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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Mittelstandspolitik in Österreich

bei der Abgrenzung durch freches Zugreifen die Tischler gemacht. Wer ist nach
der neuen schönen Ordnung ein Tischler? fragt Waentig Seite 332. Antwort:
"Ein Handwerker, der innerhalb gewisser Grenzen nach Bedarf und Vermögen
tischlert und zimmert, schlossert und tapezirt, drechselt und schmilzt, verglast
und vergoldet, anstreicht und lackirt, und dies alles berechtigt durch den Um¬
stand, daß er als ehemaliger Lehrling eines befugten Meisters zwei Jahre lang
Hausknechtsdienste geleistet, den Rest seiner Lehrzeit primitive Holzarbeiten her¬
gestellt und sich als Gehilfe zwei weitere Jahre in dieser löblichen Fertigkeit
vervollkommnet hat." Mit den Zwangsgenosfenschaften können wir uns kurz
fassen; sie sind nach dem Zeugnis aller Regierungsbehörden eine leere Form
ohne Inhalt, Geist und Leben geblieben. Das Genossenschaftswesen, urteilt
die böhmische Statthalterei, kränkete nicht etwa durch die Schuld der Gewerbe¬
behörden, denen ganz mit Unrecht büreaukratische Bevormundung vorgeworfen
werde, "sondern an der eignen Indolenz und dem Mangel des wünschens¬
werten Interesses." Die Genossenschaften, heißt es in einem Bericht der
Salzburger Gewerbekammer, hätten der großen Mehrzahl nach aus dem Gesetze
nicht den Gedanken der wirtschaftlichen und sozialen Korporation, sondern nur
den der Prohibition aufgenommen; auf Beschränkung der Konkurrenz und der
freien wirtschaftlichen Bethätigung des Einzelnen sei ihr Streben gerichtet.
Sie führten nur ein Scheinleben, heißt es in andern Berichten, und soweit
sie nicht ganz eingeschlafen seien, befaßten sie sich mit allem möglichen, nur
uicht mit dem, wozu sie da seien.

Befähigungsnachweis und Zwangsgenvsfenschaft, schreibt Waentig in seiner
Schlußbetrachtung, züchten eine verkümmerte Bevölkerungsschicht. "Erst wenn
dieses ganze traurige System einer kurzsichtigen Klassenpolitik abgewirtschaftet
und die Erkenntnis sich Bahn gebrochen haben wird, daß die künstliche Er¬
haltung einer ökonomisch wie sozialpolitisch minder leistungsfähigen Betricbs-
form, selbst wenn diese innerhalb des Bereichs der Möglichkeit läge, nicht den
wahren Interessen eines wirtschaftlich aufstrebenden Volkes entspricht, und daß
eine den gegebnen sozialen Daseinsbedingungen unzureichend angepaßte Be¬
völkerungsschicht am wenigsten dadurch aus ihrer Zwangslage befreit wird,
daß man sie in ihren reaktionären Instinkten bestärkt, wenn man ferner ein¬
gesehen haben wird, daß in dem unvermeidlichen Wettkampfe der Nationen um
die wirtschaftliche Weltherrschaft diejenige obsiegen muß, die den Gegnern in
ihrem Unternehmertum das höchste Maß patriotischen Pflichtbewußtseins, in
ihrer Arbeiterschaft die größte Summe vitaler Energie swarum nicht "von
Lebenskraft"?^ und in ihrer Wirtschaftsordnung die best entwickelte Arbeits¬
organisation wird entgegenstellen können, dann mag auch die Zeit für eine
neue realistische Gewerbepolitik gekommen sein." Es werden dann einige
Grundsätze aufgestellt, die eine solche Politik zu befolgen Hütte. Wir sind mit
alle dem einverstanden, nur müssen wir es rügen, daß das Handwerk in Bausch


Mittelstandspolitik in Österreich

bei der Abgrenzung durch freches Zugreifen die Tischler gemacht. Wer ist nach
der neuen schönen Ordnung ein Tischler? fragt Waentig Seite 332. Antwort:
„Ein Handwerker, der innerhalb gewisser Grenzen nach Bedarf und Vermögen
tischlert und zimmert, schlossert und tapezirt, drechselt und schmilzt, verglast
und vergoldet, anstreicht und lackirt, und dies alles berechtigt durch den Um¬
stand, daß er als ehemaliger Lehrling eines befugten Meisters zwei Jahre lang
Hausknechtsdienste geleistet, den Rest seiner Lehrzeit primitive Holzarbeiten her¬
gestellt und sich als Gehilfe zwei weitere Jahre in dieser löblichen Fertigkeit
vervollkommnet hat." Mit den Zwangsgenosfenschaften können wir uns kurz
fassen; sie sind nach dem Zeugnis aller Regierungsbehörden eine leere Form
ohne Inhalt, Geist und Leben geblieben. Das Genossenschaftswesen, urteilt
die böhmische Statthalterei, kränkete nicht etwa durch die Schuld der Gewerbe¬
behörden, denen ganz mit Unrecht büreaukratische Bevormundung vorgeworfen
werde, „sondern an der eignen Indolenz und dem Mangel des wünschens¬
werten Interesses." Die Genossenschaften, heißt es in einem Bericht der
Salzburger Gewerbekammer, hätten der großen Mehrzahl nach aus dem Gesetze
nicht den Gedanken der wirtschaftlichen und sozialen Korporation, sondern nur
den der Prohibition aufgenommen; auf Beschränkung der Konkurrenz und der
freien wirtschaftlichen Bethätigung des Einzelnen sei ihr Streben gerichtet.
Sie führten nur ein Scheinleben, heißt es in andern Berichten, und soweit
sie nicht ganz eingeschlafen seien, befaßten sie sich mit allem möglichen, nur
uicht mit dem, wozu sie da seien.

Befähigungsnachweis und Zwangsgenvsfenschaft, schreibt Waentig in seiner
Schlußbetrachtung, züchten eine verkümmerte Bevölkerungsschicht. „Erst wenn
dieses ganze traurige System einer kurzsichtigen Klassenpolitik abgewirtschaftet
und die Erkenntnis sich Bahn gebrochen haben wird, daß die künstliche Er¬
haltung einer ökonomisch wie sozialpolitisch minder leistungsfähigen Betricbs-
form, selbst wenn diese innerhalb des Bereichs der Möglichkeit läge, nicht den
wahren Interessen eines wirtschaftlich aufstrebenden Volkes entspricht, und daß
eine den gegebnen sozialen Daseinsbedingungen unzureichend angepaßte Be¬
völkerungsschicht am wenigsten dadurch aus ihrer Zwangslage befreit wird,
daß man sie in ihren reaktionären Instinkten bestärkt, wenn man ferner ein¬
gesehen haben wird, daß in dem unvermeidlichen Wettkampfe der Nationen um
die wirtschaftliche Weltherrschaft diejenige obsiegen muß, die den Gegnern in
ihrem Unternehmertum das höchste Maß patriotischen Pflichtbewußtseins, in
ihrer Arbeiterschaft die größte Summe vitaler Energie swarum nicht „von
Lebenskraft"?^ und in ihrer Wirtschaftsordnung die best entwickelte Arbeits¬
organisation wird entgegenstellen können, dann mag auch die Zeit für eine
neue realistische Gewerbepolitik gekommen sein." Es werden dann einige
Grundsätze aufgestellt, die eine solche Politik zu befolgen Hütte. Wir sind mit
alle dem einverstanden, nur müssen wir es rügen, daß das Handwerk in Bausch


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[0506] Mittelstandspolitik in Österreich bei der Abgrenzung durch freches Zugreifen die Tischler gemacht. Wer ist nach der neuen schönen Ordnung ein Tischler? fragt Waentig Seite 332. Antwort: „Ein Handwerker, der innerhalb gewisser Grenzen nach Bedarf und Vermögen tischlert und zimmert, schlossert und tapezirt, drechselt und schmilzt, verglast und vergoldet, anstreicht und lackirt, und dies alles berechtigt durch den Um¬ stand, daß er als ehemaliger Lehrling eines befugten Meisters zwei Jahre lang Hausknechtsdienste geleistet, den Rest seiner Lehrzeit primitive Holzarbeiten her¬ gestellt und sich als Gehilfe zwei weitere Jahre in dieser löblichen Fertigkeit vervollkommnet hat." Mit den Zwangsgenosfenschaften können wir uns kurz fassen; sie sind nach dem Zeugnis aller Regierungsbehörden eine leere Form ohne Inhalt, Geist und Leben geblieben. Das Genossenschaftswesen, urteilt die böhmische Statthalterei, kränkete nicht etwa durch die Schuld der Gewerbe¬ behörden, denen ganz mit Unrecht büreaukratische Bevormundung vorgeworfen werde, „sondern an der eignen Indolenz und dem Mangel des wünschens¬ werten Interesses." Die Genossenschaften, heißt es in einem Bericht der Salzburger Gewerbekammer, hätten der großen Mehrzahl nach aus dem Gesetze nicht den Gedanken der wirtschaftlichen und sozialen Korporation, sondern nur den der Prohibition aufgenommen; auf Beschränkung der Konkurrenz und der freien wirtschaftlichen Bethätigung des Einzelnen sei ihr Streben gerichtet. Sie führten nur ein Scheinleben, heißt es in andern Berichten, und soweit sie nicht ganz eingeschlafen seien, befaßten sie sich mit allem möglichen, nur uicht mit dem, wozu sie da seien. Befähigungsnachweis und Zwangsgenvsfenschaft, schreibt Waentig in seiner Schlußbetrachtung, züchten eine verkümmerte Bevölkerungsschicht. „Erst wenn dieses ganze traurige System einer kurzsichtigen Klassenpolitik abgewirtschaftet und die Erkenntnis sich Bahn gebrochen haben wird, daß die künstliche Er¬ haltung einer ökonomisch wie sozialpolitisch minder leistungsfähigen Betricbs- form, selbst wenn diese innerhalb des Bereichs der Möglichkeit läge, nicht den wahren Interessen eines wirtschaftlich aufstrebenden Volkes entspricht, und daß eine den gegebnen sozialen Daseinsbedingungen unzureichend angepaßte Be¬ völkerungsschicht am wenigsten dadurch aus ihrer Zwangslage befreit wird, daß man sie in ihren reaktionären Instinkten bestärkt, wenn man ferner ein¬ gesehen haben wird, daß in dem unvermeidlichen Wettkampfe der Nationen um die wirtschaftliche Weltherrschaft diejenige obsiegen muß, die den Gegnern in ihrem Unternehmertum das höchste Maß patriotischen Pflichtbewußtseins, in ihrer Arbeiterschaft die größte Summe vitaler Energie swarum nicht „von Lebenskraft"?^ und in ihrer Wirtschaftsordnung die best entwickelte Arbeits¬ organisation wird entgegenstellen können, dann mag auch die Zeit für eine neue realistische Gewerbepolitik gekommen sein." Es werden dann einige Grundsätze aufgestellt, die eine solche Politik zu befolgen Hütte. Wir sind mit alle dem einverstanden, nur müssen wir es rügen, daß das Handwerk in Bausch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/506>, abgerufen am 27.07.2024.