Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.Mittelstandspolitik in "Österreich wonnenen selbständigen Überzeugung kann bei den kleinen Gewerbetreibenden Als die Handwerker ins reaktionäre Fahrwasser umbogen, war der Kuchen, Mittelstandspolitik in «Österreich wonnenen selbständigen Überzeugung kann bei den kleinen Gewerbetreibenden Als die Handwerker ins reaktionäre Fahrwasser umbogen, war der Kuchen, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0502" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/228804"/> <fw type="header" place="top"> Mittelstandspolitik in «Österreich</fw><lb/> <p xml:id="ID_1721" prev="#ID_1720"> wonnenen selbständigen Überzeugung kann bei den kleinen Gewerbetreibenden<lb/> eines Großstaats keine Rede sein; sie haben jederzeit die Überzeugung ihrer<lb/> Vordenker, wie Nvdbertus die Zeitungsschreiber zu nennen pflegte. Wenn nun<lb/> der Strom der politischen Ereignisse die alten Vordenker durch neue ersetzt,<lb/> so müssen die „Nachdenkenden natürlich ihre Überzeugung wechseln. Und<lb/> die neue Überzeugung wird den Kleinmeistern weit besser gepaßt haben als die<lb/> alte; denn die antisemitische Stimmung liegt ihnen seit Jahrhunderten nahe<lb/> und mag, ohne laut zu werden, schon durch die Ereignisse der siebziger Jahre<lb/> neu erweckt worden sein. Die liberale Führung haben sie sich gefallen lassen,<lb/> weil sie keine andre hatten, aber warm geworden sind sie dabei wahrscheinlich<lb/> nicht. Unter der antisemitischen Führung haben sie sich seitdem bis zu gro߬<lb/> artigen Holzereien erwärmt. Schade eigentlich, daß Waentigs Buch nicht ein<lb/> paar Jahre später erschienen ist! Es müßte dann wohl auch darüber berichten,<lb/> wie Lueger seine antikapitalistischen und antisemitischen Grundsätze als König<lb/> von Wien in der Negierung seines kleinen Staates bewährt; man bekommt<lb/> darüber wunderliche Geschichten zu lesen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1722" next="#ID_1723"> Als die Handwerker ins reaktionäre Fahrwasser umbogen, war der Kuchen,<lb/> den man sie von nun an begehren lehrte, schon beinahe fertig. Aber nicht die<lb/> Deutschnationalen hatten ihn zubereitet, sondern die Klerikal-Feudalen. Von<lb/> einer im November 1879 eingebrachten Regierungsvorlage zur Reform der<lb/> Gewerbeordnung wurde das erste Stück als Gewerbenovelle am 15. Mürz 1883<lb/> Gesetz. Diese Novelle enthielt den Befähigungsnachweis und die Zwangs-<lb/> organisation des Handwerks. Obmann des Gewerbeausschusses und Leiter des<lb/> Reformwerks war der von Dr. Rudolf Meyer beratne Graf Velcredi. Wie<lb/> hat nun diese aus dem Geiste einer idealen Zünftlerei geborne Novelle ge¬<lb/> wirkt? Waentig stellt den gegenwärtigen Zustand des österreichischen Klein¬<lb/> gewerbes dar nach den Berichten der Gewerbeinspektoren. Zunächst das<lb/> Lehrlingswesen. Die Bestimmungen darüber sind vortrefflich, und würden sie<lb/> in dem Geiste, der sie erlassen hat, durchgeführt, so genössen die Lehrlinge<lb/> eine ideale Erziehung. Wie sieht es aber in Wirklichkeit damit aus? Das<lb/> Lehrlingsverhültnis soll ein Pflege- und Schutzverhältiiis sein. Über die<lb/> Pflege giebt schon die Beschaffenheit der Schlafstütten einigermaßen Auskunft.<lb/> Aus den zahlreichen, von Waentig angeführten Berichten heben wir nur<lb/> wenige hervor. In einer Prager Bäckerei fand man einen kleinen, vollkommen<lb/> dunkeln, ungeheizten Raum, worin gerade zwei (schmutzige) Betten Platz hatten.<lb/> Diese zwei Betten waren für die sechs Gesellen bestimmt, und unter den<lb/> Betten, auf dem von Ungeziefer wimmelnden Fußboden, schliefen die drei Lehr¬<lb/> linge. Im Budweiser Bezirk fand man siebzehn Bäckerlehrlinge, für die es<lb/> gar keine Schlafstätte gab. Sie nächtigten (in der Backstube wohl?) auf einer<lb/> Holzbank, einem nackten Brett, auf einigen in einen Winkel zusammengetragnen<lb/> Säcken. Bei den Bückern steht es überall am schlimmsten, aber bei den übrigen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0502]
Mittelstandspolitik in «Österreich
wonnenen selbständigen Überzeugung kann bei den kleinen Gewerbetreibenden
eines Großstaats keine Rede sein; sie haben jederzeit die Überzeugung ihrer
Vordenker, wie Nvdbertus die Zeitungsschreiber zu nennen pflegte. Wenn nun
der Strom der politischen Ereignisse die alten Vordenker durch neue ersetzt,
so müssen die „Nachdenkenden natürlich ihre Überzeugung wechseln. Und
die neue Überzeugung wird den Kleinmeistern weit besser gepaßt haben als die
alte; denn die antisemitische Stimmung liegt ihnen seit Jahrhunderten nahe
und mag, ohne laut zu werden, schon durch die Ereignisse der siebziger Jahre
neu erweckt worden sein. Die liberale Führung haben sie sich gefallen lassen,
weil sie keine andre hatten, aber warm geworden sind sie dabei wahrscheinlich
nicht. Unter der antisemitischen Führung haben sie sich seitdem bis zu gro߬
artigen Holzereien erwärmt. Schade eigentlich, daß Waentigs Buch nicht ein
paar Jahre später erschienen ist! Es müßte dann wohl auch darüber berichten,
wie Lueger seine antikapitalistischen und antisemitischen Grundsätze als König
von Wien in der Negierung seines kleinen Staates bewährt; man bekommt
darüber wunderliche Geschichten zu lesen.
Als die Handwerker ins reaktionäre Fahrwasser umbogen, war der Kuchen,
den man sie von nun an begehren lehrte, schon beinahe fertig. Aber nicht die
Deutschnationalen hatten ihn zubereitet, sondern die Klerikal-Feudalen. Von
einer im November 1879 eingebrachten Regierungsvorlage zur Reform der
Gewerbeordnung wurde das erste Stück als Gewerbenovelle am 15. Mürz 1883
Gesetz. Diese Novelle enthielt den Befähigungsnachweis und die Zwangs-
organisation des Handwerks. Obmann des Gewerbeausschusses und Leiter des
Reformwerks war der von Dr. Rudolf Meyer beratne Graf Velcredi. Wie
hat nun diese aus dem Geiste einer idealen Zünftlerei geborne Novelle ge¬
wirkt? Waentig stellt den gegenwärtigen Zustand des österreichischen Klein¬
gewerbes dar nach den Berichten der Gewerbeinspektoren. Zunächst das
Lehrlingswesen. Die Bestimmungen darüber sind vortrefflich, und würden sie
in dem Geiste, der sie erlassen hat, durchgeführt, so genössen die Lehrlinge
eine ideale Erziehung. Wie sieht es aber in Wirklichkeit damit aus? Das
Lehrlingsverhültnis soll ein Pflege- und Schutzverhältiiis sein. Über die
Pflege giebt schon die Beschaffenheit der Schlafstütten einigermaßen Auskunft.
Aus den zahlreichen, von Waentig angeführten Berichten heben wir nur
wenige hervor. In einer Prager Bäckerei fand man einen kleinen, vollkommen
dunkeln, ungeheizten Raum, worin gerade zwei (schmutzige) Betten Platz hatten.
Diese zwei Betten waren für die sechs Gesellen bestimmt, und unter den
Betten, auf dem von Ungeziefer wimmelnden Fußboden, schliefen die drei Lehr¬
linge. Im Budweiser Bezirk fand man siebzehn Bäckerlehrlinge, für die es
gar keine Schlafstätte gab. Sie nächtigten (in der Backstube wohl?) auf einer
Holzbank, einem nackten Brett, auf einigen in einen Winkel zusammengetragnen
Säcken. Bei den Bückern steht es überall am schlimmsten, aber bei den übrigen
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