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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Gedanken eines Franzosen über Goethe

Not teilt seinen "Essai" ein in sechs Abschnitte: Aus meinem Leben,
die romantische Krise (Götz), die sentimentale Krise (Werther), der Hofdichter
(Tasso), der letzte Roman (Wahlverwandtschaften) und das große Werk (Faust).
Um diese besprochnen sechs Werke schlingen sich dann die Lebensumstünde,
unter denen sie entstanden sind, willkürlich und zusammenhanglos herum. Das
Bedenkliche einer solchen Einteilung liegt auf der Hand. Ein so vielgestaltiges
und weitnmfassendes Leben wie Goethes läßt sich nun einmal nicht in spanische
Stiefel schnüren, in scharf abgegrenzte Perioden zerlegen. Tausend Fäden
spinnen sich von einer zur andern hinüber; aber Rod giebt sich nicht die
Mühe, diese Fäden zu erkennen. So ist die Trennung der romantischen und
sentimentalen Krise als besonders verfehlt zu bezeichnen, da ja beide völlig in
einander übergehen.

Den ersten, "Aus meinem Leben" behandelnden Abschnitt eröffnet ein
Angriff auf die Goethephilologie, namentlich aber auf die pietätvolle Art, mit
der in Weimar Goethes Andenke" auch in Äußerlichkeiten lebendig erhalten
wird, z. B. in der Aufbewahrung seiner Sammlungen und der unscheinbarsten
Dinge. Man erfährt nicht, ob Rod selbst in Weimar gewesen ist -- anzu¬
nehmen ist es kaum; schwerlich hätte er sich sonst dem tiefen Eindruck entziehen
können, den dieses "Mekka," wie er es nennt, immer wieder auf seine Besucher
ausübt, dem Schauer, der auch den ergreift, der nicht Gvethianer sa-us resorvö
ist, wenn er das Heim des Genius betritt, das geweiht ist für alle Zeiten,
wenn er seinen Blick schweifen läßt über die Sammlungen, die dem Unermüd¬
lichen helfen sollten, die Rätsel unsers Seins zu lösen, die gefüllte Flasche,
deren Strahlenbrechungen er noch in seinen letzten Lebenstagen studirte, durch
Thätigkeit "des Todes Bitternisse vertreibend"; wenn er hineintritt in das in
seiner Schlichtheit ergreifende Sterbezimmer, wo der größte Dichter seines
Volkes lichtsehnend ins Dunkel sank. Wie hat Heyse den Gefühlen, die dort
auf uns einstürmen, in seinem "Goethehaus" so ergreifenden Ausdruck gegeben!
Wir können uns in dieser Beziehung mit dem Wort "Wenn ihrs nicht fühlt,
ihr werdets nicht erjagen" trösten; wenn aber Not sich darüber wundert, daß
sich der "sonst so prüde deutsche Sinn" an den am Frauenplatz befindlichen
Bildern derer, die Goethe geliebt hat, nicht stößt, und später diese Frauen
glatthin als Maitressen bezeichnet, so ist das eine Albernheit, der Rod eine
zweite hinzufügt, wenn er später behauptet, der Schöpfer des Gretchen,
Klärchen, der Iphigenie, Dorothea, Charlotte habe für das weibliche Geschlecht
zeitlebens eine gewisse Verachtung an den Tag gelegt; er, der sein gewaltigstes
Werk mit einer Verherrlichung des Ewig-Weiblichen abschloß!

Die Einleitung zum ersten Abschnitt, der die Zeit wiederspiegeln soll, wo
die Erinnerungen entstanden sind, hätte füglich nach den Wahlverwandtschaften
ihren Platz finden müssen. Daß in derselben Goethe Mangel an jeglicher
Vaterlandsliebe vorgeworfen wird, nimmt nicht Wunder. Das ist ein altes
beliebtes Thema, um das schon viel Tinte geflossen ist; wir möchten aber doch


Gedanken eines Franzosen über Goethe

Not teilt seinen „Essai" ein in sechs Abschnitte: Aus meinem Leben,
die romantische Krise (Götz), die sentimentale Krise (Werther), der Hofdichter
(Tasso), der letzte Roman (Wahlverwandtschaften) und das große Werk (Faust).
Um diese besprochnen sechs Werke schlingen sich dann die Lebensumstünde,
unter denen sie entstanden sind, willkürlich und zusammenhanglos herum. Das
Bedenkliche einer solchen Einteilung liegt auf der Hand. Ein so vielgestaltiges
und weitnmfassendes Leben wie Goethes läßt sich nun einmal nicht in spanische
Stiefel schnüren, in scharf abgegrenzte Perioden zerlegen. Tausend Fäden
spinnen sich von einer zur andern hinüber; aber Rod giebt sich nicht die
Mühe, diese Fäden zu erkennen. So ist die Trennung der romantischen und
sentimentalen Krise als besonders verfehlt zu bezeichnen, da ja beide völlig in
einander übergehen.

Den ersten, „Aus meinem Leben" behandelnden Abschnitt eröffnet ein
Angriff auf die Goethephilologie, namentlich aber auf die pietätvolle Art, mit
der in Weimar Goethes Andenke» auch in Äußerlichkeiten lebendig erhalten
wird, z. B. in der Aufbewahrung seiner Sammlungen und der unscheinbarsten
Dinge. Man erfährt nicht, ob Rod selbst in Weimar gewesen ist — anzu¬
nehmen ist es kaum; schwerlich hätte er sich sonst dem tiefen Eindruck entziehen
können, den dieses „Mekka," wie er es nennt, immer wieder auf seine Besucher
ausübt, dem Schauer, der auch den ergreift, der nicht Gvethianer sa-us resorvö
ist, wenn er das Heim des Genius betritt, das geweiht ist für alle Zeiten,
wenn er seinen Blick schweifen läßt über die Sammlungen, die dem Unermüd¬
lichen helfen sollten, die Rätsel unsers Seins zu lösen, die gefüllte Flasche,
deren Strahlenbrechungen er noch in seinen letzten Lebenstagen studirte, durch
Thätigkeit „des Todes Bitternisse vertreibend"; wenn er hineintritt in das in
seiner Schlichtheit ergreifende Sterbezimmer, wo der größte Dichter seines
Volkes lichtsehnend ins Dunkel sank. Wie hat Heyse den Gefühlen, die dort
auf uns einstürmen, in seinem „Goethehaus" so ergreifenden Ausdruck gegeben!
Wir können uns in dieser Beziehung mit dem Wort „Wenn ihrs nicht fühlt,
ihr werdets nicht erjagen" trösten; wenn aber Not sich darüber wundert, daß
sich der „sonst so prüde deutsche Sinn" an den am Frauenplatz befindlichen
Bildern derer, die Goethe geliebt hat, nicht stößt, und später diese Frauen
glatthin als Maitressen bezeichnet, so ist das eine Albernheit, der Rod eine
zweite hinzufügt, wenn er später behauptet, der Schöpfer des Gretchen,
Klärchen, der Iphigenie, Dorothea, Charlotte habe für das weibliche Geschlecht
zeitlebens eine gewisse Verachtung an den Tag gelegt; er, der sein gewaltigstes
Werk mit einer Verherrlichung des Ewig-Weiblichen abschloß!

Die Einleitung zum ersten Abschnitt, der die Zeit wiederspiegeln soll, wo
die Erinnerungen entstanden sind, hätte füglich nach den Wahlverwandtschaften
ihren Platz finden müssen. Daß in derselben Goethe Mangel an jeglicher
Vaterlandsliebe vorgeworfen wird, nimmt nicht Wunder. Das ist ein altes
beliebtes Thema, um das schon viel Tinte geflossen ist; wir möchten aber doch


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[0162] Gedanken eines Franzosen über Goethe Not teilt seinen „Essai" ein in sechs Abschnitte: Aus meinem Leben, die romantische Krise (Götz), die sentimentale Krise (Werther), der Hofdichter (Tasso), der letzte Roman (Wahlverwandtschaften) und das große Werk (Faust). Um diese besprochnen sechs Werke schlingen sich dann die Lebensumstünde, unter denen sie entstanden sind, willkürlich und zusammenhanglos herum. Das Bedenkliche einer solchen Einteilung liegt auf der Hand. Ein so vielgestaltiges und weitnmfassendes Leben wie Goethes läßt sich nun einmal nicht in spanische Stiefel schnüren, in scharf abgegrenzte Perioden zerlegen. Tausend Fäden spinnen sich von einer zur andern hinüber; aber Rod giebt sich nicht die Mühe, diese Fäden zu erkennen. So ist die Trennung der romantischen und sentimentalen Krise als besonders verfehlt zu bezeichnen, da ja beide völlig in einander übergehen. Den ersten, „Aus meinem Leben" behandelnden Abschnitt eröffnet ein Angriff auf die Goethephilologie, namentlich aber auf die pietätvolle Art, mit der in Weimar Goethes Andenke» auch in Äußerlichkeiten lebendig erhalten wird, z. B. in der Aufbewahrung seiner Sammlungen und der unscheinbarsten Dinge. Man erfährt nicht, ob Rod selbst in Weimar gewesen ist — anzu¬ nehmen ist es kaum; schwerlich hätte er sich sonst dem tiefen Eindruck entziehen können, den dieses „Mekka," wie er es nennt, immer wieder auf seine Besucher ausübt, dem Schauer, der auch den ergreift, der nicht Gvethianer sa-us resorvö ist, wenn er das Heim des Genius betritt, das geweiht ist für alle Zeiten, wenn er seinen Blick schweifen läßt über die Sammlungen, die dem Unermüd¬ lichen helfen sollten, die Rätsel unsers Seins zu lösen, die gefüllte Flasche, deren Strahlenbrechungen er noch in seinen letzten Lebenstagen studirte, durch Thätigkeit „des Todes Bitternisse vertreibend"; wenn er hineintritt in das in seiner Schlichtheit ergreifende Sterbezimmer, wo der größte Dichter seines Volkes lichtsehnend ins Dunkel sank. Wie hat Heyse den Gefühlen, die dort auf uns einstürmen, in seinem „Goethehaus" so ergreifenden Ausdruck gegeben! Wir können uns in dieser Beziehung mit dem Wort „Wenn ihrs nicht fühlt, ihr werdets nicht erjagen" trösten; wenn aber Not sich darüber wundert, daß sich der „sonst so prüde deutsche Sinn" an den am Frauenplatz befindlichen Bildern derer, die Goethe geliebt hat, nicht stößt, und später diese Frauen glatthin als Maitressen bezeichnet, so ist das eine Albernheit, der Rod eine zweite hinzufügt, wenn er später behauptet, der Schöpfer des Gretchen, Klärchen, der Iphigenie, Dorothea, Charlotte habe für das weibliche Geschlecht zeitlebens eine gewisse Verachtung an den Tag gelegt; er, der sein gewaltigstes Werk mit einer Verherrlichung des Ewig-Weiblichen abschloß! Die Einleitung zum ersten Abschnitt, der die Zeit wiederspiegeln soll, wo die Erinnerungen entstanden sind, hätte füglich nach den Wahlverwandtschaften ihren Platz finden müssen. Daß in derselben Goethe Mangel an jeglicher Vaterlandsliebe vorgeworfen wird, nimmt nicht Wunder. Das ist ein altes beliebtes Thema, um das schon viel Tinte geflossen ist; wir möchten aber doch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/162>, abgerufen am 04.07.2024.