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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Der technische Schiliasmus in der neuern Dichtung

schichten Sindbads des Seefahrers weit hinter sich läßt. Doch im Abenteuer
der Erfindung soll weder die Stärke noch der Zweck des Romans liegen, und
wenn wir darüber im Zweifel sein könnten, so belehren uns ja umfangreiche
Kritiken des Laßwitzschen Buchs über dessen symbolische Bedeutung. Wie
stark auch der technische Chiliasmus, der Schwarmglaube an die unbegrenzte
Entwicklungsfähigkeit der Technik sein möge -- und er ist oder scheint
wenigstens schrankenlos --, so kann selbst dieser Glaube in der Überwindung
des Weltraums und der unermeßlichen technischen und ethischen Überlegenheit
der Ruine über die Menschen nur Symbole für Abstände innerhalb unsrer
kleinen Narrenwelt sehen. "Wir wissen von keiner Kunst, als in Bezug auf
den Menschen, wir kennen keine Kunst als die ein Abdruck dieses Bezugs ist!"
Das gilt auch von allem, was uns von den Martiern erzählt wird. "Die
Erde war ein sehr viel jüngerer Planet und in ihrer ganzen Entwicklung auf
einer Stufe, wie sie der Mars schon vor Millionen Jahren durchlaufen hatte.
Da sagten sich die Marsbewohner selbstverständlich, daß die Bella, wie sie die
hypothetischen Bewohner der Erde nannten, jedenfalls auf einem viel niedrigern
Standpunkte der Kultur stünden als sie, die Ruine, ja wer weiß, ob sie sich
überhaupt schon bis zur Höhe der "Numenheit," zur Vernunftidee der Martier,
erhoben haben- Um jene Zeit, als man auf der Erde von einem Jahrhundert
der Naturwissenschaft zu sprechen anfing, blickten die Martier längst nicht nur
auf das Zeitalter des Dampfes, sondern auch auf das Zeitalter der Elektrizität
wie auf ein altes Kulturerbe zurück."

Welch erstaunliche Rolle bei ihnen die Aeronautik spielt, haben wir hin¬
reichend gesehen. Sie vertreten also den technischen Übermenschen der kom¬
menden Jahrhunderte in ausgiebigster Weise, und die großen märkischen
Ingenieure des Herrn Laßwitz verhalten sich selbst zu denen, die uns soeben
Herr Professor A. Niedler in der interessanten Schrift "Unsre Hochschulen
und die Anforderungen des zwanzigsten Jahrhunderts" prophezeit, wie der
farnesische Herkules zu einer spannenlagen Gipsstatuette. Zwar haben offen¬
bar die Ruine in den "Hunderttausenden" von Jahren, die sie vor uns voraus
haben, nicht bloß viel gewonnen, sondern auch viel eingebüßt, ihre häßliche,
aus einsilbigen Wurzelwörtern bestehende Sprache, die an Volapük und
Pidgeon-Englisch erinnert, kann nur ein kläglicher Nest früherer Herrlichkeit
fein, oder das edelste geistige Bölkervermögen, das sprachschöpferische, ist bei
den Marsbewohnern völlig unentwickelt geblieben. Aber an ihre Überlegenheit
in jedem Betracht glauben, heißt einfach an die Gottähnlichkeit der Leute
glauben, für die die idealen Ruine die Kolossalspiegel vorstellen. Wir lassen
die kleinen Eigentümlichkeiten dieser Idealgestalten beiseite. Daß sie sich nur
von Getränken nähren, sich Eiweiß und Fett nur in flüssiger Gestalt zu Ge¬
müte sichren und, im Gegensatz zu den homerischen Helden wie den Helden
der Gegenwart, die man immer essen sieht, ihre Mahlzeiten schamhaft für sich


Der technische Schiliasmus in der neuern Dichtung

schichten Sindbads des Seefahrers weit hinter sich läßt. Doch im Abenteuer
der Erfindung soll weder die Stärke noch der Zweck des Romans liegen, und
wenn wir darüber im Zweifel sein könnten, so belehren uns ja umfangreiche
Kritiken des Laßwitzschen Buchs über dessen symbolische Bedeutung. Wie
stark auch der technische Chiliasmus, der Schwarmglaube an die unbegrenzte
Entwicklungsfähigkeit der Technik sein möge — und er ist oder scheint
wenigstens schrankenlos —, so kann selbst dieser Glaube in der Überwindung
des Weltraums und der unermeßlichen technischen und ethischen Überlegenheit
der Ruine über die Menschen nur Symbole für Abstände innerhalb unsrer
kleinen Narrenwelt sehen. „Wir wissen von keiner Kunst, als in Bezug auf
den Menschen, wir kennen keine Kunst als die ein Abdruck dieses Bezugs ist!"
Das gilt auch von allem, was uns von den Martiern erzählt wird. „Die
Erde war ein sehr viel jüngerer Planet und in ihrer ganzen Entwicklung auf
einer Stufe, wie sie der Mars schon vor Millionen Jahren durchlaufen hatte.
Da sagten sich die Marsbewohner selbstverständlich, daß die Bella, wie sie die
hypothetischen Bewohner der Erde nannten, jedenfalls auf einem viel niedrigern
Standpunkte der Kultur stünden als sie, die Ruine, ja wer weiß, ob sie sich
überhaupt schon bis zur Höhe der »Numenheit,« zur Vernunftidee der Martier,
erhoben haben- Um jene Zeit, als man auf der Erde von einem Jahrhundert
der Naturwissenschaft zu sprechen anfing, blickten die Martier längst nicht nur
auf das Zeitalter des Dampfes, sondern auch auf das Zeitalter der Elektrizität
wie auf ein altes Kulturerbe zurück."

Welch erstaunliche Rolle bei ihnen die Aeronautik spielt, haben wir hin¬
reichend gesehen. Sie vertreten also den technischen Übermenschen der kom¬
menden Jahrhunderte in ausgiebigster Weise, und die großen märkischen
Ingenieure des Herrn Laßwitz verhalten sich selbst zu denen, die uns soeben
Herr Professor A. Niedler in der interessanten Schrift „Unsre Hochschulen
und die Anforderungen des zwanzigsten Jahrhunderts" prophezeit, wie der
farnesische Herkules zu einer spannenlagen Gipsstatuette. Zwar haben offen¬
bar die Ruine in den „Hunderttausenden" von Jahren, die sie vor uns voraus
haben, nicht bloß viel gewonnen, sondern auch viel eingebüßt, ihre häßliche,
aus einsilbigen Wurzelwörtern bestehende Sprache, die an Volapük und
Pidgeon-Englisch erinnert, kann nur ein kläglicher Nest früherer Herrlichkeit
fein, oder das edelste geistige Bölkervermögen, das sprachschöpferische, ist bei
den Marsbewohnern völlig unentwickelt geblieben. Aber an ihre Überlegenheit
in jedem Betracht glauben, heißt einfach an die Gottähnlichkeit der Leute
glauben, für die die idealen Ruine die Kolossalspiegel vorstellen. Wir lassen
die kleinen Eigentümlichkeiten dieser Idealgestalten beiseite. Daß sie sich nur
von Getränken nähren, sich Eiweiß und Fett nur in flüssiger Gestalt zu Ge¬
müte sichren und, im Gegensatz zu den homerischen Helden wie den Helden
der Gegenwart, die man immer essen sieht, ihre Mahlzeiten schamhaft für sich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/514>, abgerufen am 28.07.2024.