Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.Mittelstandspolitik in Österreich die sich selbständig machen wollen, in den Kursus einschreiben, um noch im Die Gesellen sind wenigstens unabhängiger vom Meister als die Lehrlinge Mittelstandspolitik in Österreich die sich selbständig machen wollen, in den Kursus einschreiben, um noch im Die Gesellen sind wenigstens unabhängiger vom Meister als die Lehrlinge <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0504" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/228806"/> <fw type="header" place="top"> Mittelstandspolitik in Österreich</fw><lb/> <p xml:id="ID_1724" prev="#ID_1723"> die sich selbständig machen wollen, in den Kursus einschreiben, um noch im<lb/> letzten Momente Kenntnisse und Fertigkeiten zu erlangen, die sie sich früher<lb/> nicht erwerben konnten. Nur dem eisernen Fleiß und der unermüdlichen Aus¬<lb/> dauer dieser Hospitanten ist es zu danken, wenn sie mit ihren dürftigen Vor¬<lb/> kenntnissen doch günstige Resultate erzielen. Sie arbeiten vom frühen Morgen<lb/> bis zum späten Abend und gönnen sich oft kaum die Zeit von zehn Minuten<lb/> zur Einnahme ihres mitgebrachten bescheidnen Mittagsmahles; manche müssen<lb/> (im strengen Winter) einen Weg von anderthalb Stunden zur Schule und<lb/> zurück machen; die meisten von ihnen sind gezwungen, die durch harte Arbeit<lb/> im Sommer ersparten wenigen Gulden für den Unterricht aufzuwenden." Die<lb/> sogenannte Lehrzeit wird oft unter allerlei Vorwänden willkürlich verlängert.<lb/> Kann der Meister nicht mehr umhin, den Jungen für frei zu erklären, und<lb/> müßte er ihm, wenn er ihn noch länger behielte, Lohn zahlen, so setzt er ihn<lb/> sofort aufs Pflaster. Die Jungen sind, abgesehen von dem Schutze, den der<lb/> Gewerbeinspektor zu gewähren wenigstens den guten Willen hat, dem Meister<lb/> schutzlos preisgegeben, weil sie meistens Söhne von Eltern sind, die sich selbst<lb/> nicht zu helfen wissen, geschweige denn ihren Kindern. Die Wiener Meister<lb/> arbeiten vielfach mit den tschechischen Knaben, die von Sklavenhändlern im<lb/> Frühjahr und Herbst in Böhmen aufgekauft und um wenige Gulden das Stück<lb/> in Wien verschachert werden. Tüchtige Jungen kriegt der Kleinmeister kaum<lb/> mehr, die zieht die Fabrik an sich, und wohl dem Knaben, der eine Fabrik¬<lb/> lehre genießt; er hat den Himmel im Vergleich mit den Werkstattlehrlingen<lb/> und lernt dabei etwas. Das gilt allerdings nur von den Fabriken, die Metall,<lb/> Holz und Thon verarbeiten; in den Spinnereien und Webereien hat der Knabe<lb/> die paar Handgriffe bald weg und wird nur als jugendlicher Arbeiter aus¬<lb/> genützt. Früher hatte die österreichische Textilindustrie Greuel aufzuweisen<lb/> — Waeutig teilt Seite 128, Anmerkung, eine Schilderung Brunner Fabrik¬<lb/> zustände mit —, die den englischen der Chartistenzeit wenig nachgaben; die<lb/> Fabrikaufsicht hat natürlich die ärgsten Übelstände beseitigt.</p><lb/> <p xml:id="ID_1725" next="#ID_1726"> Die Gesellen sind wenigstens unabhängiger vom Meister als die Lehrlinge<lb/> und haben die Freiheit, den Arbeitsplatz wechseln zu können; aber die Furcht<lb/> vor Arbeitslosigkeit hindert sie, von dieser Freiheit in dem Maße Gebrauch<lb/> zu machen, als es im Interesse ihrer mangelhaften Ausbildung wünschenswert<lb/> wäre. Nicht einmal zum Zweck einer notwendigen Heilkur mögen sie die er¬<lb/> langte Arbeitsstelle verlassen. Bei einer Umfrage in Wien im Jahre 1893<lb/> wurden über zweihundert an äußern Schäden leidende Bäckergesellen gefunden,<lb/> die aus Furcht vor Arbeitslosigkeit nicht ins Krankenhaus gingen; hundertelf<lb/> davon litten an Syphilis, achtundfunfzig an nässenden Flechten, acht an Krätze,<lb/> fünfzig an Verletzungen- Periodische Arbeitslosigkeit größerer Arbeitermassen<lb/> bringt ja nun einmal der heutige Gesellschaftszustand mit sich; sie wird aber,<lb/> soweit es sich um Handwerksgesellen handelt, nach den Berichten der öfter-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0504]
Mittelstandspolitik in Österreich
die sich selbständig machen wollen, in den Kursus einschreiben, um noch im
letzten Momente Kenntnisse und Fertigkeiten zu erlangen, die sie sich früher
nicht erwerben konnten. Nur dem eisernen Fleiß und der unermüdlichen Aus¬
dauer dieser Hospitanten ist es zu danken, wenn sie mit ihren dürftigen Vor¬
kenntnissen doch günstige Resultate erzielen. Sie arbeiten vom frühen Morgen
bis zum späten Abend und gönnen sich oft kaum die Zeit von zehn Minuten
zur Einnahme ihres mitgebrachten bescheidnen Mittagsmahles; manche müssen
(im strengen Winter) einen Weg von anderthalb Stunden zur Schule und
zurück machen; die meisten von ihnen sind gezwungen, die durch harte Arbeit
im Sommer ersparten wenigen Gulden für den Unterricht aufzuwenden." Die
sogenannte Lehrzeit wird oft unter allerlei Vorwänden willkürlich verlängert.
Kann der Meister nicht mehr umhin, den Jungen für frei zu erklären, und
müßte er ihm, wenn er ihn noch länger behielte, Lohn zahlen, so setzt er ihn
sofort aufs Pflaster. Die Jungen sind, abgesehen von dem Schutze, den der
Gewerbeinspektor zu gewähren wenigstens den guten Willen hat, dem Meister
schutzlos preisgegeben, weil sie meistens Söhne von Eltern sind, die sich selbst
nicht zu helfen wissen, geschweige denn ihren Kindern. Die Wiener Meister
arbeiten vielfach mit den tschechischen Knaben, die von Sklavenhändlern im
Frühjahr und Herbst in Böhmen aufgekauft und um wenige Gulden das Stück
in Wien verschachert werden. Tüchtige Jungen kriegt der Kleinmeister kaum
mehr, die zieht die Fabrik an sich, und wohl dem Knaben, der eine Fabrik¬
lehre genießt; er hat den Himmel im Vergleich mit den Werkstattlehrlingen
und lernt dabei etwas. Das gilt allerdings nur von den Fabriken, die Metall,
Holz und Thon verarbeiten; in den Spinnereien und Webereien hat der Knabe
die paar Handgriffe bald weg und wird nur als jugendlicher Arbeiter aus¬
genützt. Früher hatte die österreichische Textilindustrie Greuel aufzuweisen
— Waeutig teilt Seite 128, Anmerkung, eine Schilderung Brunner Fabrik¬
zustände mit —, die den englischen der Chartistenzeit wenig nachgaben; die
Fabrikaufsicht hat natürlich die ärgsten Übelstände beseitigt.
Die Gesellen sind wenigstens unabhängiger vom Meister als die Lehrlinge
und haben die Freiheit, den Arbeitsplatz wechseln zu können; aber die Furcht
vor Arbeitslosigkeit hindert sie, von dieser Freiheit in dem Maße Gebrauch
zu machen, als es im Interesse ihrer mangelhaften Ausbildung wünschenswert
wäre. Nicht einmal zum Zweck einer notwendigen Heilkur mögen sie die er¬
langte Arbeitsstelle verlassen. Bei einer Umfrage in Wien im Jahre 1893
wurden über zweihundert an äußern Schäden leidende Bäckergesellen gefunden,
die aus Furcht vor Arbeitslosigkeit nicht ins Krankenhaus gingen; hundertelf
davon litten an Syphilis, achtundfunfzig an nässenden Flechten, acht an Krätze,
fünfzig an Verletzungen- Periodische Arbeitslosigkeit größerer Arbeitermassen
bringt ja nun einmal der heutige Gesellschaftszustand mit sich; sie wird aber,
soweit es sich um Handwerksgesellen handelt, nach den Berichten der öfter-
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