruppe, vom Feinde an regelmäßigen und raschen Ablösungen ge¬
hindert, wird bald der Bevölkerung eines Lazaretts gleichen, dem sichern
Untergange geweiht sein und eine anmarschirende feindliche Armee nur noch
um Befreiung und Erlösung bitten. Alle die gewaltigen Werke mit ihren
Vorrichtungen bis hinunter zu dem feinen Trie, der selbst vor den Be¬
dienungsmannschaften der Geschütze die Distanzen geheimhält, werden sich als
wirkungslos erweisen. Damit soll von rein technischem Standpunkte aus den
zum Teil genial angelegten Werken und dem ganzen Festungssystem die An¬
erkennung keineswegs versagt werden. Man hat dabei nur die rein mensch¬
liche Seite gänzlich außer acht gelassen.

Günstiger liegen die klimatischen und Höhenverhältnisse auf der Luziensteig,
deren Paßhöhe nur 714 Meter, den dritten Teil der Gotthardpaßhöhe, beträgt.
Hier sind wir auf einem Boden, der schon in frühern Jahrhunderten wilde
Kämpfe gesehen hat; jeder Fleck Erde ist hier gleichsam mit Blut getränkt.
Schon 1499 im Schwabenkriege wurde hier gekämpft, und in der Folge ist
noch viel Blut geflossen. Dreihundert Jahre später focht hier Massen" gegen
die Österreicher mit wechselndem Glück und gewaltigen Verlusten an Menschen.
Die zur Zeit bestehenden Festungsanlagen entsprechen kaum den modernen An¬
forderungen, obwohl die einzelnen Anlagen in baulich gutem Staude sind. Die
Werke bestehen aus einer bastionirten Front, einer gedeckten Batterie, krenelirten
Mauern, für Jnfanterieverteidigung eingerichteten Türmen, verschiednen Block¬
häusern und Erdredouten. Sollen diese Werke jedoch irgend welche Wider¬
standskraft bieten, so ist ihre vollständige Umwandlung nach neusten, System
ein bedingungsloses Erfordernis, dem Wohl in Kürze entsprochen werden wird.
Hier wollen wir auch ein Ereignis erwähnen, das heute noch manche Gemüter
in dieser Gegend aufregt. Als 1799 die Russen in Eilmärschen durchrückten,
kam die französische Vorhut der russischen Intendantur hart auf die Fersen,
diese rettete ihre gewaltige Summen bergende Kriegskasse, die sich im Volks¬
munde in das Fabelhafte steigerten, dadurch vor dem Feinde, daß sie sie in


Die strategische Bedeutung der schweizerischen Festungsmerke

1896 nicht viel Schlimmeres mehr gehört hat, wenn vielleicht auch alle An¬
strengungen gemacht worden sind, die Übelstände zu heben, wird dies von
dauerndem Nutzen und Erfolg sein? Abermals nein!

Es ist immer noch ein gewaltiger Unterschied, im sichern Frieden eine
kurze, wenn auch noch so anstrengende Übung zu leisten, und dagegen im
Kriege, im Bereiche feindlichen Feuers, vielleicht monatelang eingeschlossen
mit Entbehrungen aller Art, volle Schlagfertigkeit zu bewahren. Der Krieg¬
führung im Gebirge steheu natürliche Hindernisse entgegen. Man kann die
Alpen wohl überschreiten. Hannibal, die Führer in der Völkerwanderung, die
deutschen Imperatoren, Suwarow, Napoleon und viele andre haben das kühne
Wagnis unternommen und dabei heiß und blutig gestritten. Aber eine Be-
lagerung 2500 Meter über dem Meeresspiegel ist eine andre Sache. Eine
Besatzungstruppe, vom Feinde an regelmäßigen und raschen Ablösungen ge¬
hindert, wird bald der Bevölkerung eines Lazaretts gleichen, dem sichern
Untergange geweiht sein und eine anmarschirende feindliche Armee nur noch
um Befreiung und Erlösung bitten. Alle die gewaltigen Werke mit ihren
Vorrichtungen bis hinunter zu dem feinen Trie, der selbst vor den Be¬
dienungsmannschaften der Geschütze die Distanzen geheimhält, werden sich als
wirkungslos erweisen. Damit soll von rein technischem Standpunkte aus den
zum Teil genial angelegten Werken und dem ganzen Festungssystem die An¬
erkennung keineswegs versagt werden. Man hat dabei nur die rein mensch¬
liche Seite gänzlich außer acht gelassen.

Günstiger liegen die klimatischen und Höhenverhältnisse auf der Luziensteig,
deren Paßhöhe nur 714 Meter, den dritten Teil der Gotthardpaßhöhe, beträgt.
Hier sind wir auf einem Boden, der schon in frühern Jahrhunderten wilde
Kämpfe gesehen hat; jeder Fleck Erde ist hier gleichsam mit Blut getränkt.
Schon 1499 im Schwabenkriege wurde hier gekämpft, und in der Folge ist
noch viel Blut geflossen. Dreihundert Jahre später focht hier Massen« gegen
die Österreicher mit wechselndem Glück und gewaltigen Verlusten an Menschen.
Die zur Zeit bestehenden Festungsanlagen entsprechen kaum den modernen An¬
forderungen, obwohl die einzelnen Anlagen in baulich gutem Staude sind. Die
Werke bestehen aus einer bastionirten Front, einer gedeckten Batterie, krenelirten
Mauern, für Jnfanterieverteidigung eingerichteten Türmen, verschiednen Block¬
häusern und Erdredouten. Sollen diese Werke jedoch irgend welche Wider¬
standskraft bieten, so ist ihre vollständige Umwandlung nach neusten, System
ein bedingungsloses Erfordernis, dem Wohl in Kürze entsprochen werden wird.
Hier wollen wir auch ein Ereignis erwähnen, das heute noch manche Gemüter
in dieser Gegend aufregt. Als 1799 die Russen in Eilmärschen durchrückten,
kam die französische Vorhut der russischen Intendantur hart auf die Fersen,
diese rettete ihre gewaltige Summen bergende Kriegskasse, die sich im Volks¬
munde in das Fabelhafte steigerten, dadurch vor dem Feinde, daß sie sie in


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[0192] Die strategische Bedeutung der schweizerischen Festungsmerke 1896 nicht viel Schlimmeres mehr gehört hat, wenn vielleicht auch alle An¬ strengungen gemacht worden sind, die Übelstände zu heben, wird dies von dauerndem Nutzen und Erfolg sein? Abermals nein! Es ist immer noch ein gewaltiger Unterschied, im sichern Frieden eine kurze, wenn auch noch so anstrengende Übung zu leisten, und dagegen im Kriege, im Bereiche feindlichen Feuers, vielleicht monatelang eingeschlossen mit Entbehrungen aller Art, volle Schlagfertigkeit zu bewahren. Der Krieg¬ führung im Gebirge steheu natürliche Hindernisse entgegen. Man kann die Alpen wohl überschreiten. Hannibal, die Führer in der Völkerwanderung, die deutschen Imperatoren, Suwarow, Napoleon und viele andre haben das kühne Wagnis unternommen und dabei heiß und blutig gestritten. Aber eine Be- lagerung 2500 Meter über dem Meeresspiegel ist eine andre Sache. Eine Besatzungstruppe, vom Feinde an regelmäßigen und raschen Ablösungen ge¬ hindert, wird bald der Bevölkerung eines Lazaretts gleichen, dem sichern Untergange geweiht sein und eine anmarschirende feindliche Armee nur noch um Befreiung und Erlösung bitten. Alle die gewaltigen Werke mit ihren Vorrichtungen bis hinunter zu dem feinen Trie, der selbst vor den Be¬ dienungsmannschaften der Geschütze die Distanzen geheimhält, werden sich als wirkungslos erweisen. Damit soll von rein technischem Standpunkte aus den zum Teil genial angelegten Werken und dem ganzen Festungssystem die An¬ erkennung keineswegs versagt werden. Man hat dabei nur die rein mensch¬ liche Seite gänzlich außer acht gelassen. Günstiger liegen die klimatischen und Höhenverhältnisse auf der Luziensteig, deren Paßhöhe nur 714 Meter, den dritten Teil der Gotthardpaßhöhe, beträgt. Hier sind wir auf einem Boden, der schon in frühern Jahrhunderten wilde Kämpfe gesehen hat; jeder Fleck Erde ist hier gleichsam mit Blut getränkt. Schon 1499 im Schwabenkriege wurde hier gekämpft, und in der Folge ist noch viel Blut geflossen. Dreihundert Jahre später focht hier Massen« gegen die Österreicher mit wechselndem Glück und gewaltigen Verlusten an Menschen. Die zur Zeit bestehenden Festungsanlagen entsprechen kaum den modernen An¬ forderungen, obwohl die einzelnen Anlagen in baulich gutem Staude sind. Die Werke bestehen aus einer bastionirten Front, einer gedeckten Batterie, krenelirten Mauern, für Jnfanterieverteidigung eingerichteten Türmen, verschiednen Block¬ häusern und Erdredouten. Sollen diese Werke jedoch irgend welche Wider¬ standskraft bieten, so ist ihre vollständige Umwandlung nach neusten, System ein bedingungsloses Erfordernis, dem Wohl in Kürze entsprochen werden wird. Hier wollen wir auch ein Ereignis erwähnen, das heute noch manche Gemüter in dieser Gegend aufregt. Als 1799 die Russen in Eilmärschen durchrückten, kam die französische Vorhut der russischen Intendantur hart auf die Fersen, diese rettete ihre gewaltige Summen bergende Kriegskasse, die sich im Volks¬ munde in das Fabelhafte steigerten, dadurch vor dem Feinde, daß sie sie in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/192>, abgerufen am 12.12.2024.