Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Gedichte Michelangelos

in seinen lyrischen Versuchen, und wenn er Worte daM finden will, so bietet
sich ihm das, was aus der platonischen Seelen- und ^chönheitslehre zu ihm
gedrungen ist, als das entsprechende Mittel dar oder, wie man sagen könnte,
als ein Notbehelf, denn selten will es ihm gelingen, sür das. was ihm vor¬
schwebt, einen reinen zutreffenden Ausdruck zu finden.

Man kannte zu Michelangelos Zeit den echten Platon. den man zu Dantes
und Petrarcas Zeiten noch nicht kannte. Im fünfzehnten Jahrhundert wurden
die Dialoge in das Lateinische übersetzt, und die platonische Philosophie kam
(mit neuplatonischen Auswüchsen) seitdem in die Mode. Der erste Präsident
der platonischen Akademie in Florenz. Marsilio Ficino. schrieb einen Kom¬
mentar zum Gastmahl, den er selbst ins Italienische übersetzte, und dessen
Einfluß auf die italienische Lyrik deutlich wahrnehmbar ist; so in der Ccmzone
Benivienis über die göttliche Liebe, worin ausgeführt ist, daß alles Schöne
auf der Erde der Seele nur als Sprosse diene, um sich zur Gottheit, dem
Quell aller Schönheit, emporzuschwingen, und ebenso in Bembos Asolaneu,
worin die schon von Petrarca (Sonett 102) ausgeworfne Frage, ob die
Liebe ein Gut oder ein Übel sei, zum Gegenstand eines Streitgesprächs
gemacht ist, das zuletzt durch die Rede des Eremiten seine Lösung findet,
der dieselben Gedanken ausspricht wie die Ccmzone Benivienis. Mit diesen
dichterischen Ausprägungen des Ficino-Kommentars ist das am nächsten ver¬
wandt, was man den Platonismus Michelangelos genannt hat. Sätze aus
dem Phädros und aus dem Symposion, natürlich nicht im Zusammenhang
des Originals entwickelt, sondern aus der dialektischen Begründung heraus¬
gehoben, ausgewühlt, vereinfacht, in die Empfindungsweise der Renaissance
übersetzt und den Überlieferungen der italienischen Lyrik angepaßt. Aus dem
Phädros der Satz, daß der Liebeswahnsinn auf der Erinnerung an die Idee
des Schönen beruht, die die Seele einst im Zustande der Präexistenz geschaut
hat. Durch den Anblick irdischer Schönheit wird diese Erinnerung geweckt;
das Schöne dringt durch die Augen in die Seele und beflügelt diese, sich auf¬
zuschwingen dahin, wo sie einst das Urbild der Schönheit geschaut hat.

Zahlreicher noch sind die Anklänge an die Reden im Symposion, so an
die Ausführung des Pausanias, daß die eine Liebe, die sinnliche, von unedler
Art ist und die Seele hinabzieht, während die andre zur Veredlung der Seele
dient, sie vollkommner macht und im Geliebten das Schöne zu zeugen bestimmt
ist. Die wahre Liebe ist deshalb die Liebe zum Jüngling, und sie wird praktisch
in der Darstellung des Schönen in Sitte und Kunst. Dann aus der Rede
des mantineischen Weibes die Aufzeigung des Stufenganges der Liebe: erst die
Liebe zu schönen Gestalten, zu einer, zu zweien, zu vielen, zu allen; sodann
die Liebe zum Schönen der Seelen, die sich in edeln Reden und Bestrebungen
bethätigt, und weiter zum Schönen, in welcher Gestalt es immer auf Erden
zu finden ist, zum ganzen Meer des Schönen; endlich aber die Liebe, die über-


Die Gedichte Michelangelos

in seinen lyrischen Versuchen, und wenn er Worte daM finden will, so bietet
sich ihm das, was aus der platonischen Seelen- und ^chönheitslehre zu ihm
gedrungen ist, als das entsprechende Mittel dar oder, wie man sagen könnte,
als ein Notbehelf, denn selten will es ihm gelingen, sür das. was ihm vor¬
schwebt, einen reinen zutreffenden Ausdruck zu finden.

Man kannte zu Michelangelos Zeit den echten Platon. den man zu Dantes
und Petrarcas Zeiten noch nicht kannte. Im fünfzehnten Jahrhundert wurden
die Dialoge in das Lateinische übersetzt, und die platonische Philosophie kam
(mit neuplatonischen Auswüchsen) seitdem in die Mode. Der erste Präsident
der platonischen Akademie in Florenz. Marsilio Ficino. schrieb einen Kom¬
mentar zum Gastmahl, den er selbst ins Italienische übersetzte, und dessen
Einfluß auf die italienische Lyrik deutlich wahrnehmbar ist; so in der Ccmzone
Benivienis über die göttliche Liebe, worin ausgeführt ist, daß alles Schöne
auf der Erde der Seele nur als Sprosse diene, um sich zur Gottheit, dem
Quell aller Schönheit, emporzuschwingen, und ebenso in Bembos Asolaneu,
worin die schon von Petrarca (Sonett 102) ausgeworfne Frage, ob die
Liebe ein Gut oder ein Übel sei, zum Gegenstand eines Streitgesprächs
gemacht ist, das zuletzt durch die Rede des Eremiten seine Lösung findet,
der dieselben Gedanken ausspricht wie die Ccmzone Benivienis. Mit diesen
dichterischen Ausprägungen des Ficino-Kommentars ist das am nächsten ver¬
wandt, was man den Platonismus Michelangelos genannt hat. Sätze aus
dem Phädros und aus dem Symposion, natürlich nicht im Zusammenhang
des Originals entwickelt, sondern aus der dialektischen Begründung heraus¬
gehoben, ausgewühlt, vereinfacht, in die Empfindungsweise der Renaissance
übersetzt und den Überlieferungen der italienischen Lyrik angepaßt. Aus dem
Phädros der Satz, daß der Liebeswahnsinn auf der Erinnerung an die Idee
des Schönen beruht, die die Seele einst im Zustande der Präexistenz geschaut
hat. Durch den Anblick irdischer Schönheit wird diese Erinnerung geweckt;
das Schöne dringt durch die Augen in die Seele und beflügelt diese, sich auf¬
zuschwingen dahin, wo sie einst das Urbild der Schönheit geschaut hat.

Zahlreicher noch sind die Anklänge an die Reden im Symposion, so an
die Ausführung des Pausanias, daß die eine Liebe, die sinnliche, von unedler
Art ist und die Seele hinabzieht, während die andre zur Veredlung der Seele
dient, sie vollkommner macht und im Geliebten das Schöne zu zeugen bestimmt
ist. Die wahre Liebe ist deshalb die Liebe zum Jüngling, und sie wird praktisch
in der Darstellung des Schönen in Sitte und Kunst. Dann aus der Rede
des mantineischen Weibes die Aufzeigung des Stufenganges der Liebe: erst die
Liebe zu schönen Gestalten, zu einer, zu zweien, zu vielen, zu allen; sodann
die Liebe zum Schönen der Seelen, die sich in edeln Reden und Bestrebungen
bethätigt, und weiter zum Schönen, in welcher Gestalt es immer auf Erden
zu finden ist, zum ganzen Meer des Schönen; endlich aber die Liebe, die über-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0467" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/228769"/>
            <fw type="header" place="top"> Die Gedichte Michelangelos</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1601" prev="#ID_1600"> in seinen lyrischen Versuchen, und wenn er Worte daM finden will, so bietet<lb/>
sich ihm das, was aus der platonischen Seelen- und ^chönheitslehre zu ihm<lb/>
gedrungen ist, als das entsprechende Mittel dar oder, wie man sagen könnte,<lb/>
als ein Notbehelf, denn selten will es ihm gelingen, sür das. was ihm vor¬<lb/>
schwebt, einen reinen zutreffenden Ausdruck zu finden.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1602"> Man kannte zu Michelangelos Zeit den echten Platon. den man zu Dantes<lb/>
und Petrarcas Zeiten noch nicht kannte. Im fünfzehnten Jahrhundert wurden<lb/>
die Dialoge in das Lateinische übersetzt, und die platonische Philosophie kam<lb/>
(mit neuplatonischen Auswüchsen) seitdem in die Mode. Der erste Präsident<lb/>
der platonischen Akademie in Florenz. Marsilio Ficino. schrieb einen Kom¬<lb/>
mentar zum Gastmahl, den er selbst ins Italienische übersetzte, und dessen<lb/>
Einfluß auf die italienische Lyrik deutlich wahrnehmbar ist; so in der Ccmzone<lb/>
Benivienis über die göttliche Liebe, worin ausgeführt ist, daß alles Schöne<lb/>
auf der Erde der Seele nur als Sprosse diene, um sich zur Gottheit, dem<lb/>
Quell aller Schönheit, emporzuschwingen, und ebenso in Bembos Asolaneu,<lb/>
worin die schon von Petrarca (Sonett 102) ausgeworfne Frage, ob die<lb/>
Liebe ein Gut oder ein Übel sei, zum Gegenstand eines Streitgesprächs<lb/>
gemacht ist, das zuletzt durch die Rede des Eremiten seine Lösung findet,<lb/>
der dieselben Gedanken ausspricht wie die Ccmzone Benivienis. Mit diesen<lb/>
dichterischen Ausprägungen des Ficino-Kommentars ist das am nächsten ver¬<lb/>
wandt, was man den Platonismus Michelangelos genannt hat. Sätze aus<lb/>
dem Phädros und aus dem Symposion, natürlich nicht im Zusammenhang<lb/>
des Originals entwickelt, sondern aus der dialektischen Begründung heraus¬<lb/>
gehoben, ausgewühlt, vereinfacht, in die Empfindungsweise der Renaissance<lb/>
übersetzt und den Überlieferungen der italienischen Lyrik angepaßt. Aus dem<lb/>
Phädros der Satz, daß der Liebeswahnsinn auf der Erinnerung an die Idee<lb/>
des Schönen beruht, die die Seele einst im Zustande der Präexistenz geschaut<lb/>
hat. Durch den Anblick irdischer Schönheit wird diese Erinnerung geweckt;<lb/>
das Schöne dringt durch die Augen in die Seele und beflügelt diese, sich auf¬<lb/>
zuschwingen dahin, wo sie einst das Urbild der Schönheit geschaut hat.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1603" next="#ID_1604"> Zahlreicher noch sind die Anklänge an die Reden im Symposion, so an<lb/>
die Ausführung des Pausanias, daß die eine Liebe, die sinnliche, von unedler<lb/>
Art ist und die Seele hinabzieht, während die andre zur Veredlung der Seele<lb/>
dient, sie vollkommner macht und im Geliebten das Schöne zu zeugen bestimmt<lb/>
ist. Die wahre Liebe ist deshalb die Liebe zum Jüngling, und sie wird praktisch<lb/>
in der Darstellung des Schönen in Sitte und Kunst. Dann aus der Rede<lb/>
des mantineischen Weibes die Aufzeigung des Stufenganges der Liebe: erst die<lb/>
Liebe zu schönen Gestalten, zu einer, zu zweien, zu vielen, zu allen; sodann<lb/>
die Liebe zum Schönen der Seelen, die sich in edeln Reden und Bestrebungen<lb/>
bethätigt, und weiter zum Schönen, in welcher Gestalt es immer auf Erden<lb/>
zu finden ist, zum ganzen Meer des Schönen; endlich aber die Liebe, die über-</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0467] Die Gedichte Michelangelos in seinen lyrischen Versuchen, und wenn er Worte daM finden will, so bietet sich ihm das, was aus der platonischen Seelen- und ^chönheitslehre zu ihm gedrungen ist, als das entsprechende Mittel dar oder, wie man sagen könnte, als ein Notbehelf, denn selten will es ihm gelingen, sür das. was ihm vor¬ schwebt, einen reinen zutreffenden Ausdruck zu finden. Man kannte zu Michelangelos Zeit den echten Platon. den man zu Dantes und Petrarcas Zeiten noch nicht kannte. Im fünfzehnten Jahrhundert wurden die Dialoge in das Lateinische übersetzt, und die platonische Philosophie kam (mit neuplatonischen Auswüchsen) seitdem in die Mode. Der erste Präsident der platonischen Akademie in Florenz. Marsilio Ficino. schrieb einen Kom¬ mentar zum Gastmahl, den er selbst ins Italienische übersetzte, und dessen Einfluß auf die italienische Lyrik deutlich wahrnehmbar ist; so in der Ccmzone Benivienis über die göttliche Liebe, worin ausgeführt ist, daß alles Schöne auf der Erde der Seele nur als Sprosse diene, um sich zur Gottheit, dem Quell aller Schönheit, emporzuschwingen, und ebenso in Bembos Asolaneu, worin die schon von Petrarca (Sonett 102) ausgeworfne Frage, ob die Liebe ein Gut oder ein Übel sei, zum Gegenstand eines Streitgesprächs gemacht ist, das zuletzt durch die Rede des Eremiten seine Lösung findet, der dieselben Gedanken ausspricht wie die Ccmzone Benivienis. Mit diesen dichterischen Ausprägungen des Ficino-Kommentars ist das am nächsten ver¬ wandt, was man den Platonismus Michelangelos genannt hat. Sätze aus dem Phädros und aus dem Symposion, natürlich nicht im Zusammenhang des Originals entwickelt, sondern aus der dialektischen Begründung heraus¬ gehoben, ausgewühlt, vereinfacht, in die Empfindungsweise der Renaissance übersetzt und den Überlieferungen der italienischen Lyrik angepaßt. Aus dem Phädros der Satz, daß der Liebeswahnsinn auf der Erinnerung an die Idee des Schönen beruht, die die Seele einst im Zustande der Präexistenz geschaut hat. Durch den Anblick irdischer Schönheit wird diese Erinnerung geweckt; das Schöne dringt durch die Augen in die Seele und beflügelt diese, sich auf¬ zuschwingen dahin, wo sie einst das Urbild der Schönheit geschaut hat. Zahlreicher noch sind die Anklänge an die Reden im Symposion, so an die Ausführung des Pausanias, daß die eine Liebe, die sinnliche, von unedler Art ist und die Seele hinabzieht, während die andre zur Veredlung der Seele dient, sie vollkommner macht und im Geliebten das Schöne zu zeugen bestimmt ist. Die wahre Liebe ist deshalb die Liebe zum Jüngling, und sie wird praktisch in der Darstellung des Schönen in Sitte und Kunst. Dann aus der Rede des mantineischen Weibes die Aufzeigung des Stufenganges der Liebe: erst die Liebe zu schönen Gestalten, zu einer, zu zweien, zu vielen, zu allen; sodann die Liebe zum Schönen der Seelen, die sich in edeln Reden und Bestrebungen bethätigt, und weiter zum Schönen, in welcher Gestalt es immer auf Erden zu finden ist, zum ganzen Meer des Schönen; endlich aber die Liebe, die über-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/467
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/467>, abgerufen am 28.07.2024.