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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Mittelstandspolitik in Österreich

reichischen Gewerbeinspektoren besonders gesteigert durch die Saisonarbeit, durch
die Lehrlingszüchterei und dadurch, daß man statt der gelernten Arbeiter
immer mehr ungelernte einstellt. Im Sommer hilft den Arbeitslosen die Ge¬
legenheitsarbeit in Gastwirtschaften und auf Bauten, im Winter das Schnee¬
schippen einigermaßen durch. Daß die Sommerkellner zum großen Teil Maurer,
Maler und sonstige Handwerker sind, setzt weiter nicht in Erstaunen, denn das
Bierseidel vorsetzen braucht nicht gelernt zu werden. Dagegen wundert man
sich einigermaßen, Seite 284 zu lesen, daß die meisten Poliere keine Maurer,
sondern gelernte Schuster. Fleischer, Buchbinder usw. sind, daß der Monteur
gewöhnlich kein gelernter Schlosser oder Spengler, sondern ein Maurer, Tischler
oder Weber ist, und man fragt sich nun erst recht, was denn eigentlich "die
Erziehung des Lehrlings" für einen Sinn hat.

Das schönste ist nun, daß man ob dieses Schicksals der Lehrlinge und
Gesellen die Meister nicht einmal verurteilen kann; sie sind der Mehrzahl nach
selbst bemitleidenswerte Geschöpfe, führen selbst ein elendes Leben, und wenn
sie ihre Leute nicht in der beschriebnen Weise ausbeuteten, könnten sie über¬
haupt nicht leben, wenigstens nicht von ihrem Handwerk. Weder der Be¬
fähigungsnachweis hat ihnen geholfen, noch die Zwangsgenosfenschaft. Jener
hat zunächst die Abgrenzung der Berufe notwendig gemacht, weil die Frage
zu beantworten war, auf welche Arbeiten jeder durch seinen Befähigungsnach¬
weis das Recht erworben habe. Natürlich hat dnrch diese Abgrenzung das
Handwerk nicht etwa eines der an die Großindustrie oder an den Handel Ver¬
lornen Erwerbsgebiete wiedergewonnen, sondern es ist dadurch nur der be¬
rüchtigte "Froschmäusekrieg" entzündet worden, in dem die Handwerker mit
einander um den Bissen Brot raufen. In einem Falle hätte sich das Pu¬
blikum einmischen sollen. Die Bäcker haben den Konditoren die Berechtigung
auf alle Waren entrissen, bei denen Mehl der Hauptbestandteil und Zucker nur
Zuthat ist, sodaß man die Krapfen, Gugelhupfe und Kuchen jetzt nur noch bei
den Bäckern kriegt. Dreht sich dem Wissenden bei jedem Kupsel, das er ißt,
der Magen um, so konnte er früher wenigstens seinen Geburtstagskuchen und
feine Faschingskrapfen mit Appetit verzehren, da ja auch ohne Einblick in die
Werkstätten schon das Aussehen der Konditorjungen dafür bürgt, daß es dort
reinlicher zugeht als bei den Bäckern. Jetzt ists auch damit vorbei, wenn sich
nicht die Hausfrau des Mannes erbarmt und ihm selbst seinen Geburtstags¬
kuchen bäckt. Aber das heutige Publikum ist eben stumpfsinnig und achtet auf
dergleichen nicht. Wir könnens ihm nicht übel nehmen, dem armen Publikus;
wenn er auf all die brennenden Fragen hört, die ihm ins Ohr geschrieen
werden, so wird ihm, wie dem Bcisilio in der großen Drehszene: "Ist mir
doch, als wär im Kopfe eine große Feuerschmiede usw."; darum will er lieber
gar nichts mehr hören und sehen und radelt, kilometerfressend, nichts hörend,
nichts sehend und nichts denkend durch die Welt. Die besten Geschäfte haben


Grenzboten III 1898 63
Mittelstandspolitik in Österreich

reichischen Gewerbeinspektoren besonders gesteigert durch die Saisonarbeit, durch
die Lehrlingszüchterei und dadurch, daß man statt der gelernten Arbeiter
immer mehr ungelernte einstellt. Im Sommer hilft den Arbeitslosen die Ge¬
legenheitsarbeit in Gastwirtschaften und auf Bauten, im Winter das Schnee¬
schippen einigermaßen durch. Daß die Sommerkellner zum großen Teil Maurer,
Maler und sonstige Handwerker sind, setzt weiter nicht in Erstaunen, denn das
Bierseidel vorsetzen braucht nicht gelernt zu werden. Dagegen wundert man
sich einigermaßen, Seite 284 zu lesen, daß die meisten Poliere keine Maurer,
sondern gelernte Schuster. Fleischer, Buchbinder usw. sind, daß der Monteur
gewöhnlich kein gelernter Schlosser oder Spengler, sondern ein Maurer, Tischler
oder Weber ist, und man fragt sich nun erst recht, was denn eigentlich „die
Erziehung des Lehrlings" für einen Sinn hat.

Das schönste ist nun, daß man ob dieses Schicksals der Lehrlinge und
Gesellen die Meister nicht einmal verurteilen kann; sie sind der Mehrzahl nach
selbst bemitleidenswerte Geschöpfe, führen selbst ein elendes Leben, und wenn
sie ihre Leute nicht in der beschriebnen Weise ausbeuteten, könnten sie über¬
haupt nicht leben, wenigstens nicht von ihrem Handwerk. Weder der Be¬
fähigungsnachweis hat ihnen geholfen, noch die Zwangsgenosfenschaft. Jener
hat zunächst die Abgrenzung der Berufe notwendig gemacht, weil die Frage
zu beantworten war, auf welche Arbeiten jeder durch seinen Befähigungsnach¬
weis das Recht erworben habe. Natürlich hat dnrch diese Abgrenzung das
Handwerk nicht etwa eines der an die Großindustrie oder an den Handel Ver¬
lornen Erwerbsgebiete wiedergewonnen, sondern es ist dadurch nur der be¬
rüchtigte „Froschmäusekrieg" entzündet worden, in dem die Handwerker mit
einander um den Bissen Brot raufen. In einem Falle hätte sich das Pu¬
blikum einmischen sollen. Die Bäcker haben den Konditoren die Berechtigung
auf alle Waren entrissen, bei denen Mehl der Hauptbestandteil und Zucker nur
Zuthat ist, sodaß man die Krapfen, Gugelhupfe und Kuchen jetzt nur noch bei
den Bäckern kriegt. Dreht sich dem Wissenden bei jedem Kupsel, das er ißt,
der Magen um, so konnte er früher wenigstens seinen Geburtstagskuchen und
feine Faschingskrapfen mit Appetit verzehren, da ja auch ohne Einblick in die
Werkstätten schon das Aussehen der Konditorjungen dafür bürgt, daß es dort
reinlicher zugeht als bei den Bäckern. Jetzt ists auch damit vorbei, wenn sich
nicht die Hausfrau des Mannes erbarmt und ihm selbst seinen Geburtstags¬
kuchen bäckt. Aber das heutige Publikum ist eben stumpfsinnig und achtet auf
dergleichen nicht. Wir könnens ihm nicht übel nehmen, dem armen Publikus;
wenn er auf all die brennenden Fragen hört, die ihm ins Ohr geschrieen
werden, so wird ihm, wie dem Bcisilio in der großen Drehszene: „Ist mir
doch, als wär im Kopfe eine große Feuerschmiede usw."; darum will er lieber
gar nichts mehr hören und sehen und radelt, kilometerfressend, nichts hörend,
nichts sehend und nichts denkend durch die Welt. Die besten Geschäfte haben


Grenzboten III 1898 63
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[0505] Mittelstandspolitik in Österreich reichischen Gewerbeinspektoren besonders gesteigert durch die Saisonarbeit, durch die Lehrlingszüchterei und dadurch, daß man statt der gelernten Arbeiter immer mehr ungelernte einstellt. Im Sommer hilft den Arbeitslosen die Ge¬ legenheitsarbeit in Gastwirtschaften und auf Bauten, im Winter das Schnee¬ schippen einigermaßen durch. Daß die Sommerkellner zum großen Teil Maurer, Maler und sonstige Handwerker sind, setzt weiter nicht in Erstaunen, denn das Bierseidel vorsetzen braucht nicht gelernt zu werden. Dagegen wundert man sich einigermaßen, Seite 284 zu lesen, daß die meisten Poliere keine Maurer, sondern gelernte Schuster. Fleischer, Buchbinder usw. sind, daß der Monteur gewöhnlich kein gelernter Schlosser oder Spengler, sondern ein Maurer, Tischler oder Weber ist, und man fragt sich nun erst recht, was denn eigentlich „die Erziehung des Lehrlings" für einen Sinn hat. Das schönste ist nun, daß man ob dieses Schicksals der Lehrlinge und Gesellen die Meister nicht einmal verurteilen kann; sie sind der Mehrzahl nach selbst bemitleidenswerte Geschöpfe, führen selbst ein elendes Leben, und wenn sie ihre Leute nicht in der beschriebnen Weise ausbeuteten, könnten sie über¬ haupt nicht leben, wenigstens nicht von ihrem Handwerk. Weder der Be¬ fähigungsnachweis hat ihnen geholfen, noch die Zwangsgenosfenschaft. Jener hat zunächst die Abgrenzung der Berufe notwendig gemacht, weil die Frage zu beantworten war, auf welche Arbeiten jeder durch seinen Befähigungsnach¬ weis das Recht erworben habe. Natürlich hat dnrch diese Abgrenzung das Handwerk nicht etwa eines der an die Großindustrie oder an den Handel Ver¬ lornen Erwerbsgebiete wiedergewonnen, sondern es ist dadurch nur der be¬ rüchtigte „Froschmäusekrieg" entzündet worden, in dem die Handwerker mit einander um den Bissen Brot raufen. In einem Falle hätte sich das Pu¬ blikum einmischen sollen. Die Bäcker haben den Konditoren die Berechtigung auf alle Waren entrissen, bei denen Mehl der Hauptbestandteil und Zucker nur Zuthat ist, sodaß man die Krapfen, Gugelhupfe und Kuchen jetzt nur noch bei den Bäckern kriegt. Dreht sich dem Wissenden bei jedem Kupsel, das er ißt, der Magen um, so konnte er früher wenigstens seinen Geburtstagskuchen und feine Faschingskrapfen mit Appetit verzehren, da ja auch ohne Einblick in die Werkstätten schon das Aussehen der Konditorjungen dafür bürgt, daß es dort reinlicher zugeht als bei den Bäckern. Jetzt ists auch damit vorbei, wenn sich nicht die Hausfrau des Mannes erbarmt und ihm selbst seinen Geburtstags¬ kuchen bäckt. Aber das heutige Publikum ist eben stumpfsinnig und achtet auf dergleichen nicht. Wir könnens ihm nicht übel nehmen, dem armen Publikus; wenn er auf all die brennenden Fragen hört, die ihm ins Ohr geschrieen werden, so wird ihm, wie dem Bcisilio in der großen Drehszene: „Ist mir doch, als wär im Kopfe eine große Feuerschmiede usw."; darum will er lieber gar nichts mehr hören und sehen und radelt, kilometerfressend, nichts hörend, nichts sehend und nichts denkend durch die Welt. Die besten Geschäfte haben Grenzboten III 1898 63

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/505>, abgerufen am 01.09.2024.