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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

die Gedanken und Bestrebungen vieler zusammenfaßt, und daß diesen vielen
andern seine Gedanken und Bestrebungen zu gute kommen, entweder indem
sie von ihm belehrt werden, oder indem sie die Erzeugnisse seiner Kunst
genießen, oder indem sie von ihm, wenn er ein Staatsmann, oder ein
Feldherr, oder ein Erfinder ist, praktischen Nutzen ziehen, d. h. also, er ist
groß, nur sofern er den Kleinern dient, sich als Mittel für deren Zwecke
darbietet. Ein großer Mann als ein Stern, der niemand strahlt, ist ein
undenkbarer Gedanke; nicht einmal Gott vermögen wir uns so zu denken; nur
als Schöpfer ist er unsrer Vorstellung einigermaßen zugänglich. So bricht
diese ganze stolze Weisheit zusammen vor dem schlichten Sprüchlein der Bibel:
"Der Reiche und der Arme begegnen sich: Gott hat sie für einander geschaffen."
Was vom Reichen und vom Armen gilt, das gilt vom Herrscher und vom
Unterthan, vom Genie und vom Alltagsmenschen und von allen übrigen
Gegensätzen unter den Menschen. Immerhin war bei dieser Auffassung, da
doch jedes Jahrhundert einige große Männer hervorbringt, der Zweck jedes
Geschlechts von Menschen noch in dieses selbst verlegt. Nach dem Zarathustra
aber sollen alle Menschen, die bisher gelebt haben, nur dazu da gewesen sein,
höhere Wesen zu züchten, von denen aber der Verfasser keine Borstellung zu
geben vermag. Die Ungereimtheit der beiden Gedanken, die in diesem einen
enthalten sind, nämlich des Begriffs eines vollkommnen Menschen, der etwas
andres und höheres wäre, als die großen Männer, die wir kennen, und des
Gedankens, daß diese oder irgend eine Art von Menschen planmäßig gezüchtet
werden könne, habe ich so oft nachgewiesen, daß ich darauf nicht mehr zurück¬
zukommen brauche. Man sieht aus den in den letzten Bünden herausgegebnen
Vorarbeiten zu seinen Werken, namentlich aus den Entwürfen zu Zarathustra,
wie sich Nietzsche abgequält hat, einen Begriff von dem zu gewinnen, was er
in seinem dunkeln Drange ersehnte, wie es ihm aber nicht gelungen ist. Er
hat ja recht, wenn er den Philosophen, den Künstler und den Heiligen als die
höchsten Lebensformen des Menschen bezeichnet -- er hätte auch noch den
großen Staatsmann und Gesetzgeber, den großen Erfinder und Entdecker bei¬
fügen können --, aber Philosophen, Künstler, Heilige, Staatsmänner und Ent¬
decker hat die Vergangenheit genug hervorgebracht, und wir dürfen schon froh
sein, wenn sie die Zukunft in gleicher Zahl und Größe hervorbringt. "Die
körperliche Stärke soll auf der Seite des größten Gedankens sein. Der höhere
Geist an einen schwächlichen nervösen Charakter gebunden -- ist zu beseitigen.
Ziel: Höherbildung des ganzen Leibes und nicht nur des Gehirns. Die
Stärksten an Leib und Seele sind die Besten -- Grundsatz für Zarathustra.
Aus ihnen die höhere Moral, die des Schaffenden: den Menschen nach seinem
Bilde umzuschaffen." So lesen wir XU, 211. Alles ganz gut. Aber mit
starkem Leibe und starkem Geiste kann man ein schlechter Charakter sein, und
den will ein Zarathustra-Nietzsche doch auch nicht. Und außerdem läßt sich


Friedrich Nietzsche

die Gedanken und Bestrebungen vieler zusammenfaßt, und daß diesen vielen
andern seine Gedanken und Bestrebungen zu gute kommen, entweder indem
sie von ihm belehrt werden, oder indem sie die Erzeugnisse seiner Kunst
genießen, oder indem sie von ihm, wenn er ein Staatsmann, oder ein
Feldherr, oder ein Erfinder ist, praktischen Nutzen ziehen, d. h. also, er ist
groß, nur sofern er den Kleinern dient, sich als Mittel für deren Zwecke
darbietet. Ein großer Mann als ein Stern, der niemand strahlt, ist ein
undenkbarer Gedanke; nicht einmal Gott vermögen wir uns so zu denken; nur
als Schöpfer ist er unsrer Vorstellung einigermaßen zugänglich. So bricht
diese ganze stolze Weisheit zusammen vor dem schlichten Sprüchlein der Bibel:
„Der Reiche und der Arme begegnen sich: Gott hat sie für einander geschaffen."
Was vom Reichen und vom Armen gilt, das gilt vom Herrscher und vom
Unterthan, vom Genie und vom Alltagsmenschen und von allen übrigen
Gegensätzen unter den Menschen. Immerhin war bei dieser Auffassung, da
doch jedes Jahrhundert einige große Männer hervorbringt, der Zweck jedes
Geschlechts von Menschen noch in dieses selbst verlegt. Nach dem Zarathustra
aber sollen alle Menschen, die bisher gelebt haben, nur dazu da gewesen sein,
höhere Wesen zu züchten, von denen aber der Verfasser keine Borstellung zu
geben vermag. Die Ungereimtheit der beiden Gedanken, die in diesem einen
enthalten sind, nämlich des Begriffs eines vollkommnen Menschen, der etwas
andres und höheres wäre, als die großen Männer, die wir kennen, und des
Gedankens, daß diese oder irgend eine Art von Menschen planmäßig gezüchtet
werden könne, habe ich so oft nachgewiesen, daß ich darauf nicht mehr zurück¬
zukommen brauche. Man sieht aus den in den letzten Bünden herausgegebnen
Vorarbeiten zu seinen Werken, namentlich aus den Entwürfen zu Zarathustra,
wie sich Nietzsche abgequält hat, einen Begriff von dem zu gewinnen, was er
in seinem dunkeln Drange ersehnte, wie es ihm aber nicht gelungen ist. Er
hat ja recht, wenn er den Philosophen, den Künstler und den Heiligen als die
höchsten Lebensformen des Menschen bezeichnet — er hätte auch noch den
großen Staatsmann und Gesetzgeber, den großen Erfinder und Entdecker bei¬
fügen können —, aber Philosophen, Künstler, Heilige, Staatsmänner und Ent¬
decker hat die Vergangenheit genug hervorgebracht, und wir dürfen schon froh
sein, wenn sie die Zukunft in gleicher Zahl und Größe hervorbringt. „Die
körperliche Stärke soll auf der Seite des größten Gedankens sein. Der höhere
Geist an einen schwächlichen nervösen Charakter gebunden — ist zu beseitigen.
Ziel: Höherbildung des ganzen Leibes und nicht nur des Gehirns. Die
Stärksten an Leib und Seele sind die Besten — Grundsatz für Zarathustra.
Aus ihnen die höhere Moral, die des Schaffenden: den Menschen nach seinem
Bilde umzuschaffen." So lesen wir XU, 211. Alles ganz gut. Aber mit
starkem Leibe und starkem Geiste kann man ein schlechter Charakter sein, und
den will ein Zarathustra-Nietzsche doch auch nicht. Und außerdem läßt sich


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[0312] Friedrich Nietzsche die Gedanken und Bestrebungen vieler zusammenfaßt, und daß diesen vielen andern seine Gedanken und Bestrebungen zu gute kommen, entweder indem sie von ihm belehrt werden, oder indem sie die Erzeugnisse seiner Kunst genießen, oder indem sie von ihm, wenn er ein Staatsmann, oder ein Feldherr, oder ein Erfinder ist, praktischen Nutzen ziehen, d. h. also, er ist groß, nur sofern er den Kleinern dient, sich als Mittel für deren Zwecke darbietet. Ein großer Mann als ein Stern, der niemand strahlt, ist ein undenkbarer Gedanke; nicht einmal Gott vermögen wir uns so zu denken; nur als Schöpfer ist er unsrer Vorstellung einigermaßen zugänglich. So bricht diese ganze stolze Weisheit zusammen vor dem schlichten Sprüchlein der Bibel: „Der Reiche und der Arme begegnen sich: Gott hat sie für einander geschaffen." Was vom Reichen und vom Armen gilt, das gilt vom Herrscher und vom Unterthan, vom Genie und vom Alltagsmenschen und von allen übrigen Gegensätzen unter den Menschen. Immerhin war bei dieser Auffassung, da doch jedes Jahrhundert einige große Männer hervorbringt, der Zweck jedes Geschlechts von Menschen noch in dieses selbst verlegt. Nach dem Zarathustra aber sollen alle Menschen, die bisher gelebt haben, nur dazu da gewesen sein, höhere Wesen zu züchten, von denen aber der Verfasser keine Borstellung zu geben vermag. Die Ungereimtheit der beiden Gedanken, die in diesem einen enthalten sind, nämlich des Begriffs eines vollkommnen Menschen, der etwas andres und höheres wäre, als die großen Männer, die wir kennen, und des Gedankens, daß diese oder irgend eine Art von Menschen planmäßig gezüchtet werden könne, habe ich so oft nachgewiesen, daß ich darauf nicht mehr zurück¬ zukommen brauche. Man sieht aus den in den letzten Bünden herausgegebnen Vorarbeiten zu seinen Werken, namentlich aus den Entwürfen zu Zarathustra, wie sich Nietzsche abgequält hat, einen Begriff von dem zu gewinnen, was er in seinem dunkeln Drange ersehnte, wie es ihm aber nicht gelungen ist. Er hat ja recht, wenn er den Philosophen, den Künstler und den Heiligen als die höchsten Lebensformen des Menschen bezeichnet — er hätte auch noch den großen Staatsmann und Gesetzgeber, den großen Erfinder und Entdecker bei¬ fügen können —, aber Philosophen, Künstler, Heilige, Staatsmänner und Ent¬ decker hat die Vergangenheit genug hervorgebracht, und wir dürfen schon froh sein, wenn sie die Zukunft in gleicher Zahl und Größe hervorbringt. „Die körperliche Stärke soll auf der Seite des größten Gedankens sein. Der höhere Geist an einen schwächlichen nervösen Charakter gebunden — ist zu beseitigen. Ziel: Höherbildung des ganzen Leibes und nicht nur des Gehirns. Die Stärksten an Leib und Seele sind die Besten — Grundsatz für Zarathustra. Aus ihnen die höhere Moral, die des Schaffenden: den Menschen nach seinem Bilde umzuschaffen." So lesen wir XU, 211. Alles ganz gut. Aber mit starkem Leibe und starkem Geiste kann man ein schlechter Charakter sein, und den will ein Zarathustra-Nietzsche doch auch nicht. Und außerdem läßt sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/312>, abgerufen am 28.07.2024.