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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Die Gedichte Michelangelos

bisher unbekannter Genuß war, auf dem Lande mit einfachen Leuten zu ver¬
kehren, Zeuge ihrer Tagesarbeit und ihrer harmlosen Vergnügungen zu sein.

Das ist offenbar der Wirklichkeit selbst mit heiterer Laune abgelauscht;
ebenso die folgenden Szenen: Die Ziegen, die über einem Fels die Matte ab¬
grasen, der Hirt, der mit rauher Stimme seine kunstlosen Reime zum Preis
der Geliebten singt, während diese spröde unter einer Eiche die Schweine hütet,
die unverschlossenen Wohnungen der glücklichen Armen, die ihre Thür dem
Zufall offen lassen, und denen Soll und Haben so gleichgiltig ist wie die Werke
der Kunst. Wie dann der Gegensatz zwischen dieser bäurischen Einfachheit zu
den Lastern, Sorgen und Übeln Leidenschaften der Städter ausgemalt ist, das
schmeckt wohl etwas akademisch. Dann aber verliert sich die Phantasie des
Dichters, vom Gegenstand abschweifend, auf besondre Pfade. Er schildert
die schlichte Gläubigkeit dieser Leute, die sich mit reinem Vertrauen an den
Himmel wenden, die nichts von Schuldgefühl, nichts von Grübeleien wissen,
nichts vom Wie und Warum, vom Möglich und Vielleicht, und jetzt steigen
eben diese letztgenannten Begriffe vor dem innern Auge des Dichters auf als
leibhaftige Gestalten, als Riesengebilde, die mit der geübten Vildkraft des
Künstlers anschaulich beschriebe" werden: das Möglich, wie es unsicher, hinkend,
zitternd, den Heuschrecken gleich, umherhüpft, das Warum, das im Finstern
tappt, mit zahlreichen Schlüsseln am Gürtel, von denen keiner recht passen
will, das Vielleicht, das sich auf engem Pfade zwischen Felsen mit den Händen
durchtastet. Und immer neue Gestalten schließen sich an: die Wahrheit, die
Falschheit, der Zwist und die Lüge, die Schmeichelei, die List, alle mit zu¬
treffenden Bildern bezeichnet, und zuletzt -- man glaubt ordentlich zu sehen,
wie die Phantasie, einmal erweckt, den Dichter zu immer großartigern Ge¬
sichten mit fortreißt -- ein ungenanntes, ungeschlachtes Riesenpaar und dessen
Brut, die sieben Todsünden, die mit ihren Gliedern den Menschen umklammern,
wie der Epheu zwischen die Steine sich drängend die Mauer umfaßt. Hier
brechen die Stanzen ab.") Das Gedicht ist. wie so viele, unvollendet. Gewiß
ein merkwürdiges Zeugnis für die schöpferische, ins Ungeheure sich streckende



Daß Frey die letzten dieser Stanzen in einen andern Zusammenhang stellt, kann hier
unerörtert bleiben.
Die Gedichte Michelangelos

bisher unbekannter Genuß war, auf dem Lande mit einfachen Leuten zu ver¬
kehren, Zeuge ihrer Tagesarbeit und ihrer harmlosen Vergnügungen zu sein.

Das ist offenbar der Wirklichkeit selbst mit heiterer Laune abgelauscht;
ebenso die folgenden Szenen: Die Ziegen, die über einem Fels die Matte ab¬
grasen, der Hirt, der mit rauher Stimme seine kunstlosen Reime zum Preis
der Geliebten singt, während diese spröde unter einer Eiche die Schweine hütet,
die unverschlossenen Wohnungen der glücklichen Armen, die ihre Thür dem
Zufall offen lassen, und denen Soll und Haben so gleichgiltig ist wie die Werke
der Kunst. Wie dann der Gegensatz zwischen dieser bäurischen Einfachheit zu
den Lastern, Sorgen und Übeln Leidenschaften der Städter ausgemalt ist, das
schmeckt wohl etwas akademisch. Dann aber verliert sich die Phantasie des
Dichters, vom Gegenstand abschweifend, auf besondre Pfade. Er schildert
die schlichte Gläubigkeit dieser Leute, die sich mit reinem Vertrauen an den
Himmel wenden, die nichts von Schuldgefühl, nichts von Grübeleien wissen,
nichts vom Wie und Warum, vom Möglich und Vielleicht, und jetzt steigen
eben diese letztgenannten Begriffe vor dem innern Auge des Dichters auf als
leibhaftige Gestalten, als Riesengebilde, die mit der geübten Vildkraft des
Künstlers anschaulich beschriebe« werden: das Möglich, wie es unsicher, hinkend,
zitternd, den Heuschrecken gleich, umherhüpft, das Warum, das im Finstern
tappt, mit zahlreichen Schlüsseln am Gürtel, von denen keiner recht passen
will, das Vielleicht, das sich auf engem Pfade zwischen Felsen mit den Händen
durchtastet. Und immer neue Gestalten schließen sich an: die Wahrheit, die
Falschheit, der Zwist und die Lüge, die Schmeichelei, die List, alle mit zu¬
treffenden Bildern bezeichnet, und zuletzt — man glaubt ordentlich zu sehen,
wie die Phantasie, einmal erweckt, den Dichter zu immer großartigern Ge¬
sichten mit fortreißt — ein ungenanntes, ungeschlachtes Riesenpaar und dessen
Brut, die sieben Todsünden, die mit ihren Gliedern den Menschen umklammern,
wie der Epheu zwischen die Steine sich drängend die Mauer umfaßt. Hier
brechen die Stanzen ab.") Das Gedicht ist. wie so viele, unvollendet. Gewiß
ein merkwürdiges Zeugnis für die schöpferische, ins Ungeheure sich streckende



Daß Frey die letzten dieser Stanzen in einen andern Zusammenhang stellt, kann hier
unerörtert bleiben.
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[0573] Die Gedichte Michelangelos bisher unbekannter Genuß war, auf dem Lande mit einfachen Leuten zu ver¬ kehren, Zeuge ihrer Tagesarbeit und ihrer harmlosen Vergnügungen zu sein. Das ist offenbar der Wirklichkeit selbst mit heiterer Laune abgelauscht; ebenso die folgenden Szenen: Die Ziegen, die über einem Fels die Matte ab¬ grasen, der Hirt, der mit rauher Stimme seine kunstlosen Reime zum Preis der Geliebten singt, während diese spröde unter einer Eiche die Schweine hütet, die unverschlossenen Wohnungen der glücklichen Armen, die ihre Thür dem Zufall offen lassen, und denen Soll und Haben so gleichgiltig ist wie die Werke der Kunst. Wie dann der Gegensatz zwischen dieser bäurischen Einfachheit zu den Lastern, Sorgen und Übeln Leidenschaften der Städter ausgemalt ist, das schmeckt wohl etwas akademisch. Dann aber verliert sich die Phantasie des Dichters, vom Gegenstand abschweifend, auf besondre Pfade. Er schildert die schlichte Gläubigkeit dieser Leute, die sich mit reinem Vertrauen an den Himmel wenden, die nichts von Schuldgefühl, nichts von Grübeleien wissen, nichts vom Wie und Warum, vom Möglich und Vielleicht, und jetzt steigen eben diese letztgenannten Begriffe vor dem innern Auge des Dichters auf als leibhaftige Gestalten, als Riesengebilde, die mit der geübten Vildkraft des Künstlers anschaulich beschriebe« werden: das Möglich, wie es unsicher, hinkend, zitternd, den Heuschrecken gleich, umherhüpft, das Warum, das im Finstern tappt, mit zahlreichen Schlüsseln am Gürtel, von denen keiner recht passen will, das Vielleicht, das sich auf engem Pfade zwischen Felsen mit den Händen durchtastet. Und immer neue Gestalten schließen sich an: die Wahrheit, die Falschheit, der Zwist und die Lüge, die Schmeichelei, die List, alle mit zu¬ treffenden Bildern bezeichnet, und zuletzt — man glaubt ordentlich zu sehen, wie die Phantasie, einmal erweckt, den Dichter zu immer großartigern Ge¬ sichten mit fortreißt — ein ungenanntes, ungeschlachtes Riesenpaar und dessen Brut, die sieben Todsünden, die mit ihren Gliedern den Menschen umklammern, wie der Epheu zwischen die Steine sich drängend die Mauer umfaßt. Hier brechen die Stanzen ab.") Das Gedicht ist. wie so viele, unvollendet. Gewiß ein merkwürdiges Zeugnis für die schöpferische, ins Ungeheure sich streckende Daß Frey die letzten dieser Stanzen in einen andern Zusammenhang stellt, kann hier unerörtert bleiben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/573>, abgerufen am 28.07.2024.