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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Gedanken eines Franzosen über Goethe

eher dem Hofton angepaßt und der Zeit folgend dem französischen Geschmack
gefrönt hätten. Aber das hätte ja Goethes Charakterisirung als xosts 6s
lÄ oour (in welchem Sinne dies gemeint ist, braucht wohl nicht gesagt zu
werden) beeinträchtigt, und Milderungsgründe waren ausgeschlossen; der Jude
sollte ja verbrannt werden.

Natürlich ist Not geneigt, sich auf die Seite derer zu stellen, die über
Charlotte von Steins Tugend den Stab brechen, aber er entscheidet die Frage
nicht; vielmehr läßt er offen, ob Goethe nicht vielleicht auch die raffinirten
Wonnen der platonischen Liebe habe kosten wollen (1ö8 üvliess raMuss ein
xlcckonisius)! Über Goethes amtliche Thätigkeit, "die ein Kommis ebenso gut
hätte besorgen können," werden einige hämische Bemerkungen gemacht. Die
italienische Reise übergeht Not, weil sie zu weit führen würde; er sagt nur,
daß Goethe, der "schon" als Atheist nach Italien gegangen, als Heide und
sinnlicher Freier zurückgekehrt sei (man beachte den feinen Unterschied zwischen
Atheist und Heide); hieraus ist die Abkehrung von Frau von Stein zu er¬
klären, da Goethe am Platonismus kein Vergnügen mehr sand. Nun also
wird die Reinheit Charlottens, da es so besser paßt, als erwiesen angenommen.
Dieser Passus sührt natürlich zu Goethes Verhältnis zu Christiane hinüber.
Sympathisch berührt Roth Ehrenrettung der "kleinen Freundin," deren Bild
überhaupt in letzter Zeit immer mehr des häßlichen Schleiers entkleidet wird,
mit dem Mißgunst und Klatsch es einst umgeben haben. Die Briefe der Frau
Rat und Christianens Briefe an Nikolaus Meyer werden geschickt in diesem
Sinne verwandt. Aber die liebevolle Zeichnung der Vnlpius hat einen guten
Grund: Goethe wird dadurch herabgesetzt -- Rod arbeitet am "Hauptgeschäft."
Um das Sinnliche in Goethes Verhältnis zu Christiane zu markiren, wird wieder
zu einer scheinbar unbedeutenden, in Wirklichkeit aber schwerwiegenden Un¬
richtigkeit gegriffen: nach Rod sind die "Römischen Elegien" nicht in Rom
entstanden, sondern 1789/90 zu Ehren des "Erotikons" gedichtet worden;
während sie thatsächlich 1789 nur "redigirt" und Christianer gewidmet
wurden. Auch hier merkt man die Absicht, und man wird verstimmt. Auf
Roth Beurteilung des Tasso einzugehen, würde uns zu weit führen. Er kommt
wieder nur, um anzuklagen, sieht eine "große Schmeichelei der fürstlichen Fa¬
milie" in dem Werke, läßt sich über den historischen Tasso des längern aus,
wobei die Hohenzollern gelegentlich einen Seitenhieb bekommen, bekämpft recht
unglücklich Kuno Fischers feine Würdigung des Dramas und gelangt zu dem
Schluß, daß der einfache Mensch eine stetig wachsende Mühe habe, dem Tasso,
worin Rod das unwahrste und am wenigsten menschliche Werk Goethes sieht,
"einigen Geschmack abzugewinnen."

Dem fünften Kapitel, das die "Wahlverwandtschaften" zum Mittelpunkt
hat, wird eine schwarze Schilderung der häuslichen Verhältnisse Goethes voran¬
geschickt, in der die Schiller-Körnerschen Briefe herhalten müssen und, wie wir


Gedanken eines Franzosen über Goethe

eher dem Hofton angepaßt und der Zeit folgend dem französischen Geschmack
gefrönt hätten. Aber das hätte ja Goethes Charakterisirung als xosts 6s
lÄ oour (in welchem Sinne dies gemeint ist, braucht wohl nicht gesagt zu
werden) beeinträchtigt, und Milderungsgründe waren ausgeschlossen; der Jude
sollte ja verbrannt werden.

Natürlich ist Not geneigt, sich auf die Seite derer zu stellen, die über
Charlotte von Steins Tugend den Stab brechen, aber er entscheidet die Frage
nicht; vielmehr läßt er offen, ob Goethe nicht vielleicht auch die raffinirten
Wonnen der platonischen Liebe habe kosten wollen (1ö8 üvliess raMuss ein
xlcckonisius)! Über Goethes amtliche Thätigkeit, „die ein Kommis ebenso gut
hätte besorgen können," werden einige hämische Bemerkungen gemacht. Die
italienische Reise übergeht Not, weil sie zu weit führen würde; er sagt nur,
daß Goethe, der „schon" als Atheist nach Italien gegangen, als Heide und
sinnlicher Freier zurückgekehrt sei (man beachte den feinen Unterschied zwischen
Atheist und Heide); hieraus ist die Abkehrung von Frau von Stein zu er¬
klären, da Goethe am Platonismus kein Vergnügen mehr sand. Nun also
wird die Reinheit Charlottens, da es so besser paßt, als erwiesen angenommen.
Dieser Passus sührt natürlich zu Goethes Verhältnis zu Christiane hinüber.
Sympathisch berührt Roth Ehrenrettung der „kleinen Freundin," deren Bild
überhaupt in letzter Zeit immer mehr des häßlichen Schleiers entkleidet wird,
mit dem Mißgunst und Klatsch es einst umgeben haben. Die Briefe der Frau
Rat und Christianens Briefe an Nikolaus Meyer werden geschickt in diesem
Sinne verwandt. Aber die liebevolle Zeichnung der Vnlpius hat einen guten
Grund: Goethe wird dadurch herabgesetzt — Rod arbeitet am „Hauptgeschäft."
Um das Sinnliche in Goethes Verhältnis zu Christiane zu markiren, wird wieder
zu einer scheinbar unbedeutenden, in Wirklichkeit aber schwerwiegenden Un¬
richtigkeit gegriffen: nach Rod sind die „Römischen Elegien" nicht in Rom
entstanden, sondern 1789/90 zu Ehren des „Erotikons" gedichtet worden;
während sie thatsächlich 1789 nur „redigirt" und Christianer gewidmet
wurden. Auch hier merkt man die Absicht, und man wird verstimmt. Auf
Roth Beurteilung des Tasso einzugehen, würde uns zu weit führen. Er kommt
wieder nur, um anzuklagen, sieht eine „große Schmeichelei der fürstlichen Fa¬
milie" in dem Werke, läßt sich über den historischen Tasso des längern aus,
wobei die Hohenzollern gelegentlich einen Seitenhieb bekommen, bekämpft recht
unglücklich Kuno Fischers feine Würdigung des Dramas und gelangt zu dem
Schluß, daß der einfache Mensch eine stetig wachsende Mühe habe, dem Tasso,
worin Rod das unwahrste und am wenigsten menschliche Werk Goethes sieht,
„einigen Geschmack abzugewinnen."

Dem fünften Kapitel, das die „Wahlverwandtschaften" zum Mittelpunkt
hat, wird eine schwarze Schilderung der häuslichen Verhältnisse Goethes voran¬
geschickt, in der die Schiller-Körnerschen Briefe herhalten müssen und, wie wir


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[0167] Gedanken eines Franzosen über Goethe eher dem Hofton angepaßt und der Zeit folgend dem französischen Geschmack gefrönt hätten. Aber das hätte ja Goethes Charakterisirung als xosts 6s lÄ oour (in welchem Sinne dies gemeint ist, braucht wohl nicht gesagt zu werden) beeinträchtigt, und Milderungsgründe waren ausgeschlossen; der Jude sollte ja verbrannt werden. Natürlich ist Not geneigt, sich auf die Seite derer zu stellen, die über Charlotte von Steins Tugend den Stab brechen, aber er entscheidet die Frage nicht; vielmehr läßt er offen, ob Goethe nicht vielleicht auch die raffinirten Wonnen der platonischen Liebe habe kosten wollen (1ö8 üvliess raMuss ein xlcckonisius)! Über Goethes amtliche Thätigkeit, „die ein Kommis ebenso gut hätte besorgen können," werden einige hämische Bemerkungen gemacht. Die italienische Reise übergeht Not, weil sie zu weit führen würde; er sagt nur, daß Goethe, der „schon" als Atheist nach Italien gegangen, als Heide und sinnlicher Freier zurückgekehrt sei (man beachte den feinen Unterschied zwischen Atheist und Heide); hieraus ist die Abkehrung von Frau von Stein zu er¬ klären, da Goethe am Platonismus kein Vergnügen mehr sand. Nun also wird die Reinheit Charlottens, da es so besser paßt, als erwiesen angenommen. Dieser Passus sührt natürlich zu Goethes Verhältnis zu Christiane hinüber. Sympathisch berührt Roth Ehrenrettung der „kleinen Freundin," deren Bild überhaupt in letzter Zeit immer mehr des häßlichen Schleiers entkleidet wird, mit dem Mißgunst und Klatsch es einst umgeben haben. Die Briefe der Frau Rat und Christianens Briefe an Nikolaus Meyer werden geschickt in diesem Sinne verwandt. Aber die liebevolle Zeichnung der Vnlpius hat einen guten Grund: Goethe wird dadurch herabgesetzt — Rod arbeitet am „Hauptgeschäft." Um das Sinnliche in Goethes Verhältnis zu Christiane zu markiren, wird wieder zu einer scheinbar unbedeutenden, in Wirklichkeit aber schwerwiegenden Un¬ richtigkeit gegriffen: nach Rod sind die „Römischen Elegien" nicht in Rom entstanden, sondern 1789/90 zu Ehren des „Erotikons" gedichtet worden; während sie thatsächlich 1789 nur „redigirt" und Christianer gewidmet wurden. Auch hier merkt man die Absicht, und man wird verstimmt. Auf Roth Beurteilung des Tasso einzugehen, würde uns zu weit führen. Er kommt wieder nur, um anzuklagen, sieht eine „große Schmeichelei der fürstlichen Fa¬ milie" in dem Werke, läßt sich über den historischen Tasso des längern aus, wobei die Hohenzollern gelegentlich einen Seitenhieb bekommen, bekämpft recht unglücklich Kuno Fischers feine Würdigung des Dramas und gelangt zu dem Schluß, daß der einfache Mensch eine stetig wachsende Mühe habe, dem Tasso, worin Rod das unwahrste und am wenigsten menschliche Werk Goethes sieht, „einigen Geschmack abzugewinnen." Dem fünften Kapitel, das die „Wahlverwandtschaften" zum Mittelpunkt hat, wird eine schwarze Schilderung der häuslichen Verhältnisse Goethes voran¬ geschickt, in der die Schiller-Körnerschen Briefe herhalten müssen und, wie wir

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/167>, abgerufen am 12.12.2024.