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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Die Gedichte Michelangelos

Haupt nicht auf Einzelnes gerichtet ist, sondern auf das Schöne an sich, das
nicht wächst noch schwindet, die ewig sich selbst gleiche Urgestalt des Schönen,
die nicht in leiblicher Gestalt erscheint, an der aber alles Einzelschöne teil
hat. Sätze, die sich in dem Grundgedanken zusammenfassen lassen: Erhebung
der Seele zum Genuß der ewigen Schönheit, die aber vermittelt ist durch das
mit den Augen wahrgenommne Schöne der irdischen Körperwelt.

Michelangelo lebte vom fünfzehnten bis siebzehnten Jahre im Hause
Lorenzos von Medici und wurde hier wie ein Sohn gehalten, zu der Zeit,
da die platonische Akademie in ihrer Blüte stand; er aß an der Tafel des
Magnifico, an der alle Tage hochedle und gelehrte Männer saßen, und er
genoß die Unterweisung Polizicms, der, wie Condivi schreibt, seinen hohen
Sinn erkannte, ihn liebte und anspornte. Wenn seine gedankenschwerer Dich¬
tungen erst in die spätern Jahre fallen, so ist doch nicht ausgeschlossen, daß
Jugendeindrücke dabei wirksam waren. Und neben Dante und Petrarca wird
er immerhin auch Kenntnis von den zeitgenössischen Dichtern gehabt haben.
Warum sollte er z. B. die Asolcmen nicht gekannt haben, die im Jahre 1505
zum erstenmal gedruckt wurden, Bembos weitverbreitetes Werk? So viel als
der ungelehrte Michelangelo aus Platon hat, konnte er ohne besondre Studien
erwerben. Er hatte Freunde, die eifrige Humanisten und Platoniker waren.
Und einmal kann doch auch Frey nicht umhin, eine Stelle aus dem plato¬
nischen Gespräch Kratylos zur Erklärung herbeizuziehen (für ein ziemlich ge¬
schraubtes Sonett auf den Tod der Vittoria Colonna, LI), wobei er annimmt,
daß dem Dichter durch seinen Freund Donati diese Kenntnis zugetragen worden
sei. Man sieht, auf welchen Wegen Michelangelo solche fremden Gedanken
zugekommen sein mögen, und wie er sie benutzte, frei mit ihnen schaltete, sie
in seine Gedanken einflocht. Überhaupt handelt es sich weniger darum, Ent¬
lehnungen nachzuweisen und Parallelstellen aufzufinden: in seiner ganzen Auf¬
fassung der Liebe ist etwas, was an die platonische Denkart erinnert. Mit
Recht hat L. von Scheffler in diesem Sinne von einer Kongenialität der
Ideen, von einem Parallelismus der Lebens- und Liebeszustände geredet.
Was uns über die erotisch gefärbte Bewunderung Michelangelos für männ¬
liche Schönheit und über seinen Verkehr mit jungen Freunden teils aus den
Gedichten, teils aus Briefen und sonstigen Nachrichten bekannt ist, ist für
unsre heutigen Begriffe befremdlich, aber es findet seine Analogie im sokra-
tischen Eros und in den verwandten Anschauungen der Renaissance. Es ist
platonisch gedacht, wenn er einmal geradezu die Liebe zum Jüngling als eine
edlere Art von Liebe der zum Weibe entgegensetzt/') platonisch, wenn seine



Ich kann im Sonett XCI die Worte- Donna ö äissiinil troxxo usw. nicht anders ver¬
stehen als: Eine Frau reicht entfernt nicht an das Ideal, das mir im Geliebten erscheint! die
Liebe zum Weib ist untergeordneter Art, weil sich ihr ein sinnliches Element beimischt. Jede
andre Deutung ist gezwungen.
Die Gedichte Michelangelos

Haupt nicht auf Einzelnes gerichtet ist, sondern auf das Schöne an sich, das
nicht wächst noch schwindet, die ewig sich selbst gleiche Urgestalt des Schönen,
die nicht in leiblicher Gestalt erscheint, an der aber alles Einzelschöne teil
hat. Sätze, die sich in dem Grundgedanken zusammenfassen lassen: Erhebung
der Seele zum Genuß der ewigen Schönheit, die aber vermittelt ist durch das
mit den Augen wahrgenommne Schöne der irdischen Körperwelt.

Michelangelo lebte vom fünfzehnten bis siebzehnten Jahre im Hause
Lorenzos von Medici und wurde hier wie ein Sohn gehalten, zu der Zeit,
da die platonische Akademie in ihrer Blüte stand; er aß an der Tafel des
Magnifico, an der alle Tage hochedle und gelehrte Männer saßen, und er
genoß die Unterweisung Polizicms, der, wie Condivi schreibt, seinen hohen
Sinn erkannte, ihn liebte und anspornte. Wenn seine gedankenschwerer Dich¬
tungen erst in die spätern Jahre fallen, so ist doch nicht ausgeschlossen, daß
Jugendeindrücke dabei wirksam waren. Und neben Dante und Petrarca wird
er immerhin auch Kenntnis von den zeitgenössischen Dichtern gehabt haben.
Warum sollte er z. B. die Asolcmen nicht gekannt haben, die im Jahre 1505
zum erstenmal gedruckt wurden, Bembos weitverbreitetes Werk? So viel als
der ungelehrte Michelangelo aus Platon hat, konnte er ohne besondre Studien
erwerben. Er hatte Freunde, die eifrige Humanisten und Platoniker waren.
Und einmal kann doch auch Frey nicht umhin, eine Stelle aus dem plato¬
nischen Gespräch Kratylos zur Erklärung herbeizuziehen (für ein ziemlich ge¬
schraubtes Sonett auf den Tod der Vittoria Colonna, LI), wobei er annimmt,
daß dem Dichter durch seinen Freund Donati diese Kenntnis zugetragen worden
sei. Man sieht, auf welchen Wegen Michelangelo solche fremden Gedanken
zugekommen sein mögen, und wie er sie benutzte, frei mit ihnen schaltete, sie
in seine Gedanken einflocht. Überhaupt handelt es sich weniger darum, Ent¬
lehnungen nachzuweisen und Parallelstellen aufzufinden: in seiner ganzen Auf¬
fassung der Liebe ist etwas, was an die platonische Denkart erinnert. Mit
Recht hat L. von Scheffler in diesem Sinne von einer Kongenialität der
Ideen, von einem Parallelismus der Lebens- und Liebeszustände geredet.
Was uns über die erotisch gefärbte Bewunderung Michelangelos für männ¬
liche Schönheit und über seinen Verkehr mit jungen Freunden teils aus den
Gedichten, teils aus Briefen und sonstigen Nachrichten bekannt ist, ist für
unsre heutigen Begriffe befremdlich, aber es findet seine Analogie im sokra-
tischen Eros und in den verwandten Anschauungen der Renaissance. Es ist
platonisch gedacht, wenn er einmal geradezu die Liebe zum Jüngling als eine
edlere Art von Liebe der zum Weibe entgegensetzt/') platonisch, wenn seine



Ich kann im Sonett XCI die Worte- Donna ö äissiinil troxxo usw. nicht anders ver¬
stehen als: Eine Frau reicht entfernt nicht an das Ideal, das mir im Geliebten erscheint! die
Liebe zum Weib ist untergeordneter Art, weil sich ihr ein sinnliches Element beimischt. Jede
andre Deutung ist gezwungen.
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[0468] Die Gedichte Michelangelos Haupt nicht auf Einzelnes gerichtet ist, sondern auf das Schöne an sich, das nicht wächst noch schwindet, die ewig sich selbst gleiche Urgestalt des Schönen, die nicht in leiblicher Gestalt erscheint, an der aber alles Einzelschöne teil hat. Sätze, die sich in dem Grundgedanken zusammenfassen lassen: Erhebung der Seele zum Genuß der ewigen Schönheit, die aber vermittelt ist durch das mit den Augen wahrgenommne Schöne der irdischen Körperwelt. Michelangelo lebte vom fünfzehnten bis siebzehnten Jahre im Hause Lorenzos von Medici und wurde hier wie ein Sohn gehalten, zu der Zeit, da die platonische Akademie in ihrer Blüte stand; er aß an der Tafel des Magnifico, an der alle Tage hochedle und gelehrte Männer saßen, und er genoß die Unterweisung Polizicms, der, wie Condivi schreibt, seinen hohen Sinn erkannte, ihn liebte und anspornte. Wenn seine gedankenschwerer Dich¬ tungen erst in die spätern Jahre fallen, so ist doch nicht ausgeschlossen, daß Jugendeindrücke dabei wirksam waren. Und neben Dante und Petrarca wird er immerhin auch Kenntnis von den zeitgenössischen Dichtern gehabt haben. Warum sollte er z. B. die Asolcmen nicht gekannt haben, die im Jahre 1505 zum erstenmal gedruckt wurden, Bembos weitverbreitetes Werk? So viel als der ungelehrte Michelangelo aus Platon hat, konnte er ohne besondre Studien erwerben. Er hatte Freunde, die eifrige Humanisten und Platoniker waren. Und einmal kann doch auch Frey nicht umhin, eine Stelle aus dem plato¬ nischen Gespräch Kratylos zur Erklärung herbeizuziehen (für ein ziemlich ge¬ schraubtes Sonett auf den Tod der Vittoria Colonna, LI), wobei er annimmt, daß dem Dichter durch seinen Freund Donati diese Kenntnis zugetragen worden sei. Man sieht, auf welchen Wegen Michelangelo solche fremden Gedanken zugekommen sein mögen, und wie er sie benutzte, frei mit ihnen schaltete, sie in seine Gedanken einflocht. Überhaupt handelt es sich weniger darum, Ent¬ lehnungen nachzuweisen und Parallelstellen aufzufinden: in seiner ganzen Auf¬ fassung der Liebe ist etwas, was an die platonische Denkart erinnert. Mit Recht hat L. von Scheffler in diesem Sinne von einer Kongenialität der Ideen, von einem Parallelismus der Lebens- und Liebeszustände geredet. Was uns über die erotisch gefärbte Bewunderung Michelangelos für männ¬ liche Schönheit und über seinen Verkehr mit jungen Freunden teils aus den Gedichten, teils aus Briefen und sonstigen Nachrichten bekannt ist, ist für unsre heutigen Begriffe befremdlich, aber es findet seine Analogie im sokra- tischen Eros und in den verwandten Anschauungen der Renaissance. Es ist platonisch gedacht, wenn er einmal geradezu die Liebe zum Jüngling als eine edlere Art von Liebe der zum Weibe entgegensetzt/') platonisch, wenn seine Ich kann im Sonett XCI die Worte- Donna ö äissiinil troxxo usw. nicht anders ver¬ stehen als: Eine Frau reicht entfernt nicht an das Ideal, das mir im Geliebten erscheint! die Liebe zum Weib ist untergeordneter Art, weil sich ihr ein sinnliches Element beimischt. Jede andre Deutung ist gezwungen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/468>, abgerufen am 27.07.2024.