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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Gedanken eines Franzosen über Goethe

Roth Absicht ist (S. 6), die hauptsächlichsten Werke Goethes "mit
kritischem Sinne" aufs neue zu lesen und sie zu beurteilen, als seien sie erst
gestern geschrieben, und "eine Revision des Prozesses Goethe vorzunehmen."
Nun entsteht zunächst, ganz abgesehen davon, daß es ein Unding ist, Goethes
Schöpfungen ganzlich aus dem Zusammenhange mit der Zeit, in der sie ent¬
standen sind, herauszureißen, die Frage: Was versteht Not unter den haupt¬
sächlichsten Werken? Sollte man es da für möglich halten, daß von Wilhelm
Meister, von der Iphigenie, von Hermann und Dorothea und den sämtlichen
Gedichten überhaupt nicht die Rede ist? Wenn man aber die Bedeutung
eines Goethe "richtigstellen" und den allgemein giltigen Lewesschen Satz:
"Ein wahrer Mensch zu sein, das war seine Größe" umstoßen will, so ver¬
steht es sich wohl eigentlich von selbst, daß man dies nicht an einzelnen
Werken, selbst nicht unter dem Vorwande, daß sie in besondrer Beziehung zu
des Dichters Leben stünden, sondern nur an den gesamten Schöpfungen thun
muß, die nach Goethes eignem Wort alle "Bruchstücke einer großen Konfession"
sind. Rod greift einzelne Werke, die ihm vielleicht die besten Angriffspunkte
darboten, heraus; das ist, als wollte man eine kunstvolle Maschine nur aus
bestimmten Teilen zusammensetzen.

Wie die Ausdrücke Heimweh und Gemütlichkeit so fehlt auch das Wort
Gründlichkeit im französischen Sprachschatz. Aber Rod hat diese Gründlichkeit
anscheinend; wenigstens beweisen einige kleine Irrtümer, wie die falsche sinn¬
entstellende Übersetzung einer Stelle aus dem Götz (S. 95), die Bezeichnung
Nicolais als "Professor," die Verlegung der ersten Faustaufführung in das
Jahr 1820 statt 1819 und der Konzeption des Egmont nach Weimar noch
nicht das Gegenteil. Er sagt, daß er sich der Goethelitteratur hie und da
bedienen werde, zitirt in der That oft und bekämpft andrer Ansichten, aber
dem Kenner wird es bald klar, daß er zumeist nicht aus den Quellen, sondern
ans Biographien u. a. geschöpft hat, wodurch er natürlich einseitig wird. Aber
das will Not auch sein; er behauptet zwar, sens xarti xris zu urteilen, in
Wirklichkeit aber ist die geflissentliche Herabsetzung Goethes das Ziel seiner
Herostratischen Bemühungen. Diesem Zwecke dient die Benutzung der Litteratur,
die fast ausschließlich herangezogen wird, um gegen Goethe zu sprechen; dabei
wird ?. Baumgartner natürlich öfters liebevoll erwähnt. Aber anch vor
Verdrehungen und absichtlichen Irrtümern, die nicht unter die Kategorie der
oben angeführten fallen, schreckt Rod nicht zurück. Wir werden im Laufe
unsrer Ausführungen den Beweis dafür erbringen.

Es ist, wie Johannes von Müller sagt, ein Lob für einen Mann, wenn
man seine Fehler nennen darf, ohne daß er groß zu sein aufhört, und wir
begreifen auch wohl, daß man Goethe von manchem Standpunkte aus angreifen
kann. Man wird dann aber billig erwarten können, daß sich die Angriffe auf
eine feste Überzeugung gründen. Roth Buch aber ist -- wir scheuen uns
nicht, das auszusprechen -- ein unehrliches Buch.


Gedanken eines Franzosen über Goethe

Roth Absicht ist (S. 6), die hauptsächlichsten Werke Goethes „mit
kritischem Sinne" aufs neue zu lesen und sie zu beurteilen, als seien sie erst
gestern geschrieben, und „eine Revision des Prozesses Goethe vorzunehmen."
Nun entsteht zunächst, ganz abgesehen davon, daß es ein Unding ist, Goethes
Schöpfungen ganzlich aus dem Zusammenhange mit der Zeit, in der sie ent¬
standen sind, herauszureißen, die Frage: Was versteht Not unter den haupt¬
sächlichsten Werken? Sollte man es da für möglich halten, daß von Wilhelm
Meister, von der Iphigenie, von Hermann und Dorothea und den sämtlichen
Gedichten überhaupt nicht die Rede ist? Wenn man aber die Bedeutung
eines Goethe „richtigstellen" und den allgemein giltigen Lewesschen Satz:
„Ein wahrer Mensch zu sein, das war seine Größe" umstoßen will, so ver¬
steht es sich wohl eigentlich von selbst, daß man dies nicht an einzelnen
Werken, selbst nicht unter dem Vorwande, daß sie in besondrer Beziehung zu
des Dichters Leben stünden, sondern nur an den gesamten Schöpfungen thun
muß, die nach Goethes eignem Wort alle „Bruchstücke einer großen Konfession"
sind. Rod greift einzelne Werke, die ihm vielleicht die besten Angriffspunkte
darboten, heraus; das ist, als wollte man eine kunstvolle Maschine nur aus
bestimmten Teilen zusammensetzen.

Wie die Ausdrücke Heimweh und Gemütlichkeit so fehlt auch das Wort
Gründlichkeit im französischen Sprachschatz. Aber Rod hat diese Gründlichkeit
anscheinend; wenigstens beweisen einige kleine Irrtümer, wie die falsche sinn¬
entstellende Übersetzung einer Stelle aus dem Götz (S. 95), die Bezeichnung
Nicolais als „Professor," die Verlegung der ersten Faustaufführung in das
Jahr 1820 statt 1819 und der Konzeption des Egmont nach Weimar noch
nicht das Gegenteil. Er sagt, daß er sich der Goethelitteratur hie und da
bedienen werde, zitirt in der That oft und bekämpft andrer Ansichten, aber
dem Kenner wird es bald klar, daß er zumeist nicht aus den Quellen, sondern
ans Biographien u. a. geschöpft hat, wodurch er natürlich einseitig wird. Aber
das will Not auch sein; er behauptet zwar, sens xarti xris zu urteilen, in
Wirklichkeit aber ist die geflissentliche Herabsetzung Goethes das Ziel seiner
Herostratischen Bemühungen. Diesem Zwecke dient die Benutzung der Litteratur,
die fast ausschließlich herangezogen wird, um gegen Goethe zu sprechen; dabei
wird ?. Baumgartner natürlich öfters liebevoll erwähnt. Aber anch vor
Verdrehungen und absichtlichen Irrtümern, die nicht unter die Kategorie der
oben angeführten fallen, schreckt Rod nicht zurück. Wir werden im Laufe
unsrer Ausführungen den Beweis dafür erbringen.

Es ist, wie Johannes von Müller sagt, ein Lob für einen Mann, wenn
man seine Fehler nennen darf, ohne daß er groß zu sein aufhört, und wir
begreifen auch wohl, daß man Goethe von manchem Standpunkte aus angreifen
kann. Man wird dann aber billig erwarten können, daß sich die Angriffe auf
eine feste Überzeugung gründen. Roth Buch aber ist — wir scheuen uns
nicht, das auszusprechen — ein unehrliches Buch.


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[0161] Gedanken eines Franzosen über Goethe Roth Absicht ist (S. 6), die hauptsächlichsten Werke Goethes „mit kritischem Sinne" aufs neue zu lesen und sie zu beurteilen, als seien sie erst gestern geschrieben, und „eine Revision des Prozesses Goethe vorzunehmen." Nun entsteht zunächst, ganz abgesehen davon, daß es ein Unding ist, Goethes Schöpfungen ganzlich aus dem Zusammenhange mit der Zeit, in der sie ent¬ standen sind, herauszureißen, die Frage: Was versteht Not unter den haupt¬ sächlichsten Werken? Sollte man es da für möglich halten, daß von Wilhelm Meister, von der Iphigenie, von Hermann und Dorothea und den sämtlichen Gedichten überhaupt nicht die Rede ist? Wenn man aber die Bedeutung eines Goethe „richtigstellen" und den allgemein giltigen Lewesschen Satz: „Ein wahrer Mensch zu sein, das war seine Größe" umstoßen will, so ver¬ steht es sich wohl eigentlich von selbst, daß man dies nicht an einzelnen Werken, selbst nicht unter dem Vorwande, daß sie in besondrer Beziehung zu des Dichters Leben stünden, sondern nur an den gesamten Schöpfungen thun muß, die nach Goethes eignem Wort alle „Bruchstücke einer großen Konfession" sind. Rod greift einzelne Werke, die ihm vielleicht die besten Angriffspunkte darboten, heraus; das ist, als wollte man eine kunstvolle Maschine nur aus bestimmten Teilen zusammensetzen. Wie die Ausdrücke Heimweh und Gemütlichkeit so fehlt auch das Wort Gründlichkeit im französischen Sprachschatz. Aber Rod hat diese Gründlichkeit anscheinend; wenigstens beweisen einige kleine Irrtümer, wie die falsche sinn¬ entstellende Übersetzung einer Stelle aus dem Götz (S. 95), die Bezeichnung Nicolais als „Professor," die Verlegung der ersten Faustaufführung in das Jahr 1820 statt 1819 und der Konzeption des Egmont nach Weimar noch nicht das Gegenteil. Er sagt, daß er sich der Goethelitteratur hie und da bedienen werde, zitirt in der That oft und bekämpft andrer Ansichten, aber dem Kenner wird es bald klar, daß er zumeist nicht aus den Quellen, sondern ans Biographien u. a. geschöpft hat, wodurch er natürlich einseitig wird. Aber das will Not auch sein; er behauptet zwar, sens xarti xris zu urteilen, in Wirklichkeit aber ist die geflissentliche Herabsetzung Goethes das Ziel seiner Herostratischen Bemühungen. Diesem Zwecke dient die Benutzung der Litteratur, die fast ausschließlich herangezogen wird, um gegen Goethe zu sprechen; dabei wird ?. Baumgartner natürlich öfters liebevoll erwähnt. Aber anch vor Verdrehungen und absichtlichen Irrtümern, die nicht unter die Kategorie der oben angeführten fallen, schreckt Rod nicht zurück. Wir werden im Laufe unsrer Ausführungen den Beweis dafür erbringen. Es ist, wie Johannes von Müller sagt, ein Lob für einen Mann, wenn man seine Fehler nennen darf, ohne daß er groß zu sein aufhört, und wir begreifen auch wohl, daß man Goethe von manchem Standpunkte aus angreifen kann. Man wird dann aber billig erwarten können, daß sich die Angriffe auf eine feste Überzeugung gründen. Roth Buch aber ist — wir scheuen uns nicht, das auszusprechen — ein unehrliches Buch.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/161>, abgerufen am 04.07.2024.