Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.und Mathematikern. Selbst unter den klassischen Philologen, wie selten im Grenzboten IV 1898
und Mathematikern. Selbst unter den klassischen Philologen, wie selten im Grenzboten IV 1898
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0101" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/229049"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_210" prev="#ID_209"> und Mathematikern. Selbst unter den klassischen Philologen, wie selten im<lb/> ganzen die Kerle, die bloß an der erbärmlichen dürftigen Textkritik oder am<lb/> Sprachmechanismus kleben bleiben, denen nicht das Herz aufgeht bei Homer<lb/> und Sophokles, die nicht selbst so einem augustischen Braten-Barden und<lb/> Hofpoeten wie dem Flaccus noch einige echte Schönheitszüge und Hoheits-<lb/> gcdanken abgewinnen könnten. Die meisten suchen den Geist mit dem Geist<lb/> und das Herz mit dem Herzen zu erfassen. Die es nicht können oder nicht<lb/> wollen, schleichen einsame Wege abseits, ihre Pygmäenstimmchen verhallen im<lb/> großen Chor gott- und schönheitsbegeisterter Jünger echter Kunst und können<lb/> das x«7«A<^ der hohen Ideen des Altertums nicht in den Staub ziehn-<lb/> Was einem Schiller und Goethe, was einem Homer, Pindar und Sophokles,<lb/> was selbst einem Vergil und Horaz mit Freuden zugestanden und nur ver¬<lb/> stohlen, hämisch und heimlich zu bestreikn gewagt wird, was bei der Inter¬<lb/> pretation alter und neuer Poesie das Grundprinzip ist aller Forschung und<lb/> alles Lehrens: daß man dem Dichter nachzufühlen, ihn nachzudichten sucht,<lb/> das ist dem Studirenden alttestamentlicher. heiliger, gottgeweihter Dichtkunst<lb/> gemeinhin versagt. Man füttert den jugendlichen Pegasus mit Sägemehl und<lb/> Hobelspänen wie eine Maschine. Man stutzt ihm die Flügel und sagt ihm,<lb/> hier sei kein Ort zum Fliegen, sondern nur zum Pflügen." (I, 69.) Unsre Zeit,<lb/> weint er, sei eben das goldne Zeitalter der Kleinen, und nirgends habe das<lb/> Spezialistentum ärgere Verheerungen angerichtet, als auf dem Gebiete der<lb/> Bibelerklärung. Aus diesem Spezialistengeistc erkläre sich auch die Narrheir<lb/> der Shakespeare-Baconhypothese. Er charakterisirt Jäger, den die Tantiemen<lb/> der Wollhemdenfabriken über den Spott trösten, den ihm seine Dnfttheorie<lb/> zugezogen hat, als den echtesten Jünger des Begründers der Empirie der an¬<lb/> gewandten Naturwissenschaft und ruft aus: „Und solch ein Kerl — ich meine<lb/> natürlich den von Verulam — kommt in unserm »kritisch gerichteten« Zeit¬<lb/> alter gar in den Ruf, der eigentliche Shakespeare zu sein!" Alles Große,<lb/> Gewaltige (er führt auch Bismarck an) bereite unsrer Zeit Nervenschmerzen.<lb/> So habe man denn weder einen Homer noch einen Dichter des Nibelungen¬<lb/> liedes für möglich gehalten und ihre Werke für Massenarbeit und Kompilationen<lb/> erklärt. Über Shakespeare urteile man wie die Rabbiner Joh. 7. 15 über<lb/> Aesus: „Wie kommt dieser zu seinem Wissen, da er doch nicht studirt hat?"<lb/> Weil Shakespeare kein Gelehrter war, müsse ein gelehrter trockner Schleicher<lb/> die Werke geschrieben haben, die so viel Weisheit enthalten, da doch die soge¬<lb/> nannte Bildung nur ein kümmerliches Surrogat des Genies sei. und dieses<lb/> zwar jene, jene aber niemals diese ersetzen könne. Aus der Begeisterung des<lb/> Ephemeridenmanns für alles echt Poetische erklärt sich wohl seine Vorliebe<lb/> sür Heine, den er oft zitirt; er findet u. a.. daß dieser Jude mehr Verständms<lb/> fürs Christentum habe als Goethe, der alte Heide, und lobt ihn, daß er die<lb/> rationalistische Exegese verspotte.</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV 1898</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0101]
und Mathematikern. Selbst unter den klassischen Philologen, wie selten im
ganzen die Kerle, die bloß an der erbärmlichen dürftigen Textkritik oder am
Sprachmechanismus kleben bleiben, denen nicht das Herz aufgeht bei Homer
und Sophokles, die nicht selbst so einem augustischen Braten-Barden und
Hofpoeten wie dem Flaccus noch einige echte Schönheitszüge und Hoheits-
gcdanken abgewinnen könnten. Die meisten suchen den Geist mit dem Geist
und das Herz mit dem Herzen zu erfassen. Die es nicht können oder nicht
wollen, schleichen einsame Wege abseits, ihre Pygmäenstimmchen verhallen im
großen Chor gott- und schönheitsbegeisterter Jünger echter Kunst und können
das x«7«A<^ der hohen Ideen des Altertums nicht in den Staub ziehn-
Was einem Schiller und Goethe, was einem Homer, Pindar und Sophokles,
was selbst einem Vergil und Horaz mit Freuden zugestanden und nur ver¬
stohlen, hämisch und heimlich zu bestreikn gewagt wird, was bei der Inter¬
pretation alter und neuer Poesie das Grundprinzip ist aller Forschung und
alles Lehrens: daß man dem Dichter nachzufühlen, ihn nachzudichten sucht,
das ist dem Studirenden alttestamentlicher. heiliger, gottgeweihter Dichtkunst
gemeinhin versagt. Man füttert den jugendlichen Pegasus mit Sägemehl und
Hobelspänen wie eine Maschine. Man stutzt ihm die Flügel und sagt ihm,
hier sei kein Ort zum Fliegen, sondern nur zum Pflügen." (I, 69.) Unsre Zeit,
weint er, sei eben das goldne Zeitalter der Kleinen, und nirgends habe das
Spezialistentum ärgere Verheerungen angerichtet, als auf dem Gebiete der
Bibelerklärung. Aus diesem Spezialistengeistc erkläre sich auch die Narrheir
der Shakespeare-Baconhypothese. Er charakterisirt Jäger, den die Tantiemen
der Wollhemdenfabriken über den Spott trösten, den ihm seine Dnfttheorie
zugezogen hat, als den echtesten Jünger des Begründers der Empirie der an¬
gewandten Naturwissenschaft und ruft aus: „Und solch ein Kerl — ich meine
natürlich den von Verulam — kommt in unserm »kritisch gerichteten« Zeit¬
alter gar in den Ruf, der eigentliche Shakespeare zu sein!" Alles Große,
Gewaltige (er führt auch Bismarck an) bereite unsrer Zeit Nervenschmerzen.
So habe man denn weder einen Homer noch einen Dichter des Nibelungen¬
liedes für möglich gehalten und ihre Werke für Massenarbeit und Kompilationen
erklärt. Über Shakespeare urteile man wie die Rabbiner Joh. 7. 15 über
Aesus: „Wie kommt dieser zu seinem Wissen, da er doch nicht studirt hat?"
Weil Shakespeare kein Gelehrter war, müsse ein gelehrter trockner Schleicher
die Werke geschrieben haben, die so viel Weisheit enthalten, da doch die soge¬
nannte Bildung nur ein kümmerliches Surrogat des Genies sei. und dieses
zwar jene, jene aber niemals diese ersetzen könne. Aus der Begeisterung des
Ephemeridenmanns für alles echt Poetische erklärt sich wohl seine Vorliebe
sür Heine, den er oft zitirt; er findet u. a.. daß dieser Jude mehr Verständms
fürs Christentum habe als Goethe, der alte Heide, und lobt ihn, daß er die
rationalistische Exegese verspotte.
Grenzboten IV 1898
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