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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Die strategische Bedeutung der schweizerischen Festungswerke

geringe Zuverlässigkeit boten, teilweise nur während der Fremdensaison betrieben
werden konnten und sogar wegen der Lawinengefahr abgebrochen werden mußten.
Die wichtigsten Linien sind Gletsch-Andermatt und Dissentis-Andermatt; sie
sichern die telegraphische Verbindung der Kantone Wallis und Graubünden
mit dem Innern der Schweiz. Dieselbe Bedeutung hat die Leitung über die
Grimsel. Alle diese Linien sind von großer Wichtigkeit für Truppen, die im
Oberwallis und im büudnischen Oberlande operiren; sie sind nicht, wie die
schon vorher vorhandnen. einer Unterbrechung durch feindliche Einwirkung von
Martigny, Chur oder Sargans ausgesetzt und so hergestellt, daß sie bei jeder
Jahreszeit brauchbar sind, denn in jenen Vergeshöhen haust der Winter etwas
weniger milde, als in den Thälern und in den meisten Gegenden Europas.
Die Hauptaufgabe dieser Linien ist, die Thalwehren, die, wie wir schon gehört
haben, solange zusammentreten, bis die Festungsbesatzungen mobilisirt und
schlagfertig sind, schnell herbeizurufen. Die Festungswerke selbst sind dnrch
Erdarbeiten und durch ihre ganze Anlage vor feindlichem Einblicke geschützt;
sie zu beschießen würde dem Angreifer große Schwierigkeiten bereiten.

Das Festungsviereck auf dem und um den Se. Gotthard hat also den Zweck,
die Hauptdurchgangslinie durch die Schweiz, die Hauptverbindungsliuien zwischen
dem nördlichen und südlichen Mitteleuropa zu unterbrechen; strategisch gesprochen
ist es gegen Italien und Deutschland gerichtet, während die beiden andern Be¬
festigungen, die wir uoch kurz skizziren werden, die von Se. Maurice im Wallis
einer französischen und die auf Luziensteig bei Chur und Sargans einer öster¬
reichischen Invasion ein Ziel zu setzen bestimmt sein dürften. Werden diese
mit so gewaltigen Opfern hergestellten Befestigungen ihren Zweck erfüllen?
Nein! Schon im Jahre 1895, also nicht lange nach der Vollendung der
ersten Bauten mußte es auffallen, daß im Standerate ein Antrag gestellt
wurde, die Militärverwaltung wolle für bessere Unterkuuftsräume auf dem
Se. Gotthard Sorge tragen. Es war zwar schon vorher manches befremdende
Wort gefallen, und klar denkende Leute haben oft dazu den Kopf geschüttelt.
Hier wurde aber zum erstenmale an offiziöser Stelle von ungenügenden Unter-
kunstsräumeu gesprochen. Ungezählte Millionen hatten diese Werke verschlungen,
und jetzt waren solche Maßnahmen erforderlich! Im Spätsommer 1896 mußten
die Truppen sogar ihre Übungen einstellen und sich schon in dieser günstigen
Jahreszeit aus den unwirtlichen Bergeshöhen zurückziehen. Alle militärische
Übung von früher Jugend auf, alles Bergsteigen und Zurücklegen von staunens¬
werten Märschen in ungebahnten Gegenden, alle Kühnheit in hochgelegnem
Gelände hat keine Früchte getragen. Die Witterungsverhültnisse begannen zu
nagen und zu zehren, die urkräftiger Mannschaften erkrankten, an Übungen
war nicht mehr zu denken, und um Schlimmeres zu verhüten, kehrten die
Truppen unverrichteter Dinge nach Hause zurück. In diesen wenigen That¬
sachen liegt der Beweis sür unser entschiednes "Nein"! Und wenn man seit


Die strategische Bedeutung der schweizerischen Festungswerke

geringe Zuverlässigkeit boten, teilweise nur während der Fremdensaison betrieben
werden konnten und sogar wegen der Lawinengefahr abgebrochen werden mußten.
Die wichtigsten Linien sind Gletsch-Andermatt und Dissentis-Andermatt; sie
sichern die telegraphische Verbindung der Kantone Wallis und Graubünden
mit dem Innern der Schweiz. Dieselbe Bedeutung hat die Leitung über die
Grimsel. Alle diese Linien sind von großer Wichtigkeit für Truppen, die im
Oberwallis und im büudnischen Oberlande operiren; sie sind nicht, wie die
schon vorher vorhandnen. einer Unterbrechung durch feindliche Einwirkung von
Martigny, Chur oder Sargans ausgesetzt und so hergestellt, daß sie bei jeder
Jahreszeit brauchbar sind, denn in jenen Vergeshöhen haust der Winter etwas
weniger milde, als in den Thälern und in den meisten Gegenden Europas.
Die Hauptaufgabe dieser Linien ist, die Thalwehren, die, wie wir schon gehört
haben, solange zusammentreten, bis die Festungsbesatzungen mobilisirt und
schlagfertig sind, schnell herbeizurufen. Die Festungswerke selbst sind dnrch
Erdarbeiten und durch ihre ganze Anlage vor feindlichem Einblicke geschützt;
sie zu beschießen würde dem Angreifer große Schwierigkeiten bereiten.

Das Festungsviereck auf dem und um den Se. Gotthard hat also den Zweck,
die Hauptdurchgangslinie durch die Schweiz, die Hauptverbindungsliuien zwischen
dem nördlichen und südlichen Mitteleuropa zu unterbrechen; strategisch gesprochen
ist es gegen Italien und Deutschland gerichtet, während die beiden andern Be¬
festigungen, die wir uoch kurz skizziren werden, die von Se. Maurice im Wallis
einer französischen und die auf Luziensteig bei Chur und Sargans einer öster¬
reichischen Invasion ein Ziel zu setzen bestimmt sein dürften. Werden diese
mit so gewaltigen Opfern hergestellten Befestigungen ihren Zweck erfüllen?
Nein! Schon im Jahre 1895, also nicht lange nach der Vollendung der
ersten Bauten mußte es auffallen, daß im Standerate ein Antrag gestellt
wurde, die Militärverwaltung wolle für bessere Unterkuuftsräume auf dem
Se. Gotthard Sorge tragen. Es war zwar schon vorher manches befremdende
Wort gefallen, und klar denkende Leute haben oft dazu den Kopf geschüttelt.
Hier wurde aber zum erstenmale an offiziöser Stelle von ungenügenden Unter-
kunstsräumeu gesprochen. Ungezählte Millionen hatten diese Werke verschlungen,
und jetzt waren solche Maßnahmen erforderlich! Im Spätsommer 1896 mußten
die Truppen sogar ihre Übungen einstellen und sich schon in dieser günstigen
Jahreszeit aus den unwirtlichen Bergeshöhen zurückziehen. Alle militärische
Übung von früher Jugend auf, alles Bergsteigen und Zurücklegen von staunens¬
werten Märschen in ungebahnten Gegenden, alle Kühnheit in hochgelegnem
Gelände hat keine Früchte getragen. Die Witterungsverhültnisse begannen zu
nagen und zu zehren, die urkräftiger Mannschaften erkrankten, an Übungen
war nicht mehr zu denken, und um Schlimmeres zu verhüten, kehrten die
Truppen unverrichteter Dinge nach Hause zurück. In diesen wenigen That¬
sachen liegt der Beweis sür unser entschiednes „Nein"! Und wenn man seit


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[0191] Die strategische Bedeutung der schweizerischen Festungswerke geringe Zuverlässigkeit boten, teilweise nur während der Fremdensaison betrieben werden konnten und sogar wegen der Lawinengefahr abgebrochen werden mußten. Die wichtigsten Linien sind Gletsch-Andermatt und Dissentis-Andermatt; sie sichern die telegraphische Verbindung der Kantone Wallis und Graubünden mit dem Innern der Schweiz. Dieselbe Bedeutung hat die Leitung über die Grimsel. Alle diese Linien sind von großer Wichtigkeit für Truppen, die im Oberwallis und im büudnischen Oberlande operiren; sie sind nicht, wie die schon vorher vorhandnen. einer Unterbrechung durch feindliche Einwirkung von Martigny, Chur oder Sargans ausgesetzt und so hergestellt, daß sie bei jeder Jahreszeit brauchbar sind, denn in jenen Vergeshöhen haust der Winter etwas weniger milde, als in den Thälern und in den meisten Gegenden Europas. Die Hauptaufgabe dieser Linien ist, die Thalwehren, die, wie wir schon gehört haben, solange zusammentreten, bis die Festungsbesatzungen mobilisirt und schlagfertig sind, schnell herbeizurufen. Die Festungswerke selbst sind dnrch Erdarbeiten und durch ihre ganze Anlage vor feindlichem Einblicke geschützt; sie zu beschießen würde dem Angreifer große Schwierigkeiten bereiten. Das Festungsviereck auf dem und um den Se. Gotthard hat also den Zweck, die Hauptdurchgangslinie durch die Schweiz, die Hauptverbindungsliuien zwischen dem nördlichen und südlichen Mitteleuropa zu unterbrechen; strategisch gesprochen ist es gegen Italien und Deutschland gerichtet, während die beiden andern Be¬ festigungen, die wir uoch kurz skizziren werden, die von Se. Maurice im Wallis einer französischen und die auf Luziensteig bei Chur und Sargans einer öster¬ reichischen Invasion ein Ziel zu setzen bestimmt sein dürften. Werden diese mit so gewaltigen Opfern hergestellten Befestigungen ihren Zweck erfüllen? Nein! Schon im Jahre 1895, also nicht lange nach der Vollendung der ersten Bauten mußte es auffallen, daß im Standerate ein Antrag gestellt wurde, die Militärverwaltung wolle für bessere Unterkuuftsräume auf dem Se. Gotthard Sorge tragen. Es war zwar schon vorher manches befremdende Wort gefallen, und klar denkende Leute haben oft dazu den Kopf geschüttelt. Hier wurde aber zum erstenmale an offiziöser Stelle von ungenügenden Unter- kunstsräumeu gesprochen. Ungezählte Millionen hatten diese Werke verschlungen, und jetzt waren solche Maßnahmen erforderlich! Im Spätsommer 1896 mußten die Truppen sogar ihre Übungen einstellen und sich schon in dieser günstigen Jahreszeit aus den unwirtlichen Bergeshöhen zurückziehen. Alle militärische Übung von früher Jugend auf, alles Bergsteigen und Zurücklegen von staunens¬ werten Märschen in ungebahnten Gegenden, alle Kühnheit in hochgelegnem Gelände hat keine Früchte getragen. Die Witterungsverhültnisse begannen zu nagen und zu zehren, die urkräftiger Mannschaften erkrankten, an Übungen war nicht mehr zu denken, und um Schlimmeres zu verhüten, kehrten die Truppen unverrichteter Dinge nach Hause zurück. In diesen wenigen That¬ sachen liegt der Beweis sür unser entschiednes „Nein"! Und wenn man seit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/191>, abgerufen am 24.07.2024.