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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Gin Neuluthercmer

Als Dichtung will der Lutheraner vor allem das Sechstagewerk gewürdigt
wissen, als eine Dichtung allerdings, in der gerade wir Heutigen naturwissen¬
schaftlich bewiesene Wahrheit zu erkennen vermöchten; wobei jedoch die Vor¬
stellung ausgeschlossen bleiben müsse, daß Moses den spätern Geschlechtern
das naturwissenschaftliche Studium habe ersparen wollen. "Was die Menschen
selbst lernen können, das offenbart ihnen Gott nicht erst; denn das ist gar
nicht seine Art; er ist kein Gott, der Trägheit beschützte oder Denkfaulheit
begünstigte. Die faulen Gimpel, die die Hände überm Bauch falten, wenn
andre Menschen sich abmühen, um im Schweiße ihres Angesichts der Erde
das zähe Geheimnis*) ihrer Vergangenheit abzuringen, die mit frommem
Augenverdrehen jeden fröhlichen Wind der Wissenschaft fürchten und ängstlich
die Fenster schließen, wenn solch ein Wind in das Palatium ihres vermeintlich
frommen "sich abschließen gegen die Welt" hineinzuwehen droht, die sind schon
ganz und gar nicht nach seinem Sinn." Seine Erklärung des ersten Kapitels
der Genesis ist wunderschön. Denen, die sich einbilden, Kopernikus habe die
anthropozentrische Weltauffassung unmöglich gemacht, sagt er, was ihnen vor
einigen Jahren in den Grenzboten gesagt worden ist, daß bei der Relativität
aller Bewegung jeder Stern, auch die Erde, als der feststehende Mittelpunkt
des Weltalls gedacht werden kann. Wenn nun aber die ersten Verse der
Genesis Dichtung sind, selbstverständlich ein göttliches, tiefe Wahrheit ent¬
haltendes Gedicht, warum soll da alles übrige, wie der Verfasser will, strenge
Geschichte sein? Solche kindische Einwendungen wie die: woher denn Kam
sein Weib genommen habe, widerlegt er zwar in ganz befriedigender Weise,
aber die eigentlichen Schwierigkeiten, die teils auf dem Gebiete der Psychologie,
teils auf dem der Kulturentwicklung liegen, und von denen einige bei ver-
schiednen Gelegenheiten in den Grenzboten angedeutet worden find, berührt er
gar nicht. Wie wenig er an diese Schwierigkeiten gedacht hat, beweist gerade
seine Abhandlung über Kains Weib. Natürlich kann dieses Weib nur eine
seiner Schwestern gewesen sein. Geschwisterehen, meint er, seien in der Urzeit
keine Blutschande gewesen. Denn die Blutschande bestehe darin, daß einander
ganz ähnliche sich vermischen, was dem Grundgesetz der Ehe, die eine polare
Ergänzung von Entgegengesetzten sein solle, widerspreche. Nun sei aber der
Begriff der Menschheit in der Urzeit erst in so wenigen Exemplaren verwirk¬
licht gewesen, daß diese Exemplare die größten Verschiedenheiten ausgewiesen
hätten, und Sem, Ham und Japhet z. B. einander nicht ähnlicher gewesen
seien als heut die Menschen der von ihnen abstammenden verschiednen Nassen;
Kinder ein und desselben Elternpaares seien so verschieden von einander ge¬
wesen, wie etwa Germanen und Semiten. Das ist nun eben sehr zu bezweifeln,



Zäh wäre wohl nicht das Geheimnis zu nennen, sondern die Erde, die es nicht heraus¬
geben will.
Gin Neuluthercmer

Als Dichtung will der Lutheraner vor allem das Sechstagewerk gewürdigt
wissen, als eine Dichtung allerdings, in der gerade wir Heutigen naturwissen¬
schaftlich bewiesene Wahrheit zu erkennen vermöchten; wobei jedoch die Vor¬
stellung ausgeschlossen bleiben müsse, daß Moses den spätern Geschlechtern
das naturwissenschaftliche Studium habe ersparen wollen. „Was die Menschen
selbst lernen können, das offenbart ihnen Gott nicht erst; denn das ist gar
nicht seine Art; er ist kein Gott, der Trägheit beschützte oder Denkfaulheit
begünstigte. Die faulen Gimpel, die die Hände überm Bauch falten, wenn
andre Menschen sich abmühen, um im Schweiße ihres Angesichts der Erde
das zähe Geheimnis*) ihrer Vergangenheit abzuringen, die mit frommem
Augenverdrehen jeden fröhlichen Wind der Wissenschaft fürchten und ängstlich
die Fenster schließen, wenn solch ein Wind in das Palatium ihres vermeintlich
frommen »sich abschließen gegen die Welt« hineinzuwehen droht, die sind schon
ganz und gar nicht nach seinem Sinn." Seine Erklärung des ersten Kapitels
der Genesis ist wunderschön. Denen, die sich einbilden, Kopernikus habe die
anthropozentrische Weltauffassung unmöglich gemacht, sagt er, was ihnen vor
einigen Jahren in den Grenzboten gesagt worden ist, daß bei der Relativität
aller Bewegung jeder Stern, auch die Erde, als der feststehende Mittelpunkt
des Weltalls gedacht werden kann. Wenn nun aber die ersten Verse der
Genesis Dichtung sind, selbstverständlich ein göttliches, tiefe Wahrheit ent¬
haltendes Gedicht, warum soll da alles übrige, wie der Verfasser will, strenge
Geschichte sein? Solche kindische Einwendungen wie die: woher denn Kam
sein Weib genommen habe, widerlegt er zwar in ganz befriedigender Weise,
aber die eigentlichen Schwierigkeiten, die teils auf dem Gebiete der Psychologie,
teils auf dem der Kulturentwicklung liegen, und von denen einige bei ver-
schiednen Gelegenheiten in den Grenzboten angedeutet worden find, berührt er
gar nicht. Wie wenig er an diese Schwierigkeiten gedacht hat, beweist gerade
seine Abhandlung über Kains Weib. Natürlich kann dieses Weib nur eine
seiner Schwestern gewesen sein. Geschwisterehen, meint er, seien in der Urzeit
keine Blutschande gewesen. Denn die Blutschande bestehe darin, daß einander
ganz ähnliche sich vermischen, was dem Grundgesetz der Ehe, die eine polare
Ergänzung von Entgegengesetzten sein solle, widerspreche. Nun sei aber der
Begriff der Menschheit in der Urzeit erst in so wenigen Exemplaren verwirk¬
licht gewesen, daß diese Exemplare die größten Verschiedenheiten ausgewiesen
hätten, und Sem, Ham und Japhet z. B. einander nicht ähnlicher gewesen
seien als heut die Menschen der von ihnen abstammenden verschiednen Nassen;
Kinder ein und desselben Elternpaares seien so verschieden von einander ge¬
wesen, wie etwa Germanen und Semiten. Das ist nun eben sehr zu bezweifeln,



Zäh wäre wohl nicht das Geheimnis zu nennen, sondern die Erde, die es nicht heraus¬
geben will.
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[0102] Gin Neuluthercmer Als Dichtung will der Lutheraner vor allem das Sechstagewerk gewürdigt wissen, als eine Dichtung allerdings, in der gerade wir Heutigen naturwissen¬ schaftlich bewiesene Wahrheit zu erkennen vermöchten; wobei jedoch die Vor¬ stellung ausgeschlossen bleiben müsse, daß Moses den spätern Geschlechtern das naturwissenschaftliche Studium habe ersparen wollen. „Was die Menschen selbst lernen können, das offenbart ihnen Gott nicht erst; denn das ist gar nicht seine Art; er ist kein Gott, der Trägheit beschützte oder Denkfaulheit begünstigte. Die faulen Gimpel, die die Hände überm Bauch falten, wenn andre Menschen sich abmühen, um im Schweiße ihres Angesichts der Erde das zähe Geheimnis*) ihrer Vergangenheit abzuringen, die mit frommem Augenverdrehen jeden fröhlichen Wind der Wissenschaft fürchten und ängstlich die Fenster schließen, wenn solch ein Wind in das Palatium ihres vermeintlich frommen »sich abschließen gegen die Welt« hineinzuwehen droht, die sind schon ganz und gar nicht nach seinem Sinn." Seine Erklärung des ersten Kapitels der Genesis ist wunderschön. Denen, die sich einbilden, Kopernikus habe die anthropozentrische Weltauffassung unmöglich gemacht, sagt er, was ihnen vor einigen Jahren in den Grenzboten gesagt worden ist, daß bei der Relativität aller Bewegung jeder Stern, auch die Erde, als der feststehende Mittelpunkt des Weltalls gedacht werden kann. Wenn nun aber die ersten Verse der Genesis Dichtung sind, selbstverständlich ein göttliches, tiefe Wahrheit ent¬ haltendes Gedicht, warum soll da alles übrige, wie der Verfasser will, strenge Geschichte sein? Solche kindische Einwendungen wie die: woher denn Kam sein Weib genommen habe, widerlegt er zwar in ganz befriedigender Weise, aber die eigentlichen Schwierigkeiten, die teils auf dem Gebiete der Psychologie, teils auf dem der Kulturentwicklung liegen, und von denen einige bei ver- schiednen Gelegenheiten in den Grenzboten angedeutet worden find, berührt er gar nicht. Wie wenig er an diese Schwierigkeiten gedacht hat, beweist gerade seine Abhandlung über Kains Weib. Natürlich kann dieses Weib nur eine seiner Schwestern gewesen sein. Geschwisterehen, meint er, seien in der Urzeit keine Blutschande gewesen. Denn die Blutschande bestehe darin, daß einander ganz ähnliche sich vermischen, was dem Grundgesetz der Ehe, die eine polare Ergänzung von Entgegengesetzten sein solle, widerspreche. Nun sei aber der Begriff der Menschheit in der Urzeit erst in so wenigen Exemplaren verwirk¬ licht gewesen, daß diese Exemplare die größten Verschiedenheiten ausgewiesen hätten, und Sem, Ham und Japhet z. B. einander nicht ähnlicher gewesen seien als heut die Menschen der von ihnen abstammenden verschiednen Nassen; Kinder ein und desselben Elternpaares seien so verschieden von einander ge¬ wesen, wie etwa Germanen und Semiten. Das ist nun eben sehr zu bezweifeln, Zäh wäre wohl nicht das Geheimnis zu nennen, sondern die Erde, die es nicht heraus¬ geben will.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/102>, abgerufen am 04.07.2024.