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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

die durch Poesie belehren wollten, haben als Einkleidung Menschen gewühlt,
die wirklich gelebt haben, und Ereignisse, die wirklich geschehen sind, oder
Menschen und Ereignisse, die wirklich gelebt haben und geschehen sein könnten.
Aber im Zarathustra treten Gestalten auf, die niemals gelebt haben können,
und führen auf unirdischen Schauplätzen Begebenheiten auf, die sich niemals
ereignen werden; auch Tiere handeln mit. Kurzum, er ist ein Märchen. Nun
mag ein großer Dichter in seine größern Werke Märchen einstreuen, aber einem
dicken Buche die Form eines Märchens geben und erwarten, daß es eines der
großen Bücher werden werde, die durch die Jahrhunderte leben und wirken,
das ist eine arge Selbsttäuschung. Ein reiches Buch ist der Zarathustra; er
enthält den Stoff zu vielen Büchern, die sehr schön und nützlich werden
könnten. Schade, daß Nietzsche keins davon geschrieben hat. Er sagt einmal,
Lessing habe sein bestes Buch, das Buch, das zu schreiben er eigentlich berufen
war, nicht geschrieben. Ob das von Lessing wahr ist, weiß ich nicht, aber von
Nietzsche gilt es. Es gehört zur Tragik seines Lebens, daß sich seine Arbeit
in Aphorismen und in mystische Träumereien verloren hat, während er ein
wissenschaftliches Werk ersten Ranges und ein Kunstwerk ersten Ranges hätte
schaffen können. Daß er zum ersten befähigt war, beweisen seine Geburt der
Tragödie und das posthum veröffentlichte Bruchstück der Geschichte der alt¬
griechischen Philosophie; seine poetische Gestaltungskraft aber wird außer im
Zarathustra in seinen Gedichten und in der dramatischen Einkleidung der Vor¬
träge über die Zukunft unsrer Bildungsanstalten sichtbar.

Was nun den Hauptpunkt der Lehre betrifft, die Zarathustra vorträgt,
so ist zunächst die Ansicht abzuweisen, die eine Vorstufe dazu ist, daß das
Volk nur um der paar großen Männer willen da sei, die es hervorbringt.
"Das Volk ist der Umschweif der Natur, um zu sechs, sieben großen Männern
zu kommen" (VII, 102). Die Modernen thun sich soviel darauf zu gute, daß
sie den "anthropozentrischen" Standpunkt überwunden haben und sich nicht
mehr hochmütig einbilden, das Rindvieh sei um des Menschen willen da.
während doch der Ochse so gut wie der Affe des Menschen gleichberechtigter
Bruder sei; und hier lehrt nun einer von ihnen, daß auch nicht einmal der
durchschnittliche Mensch um seiner selbst willen da sei, sondern nur für die
wohlgeratensten Exemplare seiner Gattung. Was hätte denn der große Mann
als Selbstzweck für einen Sinn, wenn alle andern Menschen nur Mittel für
ihn wären?*) Worin besteht denn seine Größe? Doch wohl darin, daß er



Hier ist das Mittel sein in einem andern Sinne zu verstehen wie in dem im ersten
Artikel angeführten Ausspruche Treitschkes. Was dessen Ansicht anlangt, so hat schon Schmoller
dagegen eingewandt, daß gerade die größten Geister nur ein bescheidnes Maß an irdischen Gütern
bedürfen, und daß sich ihretwegen wahrhaftig nicht Tausende von Arbeitern zu Tode zu placken
brauchten. Ob die, die solche Opfer fordern, z. B. die ungarischen und die italienischen Gro߬
grundbesitzer, "höhere Menschen" sind, mögen solche entscheiden, die sie näher kennen.
Friedrich Nietzsche

die durch Poesie belehren wollten, haben als Einkleidung Menschen gewühlt,
die wirklich gelebt haben, und Ereignisse, die wirklich geschehen sind, oder
Menschen und Ereignisse, die wirklich gelebt haben und geschehen sein könnten.
Aber im Zarathustra treten Gestalten auf, die niemals gelebt haben können,
und führen auf unirdischen Schauplätzen Begebenheiten auf, die sich niemals
ereignen werden; auch Tiere handeln mit. Kurzum, er ist ein Märchen. Nun
mag ein großer Dichter in seine größern Werke Märchen einstreuen, aber einem
dicken Buche die Form eines Märchens geben und erwarten, daß es eines der
großen Bücher werden werde, die durch die Jahrhunderte leben und wirken,
das ist eine arge Selbsttäuschung. Ein reiches Buch ist der Zarathustra; er
enthält den Stoff zu vielen Büchern, die sehr schön und nützlich werden
könnten. Schade, daß Nietzsche keins davon geschrieben hat. Er sagt einmal,
Lessing habe sein bestes Buch, das Buch, das zu schreiben er eigentlich berufen
war, nicht geschrieben. Ob das von Lessing wahr ist, weiß ich nicht, aber von
Nietzsche gilt es. Es gehört zur Tragik seines Lebens, daß sich seine Arbeit
in Aphorismen und in mystische Träumereien verloren hat, während er ein
wissenschaftliches Werk ersten Ranges und ein Kunstwerk ersten Ranges hätte
schaffen können. Daß er zum ersten befähigt war, beweisen seine Geburt der
Tragödie und das posthum veröffentlichte Bruchstück der Geschichte der alt¬
griechischen Philosophie; seine poetische Gestaltungskraft aber wird außer im
Zarathustra in seinen Gedichten und in der dramatischen Einkleidung der Vor¬
träge über die Zukunft unsrer Bildungsanstalten sichtbar.

Was nun den Hauptpunkt der Lehre betrifft, die Zarathustra vorträgt,
so ist zunächst die Ansicht abzuweisen, die eine Vorstufe dazu ist, daß das
Volk nur um der paar großen Männer willen da sei, die es hervorbringt.
„Das Volk ist der Umschweif der Natur, um zu sechs, sieben großen Männern
zu kommen" (VII, 102). Die Modernen thun sich soviel darauf zu gute, daß
sie den „anthropozentrischen" Standpunkt überwunden haben und sich nicht
mehr hochmütig einbilden, das Rindvieh sei um des Menschen willen da.
während doch der Ochse so gut wie der Affe des Menschen gleichberechtigter
Bruder sei; und hier lehrt nun einer von ihnen, daß auch nicht einmal der
durchschnittliche Mensch um seiner selbst willen da sei, sondern nur für die
wohlgeratensten Exemplare seiner Gattung. Was hätte denn der große Mann
als Selbstzweck für einen Sinn, wenn alle andern Menschen nur Mittel für
ihn wären?*) Worin besteht denn seine Größe? Doch wohl darin, daß er



Hier ist das Mittel sein in einem andern Sinne zu verstehen wie in dem im ersten
Artikel angeführten Ausspruche Treitschkes. Was dessen Ansicht anlangt, so hat schon Schmoller
dagegen eingewandt, daß gerade die größten Geister nur ein bescheidnes Maß an irdischen Gütern
bedürfen, und daß sich ihretwegen wahrhaftig nicht Tausende von Arbeitern zu Tode zu placken
brauchten. Ob die, die solche Opfer fordern, z. B. die ungarischen und die italienischen Gro߬
grundbesitzer, „höhere Menschen" sind, mögen solche entscheiden, die sie näher kennen.
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[0311] Friedrich Nietzsche die durch Poesie belehren wollten, haben als Einkleidung Menschen gewühlt, die wirklich gelebt haben, und Ereignisse, die wirklich geschehen sind, oder Menschen und Ereignisse, die wirklich gelebt haben und geschehen sein könnten. Aber im Zarathustra treten Gestalten auf, die niemals gelebt haben können, und führen auf unirdischen Schauplätzen Begebenheiten auf, die sich niemals ereignen werden; auch Tiere handeln mit. Kurzum, er ist ein Märchen. Nun mag ein großer Dichter in seine größern Werke Märchen einstreuen, aber einem dicken Buche die Form eines Märchens geben und erwarten, daß es eines der großen Bücher werden werde, die durch die Jahrhunderte leben und wirken, das ist eine arge Selbsttäuschung. Ein reiches Buch ist der Zarathustra; er enthält den Stoff zu vielen Büchern, die sehr schön und nützlich werden könnten. Schade, daß Nietzsche keins davon geschrieben hat. Er sagt einmal, Lessing habe sein bestes Buch, das Buch, das zu schreiben er eigentlich berufen war, nicht geschrieben. Ob das von Lessing wahr ist, weiß ich nicht, aber von Nietzsche gilt es. Es gehört zur Tragik seines Lebens, daß sich seine Arbeit in Aphorismen und in mystische Träumereien verloren hat, während er ein wissenschaftliches Werk ersten Ranges und ein Kunstwerk ersten Ranges hätte schaffen können. Daß er zum ersten befähigt war, beweisen seine Geburt der Tragödie und das posthum veröffentlichte Bruchstück der Geschichte der alt¬ griechischen Philosophie; seine poetische Gestaltungskraft aber wird außer im Zarathustra in seinen Gedichten und in der dramatischen Einkleidung der Vor¬ träge über die Zukunft unsrer Bildungsanstalten sichtbar. Was nun den Hauptpunkt der Lehre betrifft, die Zarathustra vorträgt, so ist zunächst die Ansicht abzuweisen, die eine Vorstufe dazu ist, daß das Volk nur um der paar großen Männer willen da sei, die es hervorbringt. „Das Volk ist der Umschweif der Natur, um zu sechs, sieben großen Männern zu kommen" (VII, 102). Die Modernen thun sich soviel darauf zu gute, daß sie den „anthropozentrischen" Standpunkt überwunden haben und sich nicht mehr hochmütig einbilden, das Rindvieh sei um des Menschen willen da. während doch der Ochse so gut wie der Affe des Menschen gleichberechtigter Bruder sei; und hier lehrt nun einer von ihnen, daß auch nicht einmal der durchschnittliche Mensch um seiner selbst willen da sei, sondern nur für die wohlgeratensten Exemplare seiner Gattung. Was hätte denn der große Mann als Selbstzweck für einen Sinn, wenn alle andern Menschen nur Mittel für ihn wären?*) Worin besteht denn seine Größe? Doch wohl darin, daß er Hier ist das Mittel sein in einem andern Sinne zu verstehen wie in dem im ersten Artikel angeführten Ausspruche Treitschkes. Was dessen Ansicht anlangt, so hat schon Schmoller dagegen eingewandt, daß gerade die größten Geister nur ein bescheidnes Maß an irdischen Gütern bedürfen, und daß sich ihretwegen wahrhaftig nicht Tausende von Arbeitern zu Tode zu placken brauchten. Ob die, die solche Opfer fordern, z. B. die ungarischen und die italienischen Gro߬ grundbesitzer, „höhere Menschen" sind, mögen solche entscheiden, die sie näher kennen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/311>, abgerufen am 28.07.2024.