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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Der technische Lhiliasmus in der neuern Dichtung

füllt, in der Vorstellung eines Kampfes schwelgt, bei dem die deutschen Fürsten
und ihre Generale samt ihren tapfern Reitern durch ein über sie hinziehendes
elektrisches Feld, einen Magneten von kolossaler Stärke, widerstandslos ihrer
Waffen und selbst der Hufe ihrer Pferde beraubt und in lächerlicher Weise
Gefangne der Martier werden, offenbart freilich keine Prophetengabe für die
Zukunft, aber die geheimsten Wünsche der Kreise, denen dieser Roman ent¬
stammt.

Für die Poesie ist dieser technische Chiliasmns durchaus unfruchtbar. Es
ist nicht der leiseste Versuch gemacht, einen Zusammenhang und eine Wechsel¬
wirkung zwischen der technischen und der sittlichen Kultur der Martier nach¬
zuweisen. Es ist in ihnen nichts vorhanden, was uns mit der Sehnsucht er¬
füllen könnte, ihnen nachzueifern. Daß die Bewohner des Mars sich der
menschlichen Organisation insoweit annähern, als sie Sterbliche sind, wie wir,
und freien und sich freien lassen, ist das einzige, was ein Gefühl von Ver¬
wandtschaft in uns erweckt. Sonst ist nichts in ihrem Thun und Treiben,
das die Erhabenheit, von der unablässig die Rede ist, auch nur andeutete.
Wir sehen die Ruine mit allen technischen Erfindungen ausgerüstet, die Menschen
zu allem zu zwingen, was den Kultoren vom Mars gefüllig ist. Daß sie von
dieser Überlegenheit nur sittlichen Gebrauch machen werden, wird unablässig
versichert, zu sehen bekommen wir nichts als brutale Willkür, wie sie jedes
Nevolutionskomitee und jede Anarchistengesellschaft, die zufällig in den Besitz
neuer gewaltiger Bewegungs- und Sprengmittel käme, überhaupt jede rohe
Macht entwickeln könnte und würde. Bei der Darstellung der Umbildung der
Charaktere, der veränderten Antriebe des Blutes und des Hirns, infolge einer
wirklich höhern Kultur, hätte die Darstellung einsetzen müssen. Davon er¬
fahren wir so gut wie nichts, und darnach zu fragen nimmt sich der technische
Chiliasmus nicht die Mühe. Er wähnt, daß die Entwicklung des Maschinen¬
wesens der sittlichen und ästhetischen Kultur parallel liefe. Die Herren Ell
und Hil, wo sie in Berlin beisammen sitzen und über die eingetretnen Ver¬
änderungen ihrer Martier, die Verrohung, die Geringschätzung der ästhetischen
Form, die Überschätzung der eignen Bedeutung und die Selbstherrlichkeit weh¬
klagen, nehmen sich ziemlich wie die Herren Deputirten von der Gironde aus,
die Zeter schrieen, als die Pariser Sektionen das revolutionäre Evangelium
anders ausbeuteten, als sie selbst. Die Voraussetzung, daß die technische Ver¬
vollkommnung auch eine seelische Erhebung bewirke, ist nur in einzelnen Fällen
richtig, ebenso oft tritt das Gegenteil ein. Und im Gebiet der Dichtung wird
auf dem Wege solcher Phantastik weder ein neues Ideal gewonnen, noch das
geringste für die Ergründung und poetische Wiedergabe der Menschennatur
geleistet.

Man wende nicht ein, daß hier an sich unbedeutenden Versuchen zu viel
Gewicht beigelegt werde. Natürlich ist der nächste Zweck gewisser phantastischer


Der technische Lhiliasmus in der neuern Dichtung

füllt, in der Vorstellung eines Kampfes schwelgt, bei dem die deutschen Fürsten
und ihre Generale samt ihren tapfern Reitern durch ein über sie hinziehendes
elektrisches Feld, einen Magneten von kolossaler Stärke, widerstandslos ihrer
Waffen und selbst der Hufe ihrer Pferde beraubt und in lächerlicher Weise
Gefangne der Martier werden, offenbart freilich keine Prophetengabe für die
Zukunft, aber die geheimsten Wünsche der Kreise, denen dieser Roman ent¬
stammt.

Für die Poesie ist dieser technische Chiliasmns durchaus unfruchtbar. Es
ist nicht der leiseste Versuch gemacht, einen Zusammenhang und eine Wechsel¬
wirkung zwischen der technischen und der sittlichen Kultur der Martier nach¬
zuweisen. Es ist in ihnen nichts vorhanden, was uns mit der Sehnsucht er¬
füllen könnte, ihnen nachzueifern. Daß die Bewohner des Mars sich der
menschlichen Organisation insoweit annähern, als sie Sterbliche sind, wie wir,
und freien und sich freien lassen, ist das einzige, was ein Gefühl von Ver¬
wandtschaft in uns erweckt. Sonst ist nichts in ihrem Thun und Treiben,
das die Erhabenheit, von der unablässig die Rede ist, auch nur andeutete.
Wir sehen die Ruine mit allen technischen Erfindungen ausgerüstet, die Menschen
zu allem zu zwingen, was den Kultoren vom Mars gefüllig ist. Daß sie von
dieser Überlegenheit nur sittlichen Gebrauch machen werden, wird unablässig
versichert, zu sehen bekommen wir nichts als brutale Willkür, wie sie jedes
Nevolutionskomitee und jede Anarchistengesellschaft, die zufällig in den Besitz
neuer gewaltiger Bewegungs- und Sprengmittel käme, überhaupt jede rohe
Macht entwickeln könnte und würde. Bei der Darstellung der Umbildung der
Charaktere, der veränderten Antriebe des Blutes und des Hirns, infolge einer
wirklich höhern Kultur, hätte die Darstellung einsetzen müssen. Davon er¬
fahren wir so gut wie nichts, und darnach zu fragen nimmt sich der technische
Chiliasmus nicht die Mühe. Er wähnt, daß die Entwicklung des Maschinen¬
wesens der sittlichen und ästhetischen Kultur parallel liefe. Die Herren Ell
und Hil, wo sie in Berlin beisammen sitzen und über die eingetretnen Ver¬
änderungen ihrer Martier, die Verrohung, die Geringschätzung der ästhetischen
Form, die Überschätzung der eignen Bedeutung und die Selbstherrlichkeit weh¬
klagen, nehmen sich ziemlich wie die Herren Deputirten von der Gironde aus,
die Zeter schrieen, als die Pariser Sektionen das revolutionäre Evangelium
anders ausbeuteten, als sie selbst. Die Voraussetzung, daß die technische Ver¬
vollkommnung auch eine seelische Erhebung bewirke, ist nur in einzelnen Fällen
richtig, ebenso oft tritt das Gegenteil ein. Und im Gebiet der Dichtung wird
auf dem Wege solcher Phantastik weder ein neues Ideal gewonnen, noch das
geringste für die Ergründung und poetische Wiedergabe der Menschennatur
geleistet.

Man wende nicht ein, daß hier an sich unbedeutenden Versuchen zu viel
Gewicht beigelegt werde. Natürlich ist der nächste Zweck gewisser phantastischer


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[0516] Der technische Lhiliasmus in der neuern Dichtung füllt, in der Vorstellung eines Kampfes schwelgt, bei dem die deutschen Fürsten und ihre Generale samt ihren tapfern Reitern durch ein über sie hinziehendes elektrisches Feld, einen Magneten von kolossaler Stärke, widerstandslos ihrer Waffen und selbst der Hufe ihrer Pferde beraubt und in lächerlicher Weise Gefangne der Martier werden, offenbart freilich keine Prophetengabe für die Zukunft, aber die geheimsten Wünsche der Kreise, denen dieser Roman ent¬ stammt. Für die Poesie ist dieser technische Chiliasmns durchaus unfruchtbar. Es ist nicht der leiseste Versuch gemacht, einen Zusammenhang und eine Wechsel¬ wirkung zwischen der technischen und der sittlichen Kultur der Martier nach¬ zuweisen. Es ist in ihnen nichts vorhanden, was uns mit der Sehnsucht er¬ füllen könnte, ihnen nachzueifern. Daß die Bewohner des Mars sich der menschlichen Organisation insoweit annähern, als sie Sterbliche sind, wie wir, und freien und sich freien lassen, ist das einzige, was ein Gefühl von Ver¬ wandtschaft in uns erweckt. Sonst ist nichts in ihrem Thun und Treiben, das die Erhabenheit, von der unablässig die Rede ist, auch nur andeutete. Wir sehen die Ruine mit allen technischen Erfindungen ausgerüstet, die Menschen zu allem zu zwingen, was den Kultoren vom Mars gefüllig ist. Daß sie von dieser Überlegenheit nur sittlichen Gebrauch machen werden, wird unablässig versichert, zu sehen bekommen wir nichts als brutale Willkür, wie sie jedes Nevolutionskomitee und jede Anarchistengesellschaft, die zufällig in den Besitz neuer gewaltiger Bewegungs- und Sprengmittel käme, überhaupt jede rohe Macht entwickeln könnte und würde. Bei der Darstellung der Umbildung der Charaktere, der veränderten Antriebe des Blutes und des Hirns, infolge einer wirklich höhern Kultur, hätte die Darstellung einsetzen müssen. Davon er¬ fahren wir so gut wie nichts, und darnach zu fragen nimmt sich der technische Chiliasmus nicht die Mühe. Er wähnt, daß die Entwicklung des Maschinen¬ wesens der sittlichen und ästhetischen Kultur parallel liefe. Die Herren Ell und Hil, wo sie in Berlin beisammen sitzen und über die eingetretnen Ver¬ änderungen ihrer Martier, die Verrohung, die Geringschätzung der ästhetischen Form, die Überschätzung der eignen Bedeutung und die Selbstherrlichkeit weh¬ klagen, nehmen sich ziemlich wie die Herren Deputirten von der Gironde aus, die Zeter schrieen, als die Pariser Sektionen das revolutionäre Evangelium anders ausbeuteten, als sie selbst. Die Voraussetzung, daß die technische Ver¬ vollkommnung auch eine seelische Erhebung bewirke, ist nur in einzelnen Fällen richtig, ebenso oft tritt das Gegenteil ein. Und im Gebiet der Dichtung wird auf dem Wege solcher Phantastik weder ein neues Ideal gewonnen, noch das geringste für die Ergründung und poetische Wiedergabe der Menschennatur geleistet. Man wende nicht ein, daß hier an sich unbedeutenden Versuchen zu viel Gewicht beigelegt werde. Natürlich ist der nächste Zweck gewisser phantastischer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/516>, abgerufen am 01.09.2024.