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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Gedanken eines Franzosen über Goethe

Wie bei Götz der große Friedrich, so werden beim Werther Lessing und
sein Freund Nicolai als Goethes Gegner herbeigezogen. Daß es zwei Be¬
arbeitungen des Werther giebt, weiß Rod anscheinend nicht, da er die Episode
des Bauernknechts in die ursprüngliche Bearbeitung verlegt; wir vermuten
aber, daß er nichts davon hat wissen wollen, er hätte sonst billig erwähnen
müssen, daß Kestners Bild später reiner gezeichnet wurde, und das hätte ja
zu Gunsten Goethes sprechen können. Rod kommt zu der Schlußfolgerung,
die er Herman Grimms Urteil entgegensetzt, daß Werther weder Bewunderung
noch Rührung hervorrufen könne, daß er nicht etwa eine "Generalbeichte,"
ein aus dem Herzen geschöpftes Werk, sondern ein gemachtes und gekünsteltes
sei. Doch halt -- wenn Werther auch nicht "wahr" ist, so war Goethe doch
ein leidlich guter Künstler, der es verstand, ihm wenigstens den Schein des
Wahren zu geben: Werther ist immerhin ein livr<z trof visu kalt, von einem
ziemlich geschickten (Wsn Imdilk) Schriftsteller verfaßt, der mMre Ä'instinot
as toutes S68 torosL und bis zu einem gewissen Grade Schöpfer seiner Sprache
ist. Hinter allen Büchern ähnlicher Art aber, sogar hinter Rene steht es weit
zurück. Rod zitirt einige Phrasen der Gefühlsüberschwenglichkeit; sie wie über¬
haupt den Werther auch aus der Zeit heraus zu begreifen, versucht er nicht
oder will er nicht versuchen. Er wollte ja Goethes Hauptwerke lesen, als
seien sie erst gestern geschrieben, und kommt dabei, was ja dann in gewisser
Beziehung zu verstehen ist, zu dem Schluß, daß Werther falsch, gemacht und
fade sei. Aber eben nur in gewisser Beziehung, denn auch uns Kindern der
Gegenwart greift die im Werther zum Ausdruck kommende Leidenschaft auch in
ihrem Übermaß immer noch gewaltig ans Herz. Wie Rod am Schlüsse sagt,
war sein Zweck, zu zeigen, daß, wenn der Werther auch eine gewisse Bedeutung
in der Litteraturgeschichte habe, er doch ein Durchschnittsbuch sei. Aber es
ist seltsam: wenn er hier an ihm wie am Götz kaum ein gutes Haar läßt,
nennt er sie später, als es sich darum handelt, beide in Gegensatz zu andern
Werken zu bringen, eine supsrvo "zoloÄon! Das ist bezeichnend für Roth
Kampfesweise!

Es ist natürlich, daß Rod in seinem vierten Kapitel mit besonderm Be¬
hagen bei der Schilderung der magern zehn ersten Jahre in Weimar verweilt,
aber auch hier wird weidlich übertrieben oder entstellt. Wenn er beispielsweise
sagt, daß Goethe selbst Mühe gehabt habe, die angefangnen Manuskripte, die
er aus Frankfurt mitbrachte, ernst zu nehmen (man denke nur an "Faust"
und "Egmont"!), so hat man wirklich Mühe, Herrn Rod ernst zu nehmen.
Daß er die "Geschwister" zu Goethes traurigsten Machwerken rechnet, mag
er mit sich selbst verantworten; wir zählen sie, wenn auch nicht zu den be¬
deutendsten, so doch zu den liebenswürdigsten kleinern Schöpfungen des Meisters.
Unehrlich ist es dagegen wieder, wenn Rod vergißt, daß Goethe mit den "Ge¬
schwistern" den Hof in gut bürgerliche Sphären führte, während andre sich


Gedanken eines Franzosen über Goethe

Wie bei Götz der große Friedrich, so werden beim Werther Lessing und
sein Freund Nicolai als Goethes Gegner herbeigezogen. Daß es zwei Be¬
arbeitungen des Werther giebt, weiß Rod anscheinend nicht, da er die Episode
des Bauernknechts in die ursprüngliche Bearbeitung verlegt; wir vermuten
aber, daß er nichts davon hat wissen wollen, er hätte sonst billig erwähnen
müssen, daß Kestners Bild später reiner gezeichnet wurde, und das hätte ja
zu Gunsten Goethes sprechen können. Rod kommt zu der Schlußfolgerung,
die er Herman Grimms Urteil entgegensetzt, daß Werther weder Bewunderung
noch Rührung hervorrufen könne, daß er nicht etwa eine „Generalbeichte,"
ein aus dem Herzen geschöpftes Werk, sondern ein gemachtes und gekünsteltes
sei. Doch halt — wenn Werther auch nicht „wahr" ist, so war Goethe doch
ein leidlich guter Künstler, der es verstand, ihm wenigstens den Schein des
Wahren zu geben: Werther ist immerhin ein livr<z trof visu kalt, von einem
ziemlich geschickten (Wsn Imdilk) Schriftsteller verfaßt, der mMre Ä'instinot
as toutes S68 torosL und bis zu einem gewissen Grade Schöpfer seiner Sprache
ist. Hinter allen Büchern ähnlicher Art aber, sogar hinter Rene steht es weit
zurück. Rod zitirt einige Phrasen der Gefühlsüberschwenglichkeit; sie wie über¬
haupt den Werther auch aus der Zeit heraus zu begreifen, versucht er nicht
oder will er nicht versuchen. Er wollte ja Goethes Hauptwerke lesen, als
seien sie erst gestern geschrieben, und kommt dabei, was ja dann in gewisser
Beziehung zu verstehen ist, zu dem Schluß, daß Werther falsch, gemacht und
fade sei. Aber eben nur in gewisser Beziehung, denn auch uns Kindern der
Gegenwart greift die im Werther zum Ausdruck kommende Leidenschaft auch in
ihrem Übermaß immer noch gewaltig ans Herz. Wie Rod am Schlüsse sagt,
war sein Zweck, zu zeigen, daß, wenn der Werther auch eine gewisse Bedeutung
in der Litteraturgeschichte habe, er doch ein Durchschnittsbuch sei. Aber es
ist seltsam: wenn er hier an ihm wie am Götz kaum ein gutes Haar läßt,
nennt er sie später, als es sich darum handelt, beide in Gegensatz zu andern
Werken zu bringen, eine supsrvo «zoloÄon! Das ist bezeichnend für Roth
Kampfesweise!

Es ist natürlich, daß Rod in seinem vierten Kapitel mit besonderm Be¬
hagen bei der Schilderung der magern zehn ersten Jahre in Weimar verweilt,
aber auch hier wird weidlich übertrieben oder entstellt. Wenn er beispielsweise
sagt, daß Goethe selbst Mühe gehabt habe, die angefangnen Manuskripte, die
er aus Frankfurt mitbrachte, ernst zu nehmen (man denke nur an „Faust"
und „Egmont"!), so hat man wirklich Mühe, Herrn Rod ernst zu nehmen.
Daß er die „Geschwister" zu Goethes traurigsten Machwerken rechnet, mag
er mit sich selbst verantworten; wir zählen sie, wenn auch nicht zu den be¬
deutendsten, so doch zu den liebenswürdigsten kleinern Schöpfungen des Meisters.
Unehrlich ist es dagegen wieder, wenn Rod vergißt, daß Goethe mit den „Ge¬
schwistern" den Hof in gut bürgerliche Sphären führte, während andre sich


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[0166] Gedanken eines Franzosen über Goethe Wie bei Götz der große Friedrich, so werden beim Werther Lessing und sein Freund Nicolai als Goethes Gegner herbeigezogen. Daß es zwei Be¬ arbeitungen des Werther giebt, weiß Rod anscheinend nicht, da er die Episode des Bauernknechts in die ursprüngliche Bearbeitung verlegt; wir vermuten aber, daß er nichts davon hat wissen wollen, er hätte sonst billig erwähnen müssen, daß Kestners Bild später reiner gezeichnet wurde, und das hätte ja zu Gunsten Goethes sprechen können. Rod kommt zu der Schlußfolgerung, die er Herman Grimms Urteil entgegensetzt, daß Werther weder Bewunderung noch Rührung hervorrufen könne, daß er nicht etwa eine „Generalbeichte," ein aus dem Herzen geschöpftes Werk, sondern ein gemachtes und gekünsteltes sei. Doch halt — wenn Werther auch nicht „wahr" ist, so war Goethe doch ein leidlich guter Künstler, der es verstand, ihm wenigstens den Schein des Wahren zu geben: Werther ist immerhin ein livr<z trof visu kalt, von einem ziemlich geschickten (Wsn Imdilk) Schriftsteller verfaßt, der mMre Ä'instinot as toutes S68 torosL und bis zu einem gewissen Grade Schöpfer seiner Sprache ist. Hinter allen Büchern ähnlicher Art aber, sogar hinter Rene steht es weit zurück. Rod zitirt einige Phrasen der Gefühlsüberschwenglichkeit; sie wie über¬ haupt den Werther auch aus der Zeit heraus zu begreifen, versucht er nicht oder will er nicht versuchen. Er wollte ja Goethes Hauptwerke lesen, als seien sie erst gestern geschrieben, und kommt dabei, was ja dann in gewisser Beziehung zu verstehen ist, zu dem Schluß, daß Werther falsch, gemacht und fade sei. Aber eben nur in gewisser Beziehung, denn auch uns Kindern der Gegenwart greift die im Werther zum Ausdruck kommende Leidenschaft auch in ihrem Übermaß immer noch gewaltig ans Herz. Wie Rod am Schlüsse sagt, war sein Zweck, zu zeigen, daß, wenn der Werther auch eine gewisse Bedeutung in der Litteraturgeschichte habe, er doch ein Durchschnittsbuch sei. Aber es ist seltsam: wenn er hier an ihm wie am Götz kaum ein gutes Haar läßt, nennt er sie später, als es sich darum handelt, beide in Gegensatz zu andern Werken zu bringen, eine supsrvo «zoloÄon! Das ist bezeichnend für Roth Kampfesweise! Es ist natürlich, daß Rod in seinem vierten Kapitel mit besonderm Be¬ hagen bei der Schilderung der magern zehn ersten Jahre in Weimar verweilt, aber auch hier wird weidlich übertrieben oder entstellt. Wenn er beispielsweise sagt, daß Goethe selbst Mühe gehabt habe, die angefangnen Manuskripte, die er aus Frankfurt mitbrachte, ernst zu nehmen (man denke nur an „Faust" und „Egmont"!), so hat man wirklich Mühe, Herrn Rod ernst zu nehmen. Daß er die „Geschwister" zu Goethes traurigsten Machwerken rechnet, mag er mit sich selbst verantworten; wir zählen sie, wenn auch nicht zu den be¬ deutendsten, so doch zu den liebenswürdigsten kleinern Schöpfungen des Meisters. Unehrlich ist es dagegen wieder, wenn Rod vergißt, daß Goethe mit den „Ge¬ schwistern" den Hof in gut bürgerliche Sphären führte, während andre sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/166>, abgerufen am 30.06.2024.