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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Lin Neulutheraner

Weil es aller Erfahrung widerspricht; denn diese zeigt, daß die Verschieden¬
heiten teils durch lange Zeit einwirkende klimatische Einflüsse, teils durch gesell¬
schaftliche Differenzirung, teils durch Mischung der so geschaffnen Verschieden¬
heiten entstehen, und die Wahrscheinlichkeit spricht daher sür große Ähnlichkeit
der Kinder der Urmenschen: wie denn auch heute noch bei den Naturvölkern
alle Kinder eines Elternpaares einander zum Verwechseln ähnlich zu sehen
Pflegen, während bei den Kulturvölkern mitunter die Kinder einer Familie so
starke körperliche und geistige Verschiedenheiten zeigen, daß sie nach jener
Theorie ganz gut unter sich heiraten könnten. Eine Schwierigkeit, die auf
einem ganz andern Felde liegt, hat Isch Schachefeth in wahrhaft genialer und
mich wenigstens überzeugender Weise gelöst: wie das abscheuliche Buch Esther
in den Kanon aufgenommen werden konnte. Aus diesem Buche, führt er aus,
spreche der echte/reine und unverfälschte, unveredelte Judengeist, der Geist
der Sinnlichkeit, Habsucht, Herrschsucht und zügellosen Nachsucht; es zeige
daher, wie die jüdische Nationallitteratur aussehen würde, wenn sie nicht vom
göttlichen Geiste beeinflußt worden wäre. Es sei auf dem göttlichen Welt-
gemülde das Stück Staffage, das Stück kleinen Menschentums, woran man
die Höhe der göttlichen Berge und die Größe der himmlischen Gewächse dieser
Landschaft zu messen vermöge.

Wo der Verfasser über praktische Gegenstände spricht, fördert er durchweg
gesunde Anschauungen zu Tage. So verurteilt er z. B. die verrückten Tem¬
perenzler nicht weniger entschieden, wie die Anwälte des Snffs. die aus der
Bibel beweisen wollten, daß dieses Laster eigentlich eine Tugend sei; in Be¬
ziehung auf die deutsche Strafgesetzgebung über den Ehebruch bemerkt er ganz
richtig, daß sie eine Farce sei. und vom Duell sagt er ebenso richtig, daß es
nur auf Grund des Neuen Testaments für Sünde erklärt werden könne, während
es nach der natürlichen Moral gerechtfertigt sei, daß daher die Liberalen und
die Sozialdemokraten, die nur eine natürliche, keine geoffenbarte Moral an¬
erkennten, kein Recht hätten, sich dagegen zu ereifern. Die verletzte Familien¬
ehre z. B. mit dem Schwerte zu rächen, sei nach den Grundsätzen der natür¬
lichen Moral des Mannes würdig und sogar Pflicht für ihn, und geschehe es
in ritterlichen Formen, so sei vollends nichts dagegen einzuwenden. D:e
Engländer und Amerikaner, die das ritterliche Duell verschmähen, hätten dafür
das Duell in seiner ursprünglichsten und rohesten Form: die Prügelei, und
sie hätten noch etwas schlimmeres: die Preisfaustkümpfe, bei denen der Telegraph
dem blutdürstigen Publikum über jedes ausgestochne Auge, jede zerquetschte
Nase, jede gebrochene Rippe berichte, und bei denen nicht, wie in Olympm,
um einen Ehrenkranz, sondern um Geld gekümpft werde.

Nach alledem könnte ich zwar mit dem Deutschamerikaner Arm in Arm
durchs Leben wandeln, aber leider würde er für die angebotene Begleitung
danken, denn ich gehöre zu den seiner Ansicht nach Verlornen, denen er ihren


Lin Neulutheraner

Weil es aller Erfahrung widerspricht; denn diese zeigt, daß die Verschieden¬
heiten teils durch lange Zeit einwirkende klimatische Einflüsse, teils durch gesell¬
schaftliche Differenzirung, teils durch Mischung der so geschaffnen Verschieden¬
heiten entstehen, und die Wahrscheinlichkeit spricht daher sür große Ähnlichkeit
der Kinder der Urmenschen: wie denn auch heute noch bei den Naturvölkern
alle Kinder eines Elternpaares einander zum Verwechseln ähnlich zu sehen
Pflegen, während bei den Kulturvölkern mitunter die Kinder einer Familie so
starke körperliche und geistige Verschiedenheiten zeigen, daß sie nach jener
Theorie ganz gut unter sich heiraten könnten. Eine Schwierigkeit, die auf
einem ganz andern Felde liegt, hat Isch Schachefeth in wahrhaft genialer und
mich wenigstens überzeugender Weise gelöst: wie das abscheuliche Buch Esther
in den Kanon aufgenommen werden konnte. Aus diesem Buche, führt er aus,
spreche der echte/reine und unverfälschte, unveredelte Judengeist, der Geist
der Sinnlichkeit, Habsucht, Herrschsucht und zügellosen Nachsucht; es zeige
daher, wie die jüdische Nationallitteratur aussehen würde, wenn sie nicht vom
göttlichen Geiste beeinflußt worden wäre. Es sei auf dem göttlichen Welt-
gemülde das Stück Staffage, das Stück kleinen Menschentums, woran man
die Höhe der göttlichen Berge und die Größe der himmlischen Gewächse dieser
Landschaft zu messen vermöge.

Wo der Verfasser über praktische Gegenstände spricht, fördert er durchweg
gesunde Anschauungen zu Tage. So verurteilt er z. B. die verrückten Tem¬
perenzler nicht weniger entschieden, wie die Anwälte des Snffs. die aus der
Bibel beweisen wollten, daß dieses Laster eigentlich eine Tugend sei; in Be¬
ziehung auf die deutsche Strafgesetzgebung über den Ehebruch bemerkt er ganz
richtig, daß sie eine Farce sei. und vom Duell sagt er ebenso richtig, daß es
nur auf Grund des Neuen Testaments für Sünde erklärt werden könne, während
es nach der natürlichen Moral gerechtfertigt sei, daß daher die Liberalen und
die Sozialdemokraten, die nur eine natürliche, keine geoffenbarte Moral an¬
erkennten, kein Recht hätten, sich dagegen zu ereifern. Die verletzte Familien¬
ehre z. B. mit dem Schwerte zu rächen, sei nach den Grundsätzen der natür¬
lichen Moral des Mannes würdig und sogar Pflicht für ihn, und geschehe es
in ritterlichen Formen, so sei vollends nichts dagegen einzuwenden. D:e
Engländer und Amerikaner, die das ritterliche Duell verschmähen, hätten dafür
das Duell in seiner ursprünglichsten und rohesten Form: die Prügelei, und
sie hätten noch etwas schlimmeres: die Preisfaustkümpfe, bei denen der Telegraph
dem blutdürstigen Publikum über jedes ausgestochne Auge, jede zerquetschte
Nase, jede gebrochene Rippe berichte, und bei denen nicht, wie in Olympm,
um einen Ehrenkranz, sondern um Geld gekümpft werde.

Nach alledem könnte ich zwar mit dem Deutschamerikaner Arm in Arm
durchs Leben wandeln, aber leider würde er für die angebotene Begleitung
danken, denn ich gehöre zu den seiner Ansicht nach Verlornen, denen er ihren


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[0103] Lin Neulutheraner Weil es aller Erfahrung widerspricht; denn diese zeigt, daß die Verschieden¬ heiten teils durch lange Zeit einwirkende klimatische Einflüsse, teils durch gesell¬ schaftliche Differenzirung, teils durch Mischung der so geschaffnen Verschieden¬ heiten entstehen, und die Wahrscheinlichkeit spricht daher sür große Ähnlichkeit der Kinder der Urmenschen: wie denn auch heute noch bei den Naturvölkern alle Kinder eines Elternpaares einander zum Verwechseln ähnlich zu sehen Pflegen, während bei den Kulturvölkern mitunter die Kinder einer Familie so starke körperliche und geistige Verschiedenheiten zeigen, daß sie nach jener Theorie ganz gut unter sich heiraten könnten. Eine Schwierigkeit, die auf einem ganz andern Felde liegt, hat Isch Schachefeth in wahrhaft genialer und mich wenigstens überzeugender Weise gelöst: wie das abscheuliche Buch Esther in den Kanon aufgenommen werden konnte. Aus diesem Buche, führt er aus, spreche der echte/reine und unverfälschte, unveredelte Judengeist, der Geist der Sinnlichkeit, Habsucht, Herrschsucht und zügellosen Nachsucht; es zeige daher, wie die jüdische Nationallitteratur aussehen würde, wenn sie nicht vom göttlichen Geiste beeinflußt worden wäre. Es sei auf dem göttlichen Welt- gemülde das Stück Staffage, das Stück kleinen Menschentums, woran man die Höhe der göttlichen Berge und die Größe der himmlischen Gewächse dieser Landschaft zu messen vermöge. Wo der Verfasser über praktische Gegenstände spricht, fördert er durchweg gesunde Anschauungen zu Tage. So verurteilt er z. B. die verrückten Tem¬ perenzler nicht weniger entschieden, wie die Anwälte des Snffs. die aus der Bibel beweisen wollten, daß dieses Laster eigentlich eine Tugend sei; in Be¬ ziehung auf die deutsche Strafgesetzgebung über den Ehebruch bemerkt er ganz richtig, daß sie eine Farce sei. und vom Duell sagt er ebenso richtig, daß es nur auf Grund des Neuen Testaments für Sünde erklärt werden könne, während es nach der natürlichen Moral gerechtfertigt sei, daß daher die Liberalen und die Sozialdemokraten, die nur eine natürliche, keine geoffenbarte Moral an¬ erkennten, kein Recht hätten, sich dagegen zu ereifern. Die verletzte Familien¬ ehre z. B. mit dem Schwerte zu rächen, sei nach den Grundsätzen der natür¬ lichen Moral des Mannes würdig und sogar Pflicht für ihn, und geschehe es in ritterlichen Formen, so sei vollends nichts dagegen einzuwenden. D:e Engländer und Amerikaner, die das ritterliche Duell verschmähen, hätten dafür das Duell in seiner ursprünglichsten und rohesten Form: die Prügelei, und sie hätten noch etwas schlimmeres: die Preisfaustkümpfe, bei denen der Telegraph dem blutdürstigen Publikum über jedes ausgestochne Auge, jede zerquetschte Nase, jede gebrochene Rippe berichte, und bei denen nicht, wie in Olympm, um einen Ehrenkranz, sondern um Geld gekümpft werde. Nach alledem könnte ich zwar mit dem Deutschamerikaner Arm in Arm durchs Leben wandeln, aber leider würde er für die angebotene Begleitung danken, denn ich gehöre zu den seiner Ansicht nach Verlornen, denen er ihren

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/103>, abgerufen am 04.07.2024.