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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Die Gedichte Michelangelos

ideal unverstanden und verkannt sah, bis er selbst daran irre wurde, und was
ihm einst die Seele erfüllte, für Schuld und Irrtum, ja für schwere Sünde
erklärte.

Übrigens finden sich schon mitten im ersten Rausch der Cavalieri-Freund-
schaft religiöse Anwandlungen, plötzliche Ausbrüche von Schuldgefühl, An¬
rufungen Christi um Rettung aus dem irdischen Kampfgedränge.

Übersetzt von N, Robert-tornow

Dem Inhalt nach würde man dieses Sonett (XI.VIII) zu den Gedichten
des Greisenalters stellen. Frey glaubt es dem Jahre 1533 zuweisen zu müssen,
er reiht es unter die Cavalieripoesien ein, und jedenfalls hat er recht mit der
Bemerkung: "Jeder Mensch erlebt in den verschiedensten Perioden seines Lebens
und unter dem Einfluß äußerer Verhältnisse wie innerer Erfahrungen Stunden
der Einkehr, in denen das Gefühl der Einsamkeit, der Verlassenheit, des Schuld¬
bewußtseins und der Hilfsbedürftigkeit besonders stark wird und Augen und
Hände zu dem emporrichten läßt, der die erbarmende Liebe ist." Man wird
sich überhaupt bei der Erklärung dieser Sonette gegenwärtig halten müssen,
daß es Bekenntnisse eines Dichters sind, Äußerungen seiner jeweiligen Stimmung,
und bei einem so temperamentvollen Geiste sind auch jähe Stimmungswechsel
nicht ausgeschlossen. Die Hervorhebung der äußern Zeugnisse und Merkmale
für die Entstehungszeit der Gedichte, wie sie von Frey durchgeführt ist, wirkt
als ein wohlthätiges Gegengewicht gegen die Gefahr, die Gedichte in den äußer¬
lichen Rahmen eines logisch konstruirten Entwicklungsprozesses einzuspannen.
Daß sich in Michelangelos Innenleben erkennbare Wandlungen vollziehen und
Perioden sich ablösen, bleibt darum doch bestehen. Ein religiöser Untergrund
ist übrigens durch alle Perioden seines Lebens wahrnehmbar. Es bedürfte
nur besondrer Anlässe, ihn an die Oberflüche zu bringen. Wie Dante und
Petrarca, so gehörte auch die Bibel zu seinen Lieblingsbüchem, und gern las
er in den Schriften Savonarolas, von dessen Reden der Jüngling ergriffen
worden war. Auch das schöne Gedicht auf den Tod des Vaters vom Jahre
1534 (I.VIII) ist religiös gestimmt, wenn auch uoch entfernt von der in spätern
Jahren überhandnehmenden Selbstpeinigung. Es ist eine Folge von hohen
frommen Gedanken, die natürlich aus dem Herzen kommen, fromm ohne kirch¬
lichen Beigeschmack. Unter allen Gedichten zeigt dieses am meisten eine ruhige,
in sich gefaßte Stimmung ohne Übertreibung, ohne sich im Ausdruck zu ver¬
greifen, in den Gedanken zu versteigen.


Die Gedichte Michelangelos

ideal unverstanden und verkannt sah, bis er selbst daran irre wurde, und was
ihm einst die Seele erfüllte, für Schuld und Irrtum, ja für schwere Sünde
erklärte.

Übrigens finden sich schon mitten im ersten Rausch der Cavalieri-Freund-
schaft religiöse Anwandlungen, plötzliche Ausbrüche von Schuldgefühl, An¬
rufungen Christi um Rettung aus dem irdischen Kampfgedränge.

Übersetzt von N, Robert-tornow

Dem Inhalt nach würde man dieses Sonett (XI.VIII) zu den Gedichten
des Greisenalters stellen. Frey glaubt es dem Jahre 1533 zuweisen zu müssen,
er reiht es unter die Cavalieripoesien ein, und jedenfalls hat er recht mit der
Bemerkung: „Jeder Mensch erlebt in den verschiedensten Perioden seines Lebens
und unter dem Einfluß äußerer Verhältnisse wie innerer Erfahrungen Stunden
der Einkehr, in denen das Gefühl der Einsamkeit, der Verlassenheit, des Schuld¬
bewußtseins und der Hilfsbedürftigkeit besonders stark wird und Augen und
Hände zu dem emporrichten läßt, der die erbarmende Liebe ist." Man wird
sich überhaupt bei der Erklärung dieser Sonette gegenwärtig halten müssen,
daß es Bekenntnisse eines Dichters sind, Äußerungen seiner jeweiligen Stimmung,
und bei einem so temperamentvollen Geiste sind auch jähe Stimmungswechsel
nicht ausgeschlossen. Die Hervorhebung der äußern Zeugnisse und Merkmale
für die Entstehungszeit der Gedichte, wie sie von Frey durchgeführt ist, wirkt
als ein wohlthätiges Gegengewicht gegen die Gefahr, die Gedichte in den äußer¬
lichen Rahmen eines logisch konstruirten Entwicklungsprozesses einzuspannen.
Daß sich in Michelangelos Innenleben erkennbare Wandlungen vollziehen und
Perioden sich ablösen, bleibt darum doch bestehen. Ein religiöser Untergrund
ist übrigens durch alle Perioden seines Lebens wahrnehmbar. Es bedürfte
nur besondrer Anlässe, ihn an die Oberflüche zu bringen. Wie Dante und
Petrarca, so gehörte auch die Bibel zu seinen Lieblingsbüchem, und gern las
er in den Schriften Savonarolas, von dessen Reden der Jüngling ergriffen
worden war. Auch das schöne Gedicht auf den Tod des Vaters vom Jahre
1534 (I.VIII) ist religiös gestimmt, wenn auch uoch entfernt von der in spätern
Jahren überhandnehmenden Selbstpeinigung. Es ist eine Folge von hohen
frommen Gedanken, die natürlich aus dem Herzen kommen, fromm ohne kirch¬
lichen Beigeschmack. Unter allen Gedichten zeigt dieses am meisten eine ruhige,
in sich gefaßte Stimmung ohne Übertreibung, ohne sich im Ausdruck zu ver¬
greifen, in den Gedanken zu versteigen.


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[0520] Die Gedichte Michelangelos ideal unverstanden und verkannt sah, bis er selbst daran irre wurde, und was ihm einst die Seele erfüllte, für Schuld und Irrtum, ja für schwere Sünde erklärte. Übrigens finden sich schon mitten im ersten Rausch der Cavalieri-Freund- schaft religiöse Anwandlungen, plötzliche Ausbrüche von Schuldgefühl, An¬ rufungen Christi um Rettung aus dem irdischen Kampfgedränge. Übersetzt von N, Robert-tornow Dem Inhalt nach würde man dieses Sonett (XI.VIII) zu den Gedichten des Greisenalters stellen. Frey glaubt es dem Jahre 1533 zuweisen zu müssen, er reiht es unter die Cavalieripoesien ein, und jedenfalls hat er recht mit der Bemerkung: „Jeder Mensch erlebt in den verschiedensten Perioden seines Lebens und unter dem Einfluß äußerer Verhältnisse wie innerer Erfahrungen Stunden der Einkehr, in denen das Gefühl der Einsamkeit, der Verlassenheit, des Schuld¬ bewußtseins und der Hilfsbedürftigkeit besonders stark wird und Augen und Hände zu dem emporrichten läßt, der die erbarmende Liebe ist." Man wird sich überhaupt bei der Erklärung dieser Sonette gegenwärtig halten müssen, daß es Bekenntnisse eines Dichters sind, Äußerungen seiner jeweiligen Stimmung, und bei einem so temperamentvollen Geiste sind auch jähe Stimmungswechsel nicht ausgeschlossen. Die Hervorhebung der äußern Zeugnisse und Merkmale für die Entstehungszeit der Gedichte, wie sie von Frey durchgeführt ist, wirkt als ein wohlthätiges Gegengewicht gegen die Gefahr, die Gedichte in den äußer¬ lichen Rahmen eines logisch konstruirten Entwicklungsprozesses einzuspannen. Daß sich in Michelangelos Innenleben erkennbare Wandlungen vollziehen und Perioden sich ablösen, bleibt darum doch bestehen. Ein religiöser Untergrund ist übrigens durch alle Perioden seines Lebens wahrnehmbar. Es bedürfte nur besondrer Anlässe, ihn an die Oberflüche zu bringen. Wie Dante und Petrarca, so gehörte auch die Bibel zu seinen Lieblingsbüchem, und gern las er in den Schriften Savonarolas, von dessen Reden der Jüngling ergriffen worden war. Auch das schöne Gedicht auf den Tod des Vaters vom Jahre 1534 (I.VIII) ist religiös gestimmt, wenn auch uoch entfernt von der in spätern Jahren überhandnehmenden Selbstpeinigung. Es ist eine Folge von hohen frommen Gedanken, die natürlich aus dem Herzen kommen, fromm ohne kirch¬ lichen Beigeschmack. Unter allen Gedichten zeigt dieses am meisten eine ruhige, in sich gefaßte Stimmung ohne Übertreibung, ohne sich im Ausdruck zu ver¬ greifen, in den Gedanken zu versteigen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/520>, abgerufen am 28.07.2024.