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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Die Gedichte Michelangelos

die er hinterlassen hat. Hier ist echte Empfindung, unverkttnstelte, und weniger
als sonst hat er hier mit der Sprache zu ringen.

Das Vertrauen, daß wie Christi Leiden, so auch seine Liebe keine Grenzen
habe, das Bekenntnis, daß er seine festgewurzelten Gewohnheiten, daß er Leben,
Liebe und Sitten nicht zu ändern vermöge, wenn ihm nicht der Herr die hilf¬
reiche Hand entgegenstrecke, die aus dem Kreuzestod geschöpfte Zuversicht, daß
wahrer Neue die Gnade nicht fehlen werde, die Bitte zum Herrn, ihn zu sich
zu rufen in der Stunde, da er ihn am meisten schuldbefreit finde, ihm die
Gnadenkette zu reichen zur Hilfe für seinen schwachen Glauben -- das sind
die letzten Klänge der einst so ganz anders gestimmten Leier.

Doch der Schluß der Gedichtsammlung, wie sie uns erhalten ist, bringt
eine Überraschung. Das letzte Wort hat nun doch nicht diese fromme Welt¬
abkehr. Und umso unerwarteter ist das nochmalige Hervorbrechen eines anders
gearteten Dichtergeistes, als es ein halb religiöser Anlaß war, aus dem diese
letzte Dichtung des Einuudachtzigjührigen entstand. Als sich im Herbst 1556
ein spanisches Heer unter dem Herzog Alba Rom näherte, verließ Michelangelo
die Stadt, wie es scheint, um eine Wallfahrt nach Loreto auszuführen. Man
denkt dabei an die plötzlichen Entweichungen, die eine für das Temperament
des Künstlers bezeichnende Rolle in seinem Leben spielen, so im Jahre 1494
während der Negierung Piero Medicis, im Jahre 1505, als ihn Papst
Julius H. erzürnt hatte, und 1529 während der Belagerung von Florenz
durch das kaiserliche Heer. Michelangelo vollendete aber die Wallfahrt nicht,
er blieb vielmehr in den Bergen von Spoleto hängen und fand hier besser
als in jenem Gnadenorte das, was er suchte. "Ich habe, so schrieb er an
Vasari, einen großen Genuß in den Bergen von Spoleto gehabt, wo ich die
Einsiedler besuchte, also daß ich nur als halber Mensch nach Rom zurück¬
gekehrt bin. Denn wahrhaftig nirgends ist Frieden als in den Wäldern."
Das klingt um so überraschender, als sonst weder in den Gedichten noch in
Briefen eine Spur von Naturempfindung zu finden ist, sehr im Gegensatz zu
Petrarca, der sonst sein Norbild ist. Und jetzt in den Oktaven, die die Frucht
dieses Aufenthalts in der Berglandschaft sind, weht, wie man mit Recht gesagt
hat, ein "frischer Waldesodem." Uuovo xig,<Zörs -- so beginnt das Gedicht --,
und man meint wirklich zu spüren, daß es sür den Wandrer ein neuer,


Die Gedichte Michelangelos

die er hinterlassen hat. Hier ist echte Empfindung, unverkttnstelte, und weniger
als sonst hat er hier mit der Sprache zu ringen.

Das Vertrauen, daß wie Christi Leiden, so auch seine Liebe keine Grenzen
habe, das Bekenntnis, daß er seine festgewurzelten Gewohnheiten, daß er Leben,
Liebe und Sitten nicht zu ändern vermöge, wenn ihm nicht der Herr die hilf¬
reiche Hand entgegenstrecke, die aus dem Kreuzestod geschöpfte Zuversicht, daß
wahrer Neue die Gnade nicht fehlen werde, die Bitte zum Herrn, ihn zu sich
zu rufen in der Stunde, da er ihn am meisten schuldbefreit finde, ihm die
Gnadenkette zu reichen zur Hilfe für seinen schwachen Glauben — das sind
die letzten Klänge der einst so ganz anders gestimmten Leier.

Doch der Schluß der Gedichtsammlung, wie sie uns erhalten ist, bringt
eine Überraschung. Das letzte Wort hat nun doch nicht diese fromme Welt¬
abkehr. Und umso unerwarteter ist das nochmalige Hervorbrechen eines anders
gearteten Dichtergeistes, als es ein halb religiöser Anlaß war, aus dem diese
letzte Dichtung des Einuudachtzigjührigen entstand. Als sich im Herbst 1556
ein spanisches Heer unter dem Herzog Alba Rom näherte, verließ Michelangelo
die Stadt, wie es scheint, um eine Wallfahrt nach Loreto auszuführen. Man
denkt dabei an die plötzlichen Entweichungen, die eine für das Temperament
des Künstlers bezeichnende Rolle in seinem Leben spielen, so im Jahre 1494
während der Negierung Piero Medicis, im Jahre 1505, als ihn Papst
Julius H. erzürnt hatte, und 1529 während der Belagerung von Florenz
durch das kaiserliche Heer. Michelangelo vollendete aber die Wallfahrt nicht,
er blieb vielmehr in den Bergen von Spoleto hängen und fand hier besser
als in jenem Gnadenorte das, was er suchte. „Ich habe, so schrieb er an
Vasari, einen großen Genuß in den Bergen von Spoleto gehabt, wo ich die
Einsiedler besuchte, also daß ich nur als halber Mensch nach Rom zurück¬
gekehrt bin. Denn wahrhaftig nirgends ist Frieden als in den Wäldern."
Das klingt um so überraschender, als sonst weder in den Gedichten noch in
Briefen eine Spur von Naturempfindung zu finden ist, sehr im Gegensatz zu
Petrarca, der sonst sein Norbild ist. Und jetzt in den Oktaven, die die Frucht
dieses Aufenthalts in der Berglandschaft sind, weht, wie man mit Recht gesagt
hat, ein „frischer Waldesodem." Uuovo xig,<Zörs — so beginnt das Gedicht —,
und man meint wirklich zu spüren, daß es sür den Wandrer ein neuer,


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[0572] Die Gedichte Michelangelos die er hinterlassen hat. Hier ist echte Empfindung, unverkttnstelte, und weniger als sonst hat er hier mit der Sprache zu ringen. Das Vertrauen, daß wie Christi Leiden, so auch seine Liebe keine Grenzen habe, das Bekenntnis, daß er seine festgewurzelten Gewohnheiten, daß er Leben, Liebe und Sitten nicht zu ändern vermöge, wenn ihm nicht der Herr die hilf¬ reiche Hand entgegenstrecke, die aus dem Kreuzestod geschöpfte Zuversicht, daß wahrer Neue die Gnade nicht fehlen werde, die Bitte zum Herrn, ihn zu sich zu rufen in der Stunde, da er ihn am meisten schuldbefreit finde, ihm die Gnadenkette zu reichen zur Hilfe für seinen schwachen Glauben — das sind die letzten Klänge der einst so ganz anders gestimmten Leier. Doch der Schluß der Gedichtsammlung, wie sie uns erhalten ist, bringt eine Überraschung. Das letzte Wort hat nun doch nicht diese fromme Welt¬ abkehr. Und umso unerwarteter ist das nochmalige Hervorbrechen eines anders gearteten Dichtergeistes, als es ein halb religiöser Anlaß war, aus dem diese letzte Dichtung des Einuudachtzigjührigen entstand. Als sich im Herbst 1556 ein spanisches Heer unter dem Herzog Alba Rom näherte, verließ Michelangelo die Stadt, wie es scheint, um eine Wallfahrt nach Loreto auszuführen. Man denkt dabei an die plötzlichen Entweichungen, die eine für das Temperament des Künstlers bezeichnende Rolle in seinem Leben spielen, so im Jahre 1494 während der Negierung Piero Medicis, im Jahre 1505, als ihn Papst Julius H. erzürnt hatte, und 1529 während der Belagerung von Florenz durch das kaiserliche Heer. Michelangelo vollendete aber die Wallfahrt nicht, er blieb vielmehr in den Bergen von Spoleto hängen und fand hier besser als in jenem Gnadenorte das, was er suchte. „Ich habe, so schrieb er an Vasari, einen großen Genuß in den Bergen von Spoleto gehabt, wo ich die Einsiedler besuchte, also daß ich nur als halber Mensch nach Rom zurück¬ gekehrt bin. Denn wahrhaftig nirgends ist Frieden als in den Wäldern." Das klingt um so überraschender, als sonst weder in den Gedichten noch in Briefen eine Spur von Naturempfindung zu finden ist, sehr im Gegensatz zu Petrarca, der sonst sein Norbild ist. Und jetzt in den Oktaven, die die Frucht dieses Aufenthalts in der Berglandschaft sind, weht, wie man mit Recht gesagt hat, ein „frischer Waldesodem." Uuovo xig,<Zörs — so beginnt das Gedicht —, und man meint wirklich zu spüren, daß es sür den Wandrer ein neuer,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/572>, abgerufen am 28.07.2024.