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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Der technische Lchiliasmus in der neuern Dichtung

allein abhalten (Lord Byron, der Damen, die er liebte, nicht essen sehen konnte,
würde diese Eigenschaft wenigstens bei den weiblichen Ruinen sehr wohl ge¬
fallen haben), daß sie metallische Gewebe tragen, daß sie mehr schweben als
gehen, daß sie nur halblaut sprechen, daß sie sich grüßen, indem sie sich die
Hände auf die Schultern legen, sind doch im Grunde sehr relative Fortschritte
der Numenheit über die Menschheit hinaus. Jedoch ist das auch nicht die
Hauptsache. Die Hauptsache ist die erhabne Vernünftigkeit der Marsbewohner,
mit der sie vor allen Dinge über die kleinlichen armseligen Vorurteile von
Volk, Vaterland und ähnlichen Dingen hinaus sind. "Auf dem Kulturstand-
Punkt der Menschheit erschienen die Einrichtungen des Mars als Utopien, und
mit Recht, denn sie setzten eben Staatsbürger voraus, die in einer Hundert-
tausendjährigen Entwicklung sich sittlich geschult hatten und theoretisch an der
rechten Stelle alle die Mittel gleichzeitig zu benutzen wußten, deren Gebrauch
im Laufe der soziale" Lebensformen nach irgend einer Seite erprobt worden
war." Das sind dunkle Phrasen, zugleich vielverheißend und schreckendrohend,
wie die Orakel Robespierres und Se. Justs von der Tribüne des französischen
Konvents. Bündiger spricht sich Herr Friedrich Ell, Sohn eines Ruine und
eines armen Menschenkinds, dahin aus: "Die einzelnen Volker und Staaten
sind Mittel im gegenseitigen Wettbewerb, die Idee der Menschheit zu erfüllen.
Wenn nun einmal der Staat, dem ich angehöre, durch seinen Erfolg nicht
das zweckentsprechende Mittel wäre in Rücksicht auf die Idee der Menschheit,
so wäre es unmoralisch, wenn ich als sreie Persönlichkeit mich nur darum für
ihn entschiede, weil ich ihm viel verdanke. Die ethische Forderung ist eine
andre. Aber bei den Menschen wird immer nach dem unmittelbaren Gefühl
entschieden, und das nennt man dann Patriotismus."

I^tot Mguis in borbii -- hier tranche die Schlange durchs Kraut, wie
der Berliner Gymnasiast übersetzt hat. Die erhabnen Ruine sind nichts als
Typen der internationalen Friedensapostel, nach dem Vorbild der Frau von
Snttner, Vertreter des doktrinären Verstandeshochmuts, der auf alle Regungen
des Herzens mit lächelnder Geringschätzung herabsieht, Übersetzungen und zwar
schlechte Übersetzungen von Originalen, die wir nur zu wohl kennen. "Solche
Dinge wie Zweikampf, Beleidigungsklagen kommen den Ruinen so vor, wie
uns die Menschenfresserei oder die Blutrache, sie meinen, das müsse man
einfach mit Gewalt ausrotten." Durch den ganzen Roman geht die kalte
Überhebung einer Gruppe von Vernunstfanatikern, die den Beweis schuldig
bleiben, daß ihre Anschauung die leidende Menschheit auch nur im kleinsten
Punkte gesünder und glücklicher machen könnte. Daß die Leute im Zeitalter
der "Numenheit" wegen Klavierspielens auf ungedämpften Instrumenten und
wegen dauernder Versäumnis der Fortbildungsschule zur Überweisung ans
Psychologische Laboratorium (d. h. ans Irrenhaus) verurteilt werden, mag als
guter Witz angehen; daß die soldatenhassende Phantasie, die den Helltraum er-


Der technische Lchiliasmus in der neuern Dichtung

allein abhalten (Lord Byron, der Damen, die er liebte, nicht essen sehen konnte,
würde diese Eigenschaft wenigstens bei den weiblichen Ruinen sehr wohl ge¬
fallen haben), daß sie metallische Gewebe tragen, daß sie mehr schweben als
gehen, daß sie nur halblaut sprechen, daß sie sich grüßen, indem sie sich die
Hände auf die Schultern legen, sind doch im Grunde sehr relative Fortschritte
der Numenheit über die Menschheit hinaus. Jedoch ist das auch nicht die
Hauptsache. Die Hauptsache ist die erhabne Vernünftigkeit der Marsbewohner,
mit der sie vor allen Dinge über die kleinlichen armseligen Vorurteile von
Volk, Vaterland und ähnlichen Dingen hinaus sind. „Auf dem Kulturstand-
Punkt der Menschheit erschienen die Einrichtungen des Mars als Utopien, und
mit Recht, denn sie setzten eben Staatsbürger voraus, die in einer Hundert-
tausendjährigen Entwicklung sich sittlich geschult hatten und theoretisch an der
rechten Stelle alle die Mittel gleichzeitig zu benutzen wußten, deren Gebrauch
im Laufe der soziale» Lebensformen nach irgend einer Seite erprobt worden
war." Das sind dunkle Phrasen, zugleich vielverheißend und schreckendrohend,
wie die Orakel Robespierres und Se. Justs von der Tribüne des französischen
Konvents. Bündiger spricht sich Herr Friedrich Ell, Sohn eines Ruine und
eines armen Menschenkinds, dahin aus: „Die einzelnen Volker und Staaten
sind Mittel im gegenseitigen Wettbewerb, die Idee der Menschheit zu erfüllen.
Wenn nun einmal der Staat, dem ich angehöre, durch seinen Erfolg nicht
das zweckentsprechende Mittel wäre in Rücksicht auf die Idee der Menschheit,
so wäre es unmoralisch, wenn ich als sreie Persönlichkeit mich nur darum für
ihn entschiede, weil ich ihm viel verdanke. Die ethische Forderung ist eine
andre. Aber bei den Menschen wird immer nach dem unmittelbaren Gefühl
entschieden, und das nennt man dann Patriotismus."

I^tot Mguis in borbii — hier tranche die Schlange durchs Kraut, wie
der Berliner Gymnasiast übersetzt hat. Die erhabnen Ruine sind nichts als
Typen der internationalen Friedensapostel, nach dem Vorbild der Frau von
Snttner, Vertreter des doktrinären Verstandeshochmuts, der auf alle Regungen
des Herzens mit lächelnder Geringschätzung herabsieht, Übersetzungen und zwar
schlechte Übersetzungen von Originalen, die wir nur zu wohl kennen. „Solche
Dinge wie Zweikampf, Beleidigungsklagen kommen den Ruinen so vor, wie
uns die Menschenfresserei oder die Blutrache, sie meinen, das müsse man
einfach mit Gewalt ausrotten." Durch den ganzen Roman geht die kalte
Überhebung einer Gruppe von Vernunstfanatikern, die den Beweis schuldig
bleiben, daß ihre Anschauung die leidende Menschheit auch nur im kleinsten
Punkte gesünder und glücklicher machen könnte. Daß die Leute im Zeitalter
der „Numenheit" wegen Klavierspielens auf ungedämpften Instrumenten und
wegen dauernder Versäumnis der Fortbildungsschule zur Überweisung ans
Psychologische Laboratorium (d. h. ans Irrenhaus) verurteilt werden, mag als
guter Witz angehen; daß die soldatenhassende Phantasie, die den Helltraum er-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/515>, abgerufen am 28.07.2024.