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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Mttelstandspolitik in Bsterreich

in einem modernen Staatswesen der nicht zur Herrschaft befähigt ist, der sich
selbst nicht zu beherrschen vermag und Freiheit mit Zügellosigkeit, Machtaus¬
übung mit Unterdrückung andrer verwechselt."

Trotz alledem war die Handwerkerbewegung während der siebziger Jahre
weder judenfeindlich, noch richtete sie sich gegen das Großkapital und die
Großindustrie; deren Berechtigung erkannte Loblied ausdrücklich an. Man
beschränkte sich auf die Organisation korporativer Selbsthilfe, ans die Be¬
kämpfung der Auswüchse des Manchestertums und verlangte nach Staatshilfe
nur, so weit es diese beiden Zwecke erforderten. Die von den Klerikalen cm-
gebotne Hilfe wurde stolz zurückgewiesen. Wie "die Apostel des Geldsacks,
hieß es in dem Organ der Kleinbürger, der "Morgenpost," so müsse man auch
den klerikalen Heerbann bekämpfen, der auf Berdummung und Ausbeutung des
Volkes ausgehe; der österreichische Gewerbcstand sei Manns genug, seine An¬
gelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen; er brauche weder die Advokaten
noch die Pfarrer, weder die Jesuiten im Frack noch die Advokaten in der
Kutte." Was den Antisemitismus betrifft, so sprach die "Morgenpost" noch
im Jahre 1881 die Überzeugung aus, es werde "die in Spreeathen von
einigen protestantischen Muckern angezettelte und von der Metropole der
Intelligenz über Deutschland sich ausbreitende antisemitische Agitation an der
in glänzendsten Lichte hervortretenden zivilisatorischer Überlegenheit Österreichs
und der Stadt Wien zu Schanden werden." Die Deutschuationalen sind es
gewesen, die den Antisemitismus in die Bewegung hineingetragen haben, die
von da an auch immer mehr aus einer gewerblichen eine politische wurde und
das vorher nicht vorhandne Bewußtsein des Klafseninteresses und Gegensatzes
und den Klassenhaß ausbildete. Daß die Gründung der deutschnationalen
Partei eine Notwendigkeit wurde, sobald sich eine hauptsächlich aus den Polen
und den Tschechen bestehende Regierungsmehrheit gebildet hatte, erkennt
Waentig an, denn die Deutschliberalen hätten schon darum das deutsche Volk
nicht vertreten können, weil sie keine Wurzeln im Volke hatten. "Der Not¬
wendigkeit überhoben, sich durch Kampf zur Geltung zu bringen, hatte es der
österreichische Liberalismus verschmäht, zu den Volksmassen hinabzusteigen."
Bald habe das Bürgertum keine Prinzipien mehr, sondern nur noch Interessen
gehabt, "und wie es das Volk verlassen hatte, sagte dieses sich von ihm los."
Und bei dem ausgesprochen jüdischen Charakter der deutschliberalen Partei
mußte die deutschuationale natürlich antisemitisch sein, und "indem die Deutsch-
nationalen die "Judenliberalen" bekämpften, konnten sie nicht umhin, auch
deren Wirtschaftspolitik zu bekämpfen." So suchte denn schönerer an den
Handwerkern Bundesgenossen zu gewinnen, und auf dem zweiten Wiener Ge¬
werbetage im November 1882 kam die durch seiue Agitation erzeugte anti¬
semitische Stimmung zum Durchbruch. Über den plötzlichen Stimmungswechsel
braucht man sich nicht zu wundern. Von einer durch eignes Nachdenken ge-


Mttelstandspolitik in Bsterreich

in einem modernen Staatswesen der nicht zur Herrschaft befähigt ist, der sich
selbst nicht zu beherrschen vermag und Freiheit mit Zügellosigkeit, Machtaus¬
übung mit Unterdrückung andrer verwechselt."

Trotz alledem war die Handwerkerbewegung während der siebziger Jahre
weder judenfeindlich, noch richtete sie sich gegen das Großkapital und die
Großindustrie; deren Berechtigung erkannte Loblied ausdrücklich an. Man
beschränkte sich auf die Organisation korporativer Selbsthilfe, ans die Be¬
kämpfung der Auswüchse des Manchestertums und verlangte nach Staatshilfe
nur, so weit es diese beiden Zwecke erforderten. Die von den Klerikalen cm-
gebotne Hilfe wurde stolz zurückgewiesen. Wie „die Apostel des Geldsacks,
hieß es in dem Organ der Kleinbürger, der »Morgenpost,« so müsse man auch
den klerikalen Heerbann bekämpfen, der auf Berdummung und Ausbeutung des
Volkes ausgehe; der österreichische Gewerbcstand sei Manns genug, seine An¬
gelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen; er brauche weder die Advokaten
noch die Pfarrer, weder die Jesuiten im Frack noch die Advokaten in der
Kutte." Was den Antisemitismus betrifft, so sprach die „Morgenpost" noch
im Jahre 1881 die Überzeugung aus, es werde „die in Spreeathen von
einigen protestantischen Muckern angezettelte und von der Metropole der
Intelligenz über Deutschland sich ausbreitende antisemitische Agitation an der
in glänzendsten Lichte hervortretenden zivilisatorischer Überlegenheit Österreichs
und der Stadt Wien zu Schanden werden." Die Deutschuationalen sind es
gewesen, die den Antisemitismus in die Bewegung hineingetragen haben, die
von da an auch immer mehr aus einer gewerblichen eine politische wurde und
das vorher nicht vorhandne Bewußtsein des Klafseninteresses und Gegensatzes
und den Klassenhaß ausbildete. Daß die Gründung der deutschnationalen
Partei eine Notwendigkeit wurde, sobald sich eine hauptsächlich aus den Polen
und den Tschechen bestehende Regierungsmehrheit gebildet hatte, erkennt
Waentig an, denn die Deutschliberalen hätten schon darum das deutsche Volk
nicht vertreten können, weil sie keine Wurzeln im Volke hatten. „Der Not¬
wendigkeit überhoben, sich durch Kampf zur Geltung zu bringen, hatte es der
österreichische Liberalismus verschmäht, zu den Volksmassen hinabzusteigen."
Bald habe das Bürgertum keine Prinzipien mehr, sondern nur noch Interessen
gehabt, „und wie es das Volk verlassen hatte, sagte dieses sich von ihm los."
Und bei dem ausgesprochen jüdischen Charakter der deutschliberalen Partei
mußte die deutschuationale natürlich antisemitisch sein, und „indem die Deutsch-
nationalen die »Judenliberalen« bekämpften, konnten sie nicht umhin, auch
deren Wirtschaftspolitik zu bekämpfen." So suchte denn schönerer an den
Handwerkern Bundesgenossen zu gewinnen, und auf dem zweiten Wiener Ge¬
werbetage im November 1882 kam die durch seiue Agitation erzeugte anti¬
semitische Stimmung zum Durchbruch. Über den plötzlichen Stimmungswechsel
braucht man sich nicht zu wundern. Von einer durch eignes Nachdenken ge-


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[0501] Mttelstandspolitik in Bsterreich in einem modernen Staatswesen der nicht zur Herrschaft befähigt ist, der sich selbst nicht zu beherrschen vermag und Freiheit mit Zügellosigkeit, Machtaus¬ übung mit Unterdrückung andrer verwechselt." Trotz alledem war die Handwerkerbewegung während der siebziger Jahre weder judenfeindlich, noch richtete sie sich gegen das Großkapital und die Großindustrie; deren Berechtigung erkannte Loblied ausdrücklich an. Man beschränkte sich auf die Organisation korporativer Selbsthilfe, ans die Be¬ kämpfung der Auswüchse des Manchestertums und verlangte nach Staatshilfe nur, so weit es diese beiden Zwecke erforderten. Die von den Klerikalen cm- gebotne Hilfe wurde stolz zurückgewiesen. Wie „die Apostel des Geldsacks, hieß es in dem Organ der Kleinbürger, der »Morgenpost,« so müsse man auch den klerikalen Heerbann bekämpfen, der auf Berdummung und Ausbeutung des Volkes ausgehe; der österreichische Gewerbcstand sei Manns genug, seine An¬ gelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen; er brauche weder die Advokaten noch die Pfarrer, weder die Jesuiten im Frack noch die Advokaten in der Kutte." Was den Antisemitismus betrifft, so sprach die „Morgenpost" noch im Jahre 1881 die Überzeugung aus, es werde „die in Spreeathen von einigen protestantischen Muckern angezettelte und von der Metropole der Intelligenz über Deutschland sich ausbreitende antisemitische Agitation an der in glänzendsten Lichte hervortretenden zivilisatorischer Überlegenheit Österreichs und der Stadt Wien zu Schanden werden." Die Deutschuationalen sind es gewesen, die den Antisemitismus in die Bewegung hineingetragen haben, die von da an auch immer mehr aus einer gewerblichen eine politische wurde und das vorher nicht vorhandne Bewußtsein des Klafseninteresses und Gegensatzes und den Klassenhaß ausbildete. Daß die Gründung der deutschnationalen Partei eine Notwendigkeit wurde, sobald sich eine hauptsächlich aus den Polen und den Tschechen bestehende Regierungsmehrheit gebildet hatte, erkennt Waentig an, denn die Deutschliberalen hätten schon darum das deutsche Volk nicht vertreten können, weil sie keine Wurzeln im Volke hatten. „Der Not¬ wendigkeit überhoben, sich durch Kampf zur Geltung zu bringen, hatte es der österreichische Liberalismus verschmäht, zu den Volksmassen hinabzusteigen." Bald habe das Bürgertum keine Prinzipien mehr, sondern nur noch Interessen gehabt, „und wie es das Volk verlassen hatte, sagte dieses sich von ihm los." Und bei dem ausgesprochen jüdischen Charakter der deutschliberalen Partei mußte die deutschuationale natürlich antisemitisch sein, und „indem die Deutsch- nationalen die »Judenliberalen« bekämpften, konnten sie nicht umhin, auch deren Wirtschaftspolitik zu bekämpfen." So suchte denn schönerer an den Handwerkern Bundesgenossen zu gewinnen, und auf dem zweiten Wiener Ge¬ werbetage im November 1882 kam die durch seiue Agitation erzeugte anti¬ semitische Stimmung zum Durchbruch. Über den plötzlichen Stimmungswechsel braucht man sich nicht zu wundern. Von einer durch eignes Nachdenken ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/501>, abgerufen am 28.07.2024.