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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

die Natur in ihrem Walten beim Zeugungsakte nicht zwingen. Alle vernünf¬
tigen Eltern wünschen, daß ihre Kinder an Leib und Geist recht kräftig aus¬
fallen möchten, aber kein Wünschen und keine noch so gewissenhafte Meidung
jedes bewußten Verschuldens sichern den Erfolg. Manchmal gerät der Leib
stark und der Geist schwach, manchmal der Geist stark und der Leib schwach.
Und die großen Genies haben meistens mittelmäßige, manchmal ungeratne
Kinder, und der Fall, daß der Sohn eines Großgeistes wieder ein Großgeist
gewesen wäre, ist meines Wissens überhaupt noch nicht da gewesen, womit
allein schon alle Züchtungsphantastercien abgethan sind. Es scheint, daß Grvß-
geister nur von Eltern gezeugt werden können, die ausgeruhte Gehirne haben
und eben deswegen keine Großgeister sind, und daß die Großgeister eben des¬
wegen, weil ihre Gehirne übermäßig angestrengt werden, keine sonderlich be¬
deutenden Söhne zeugen können. Es ist auch fraglich, ob die höchsten Grade
geistiger Feinheit mit höchster Körperstärke vereinbar sind, und ob es möglich
ist, daß ein Gelehrter, der mit ungeheurer Arbeit eine gewaltige Lebensaufgabe
zu vollbringen hat, selbst bei angeborner guter Körperanlage ein Herkules oder
Apollo werden oder bleiben kann.

Kurz vor der zuletzt erwähnten Stelle hat er bemerkt, daß heute zwei
entgegengesetzte Bewegungen thätig seien, die nivellirende, die auf allgemeine
Mittelmäßigkeit abziele, und die seine, die die Gegensätze verschärfe und die
Klüfte vertiefe. Jene erzeuge den letzten Menschen, diese den Übermenschen.
Es sei nicht das Ziel, die zweite Art Menschen als Herren der ersten aufzu¬
fassen, vielmehr sollen beide Arten möglichst getrennt neben einander leben, die
zweiten sollen sich wie epikuräische Götter um die ersten gar nicht kümmern.
Ein vollkommen unsinniger Gedanke! Womit würden sich diese Halbgötter
wohl die Zeit vertreiben, und wovon würden sie leben? Schon drei Seiten
weiter findet er denn auch, daß die Übermenschen nicht ohne Sklaven bestehen
könnten, daß sie also die Herren der andern Menschenart würden sein müssen.
Und daran schließt sich ein sehr schöner Gedanke: "Die Arbeiter sollen einmal
leben wie jetzt die Bürger, aber über ihnen die höhere Kaste, sich auszeichnend
durch Bedürfnislosigkeit: also ärmer und einfacher, doch im Besitz der Macht."
Also keine Borgias, sondern antike Philosophen oder christliche Heilige! Was
Männer wie Nietzsche am heutigen Leben ganz besonders anwidern muß, das
ist sein vollendeter Gegensatz zu jenen beiden Idealen. Im klassischen Hellas
und im Neuen Testament gilt die Persönlichkeit, sonst nichts. Sokrates ist
der Abgott der vornehmsten Jünglinge, obwohl er in einem schmutzigen, ge¬
flickten Mantel einhergeht und der ärmste der Athener ist, und Epaminondas,
der größte Feldherr seiner Zeit und von allen Griechen wie von den Barbaren
gleich verehrt, kann das Haus nicht verlassen, wenn sein Obergewand gewaschen
wird, weil er kein zweites hat. Der Mann, der heute in Staat und Gesell¬
schaft gilt, ist ein Wust von Häusern, Prunkgeräten, Herren- und Damen-


Gren,boten III 1898 39
Friedrich Nietzsche

die Natur in ihrem Walten beim Zeugungsakte nicht zwingen. Alle vernünf¬
tigen Eltern wünschen, daß ihre Kinder an Leib und Geist recht kräftig aus¬
fallen möchten, aber kein Wünschen und keine noch so gewissenhafte Meidung
jedes bewußten Verschuldens sichern den Erfolg. Manchmal gerät der Leib
stark und der Geist schwach, manchmal der Geist stark und der Leib schwach.
Und die großen Genies haben meistens mittelmäßige, manchmal ungeratne
Kinder, und der Fall, daß der Sohn eines Großgeistes wieder ein Großgeist
gewesen wäre, ist meines Wissens überhaupt noch nicht da gewesen, womit
allein schon alle Züchtungsphantastercien abgethan sind. Es scheint, daß Grvß-
geister nur von Eltern gezeugt werden können, die ausgeruhte Gehirne haben
und eben deswegen keine Großgeister sind, und daß die Großgeister eben des¬
wegen, weil ihre Gehirne übermäßig angestrengt werden, keine sonderlich be¬
deutenden Söhne zeugen können. Es ist auch fraglich, ob die höchsten Grade
geistiger Feinheit mit höchster Körperstärke vereinbar sind, und ob es möglich
ist, daß ein Gelehrter, der mit ungeheurer Arbeit eine gewaltige Lebensaufgabe
zu vollbringen hat, selbst bei angeborner guter Körperanlage ein Herkules oder
Apollo werden oder bleiben kann.

Kurz vor der zuletzt erwähnten Stelle hat er bemerkt, daß heute zwei
entgegengesetzte Bewegungen thätig seien, die nivellirende, die auf allgemeine
Mittelmäßigkeit abziele, und die seine, die die Gegensätze verschärfe und die
Klüfte vertiefe. Jene erzeuge den letzten Menschen, diese den Übermenschen.
Es sei nicht das Ziel, die zweite Art Menschen als Herren der ersten aufzu¬
fassen, vielmehr sollen beide Arten möglichst getrennt neben einander leben, die
zweiten sollen sich wie epikuräische Götter um die ersten gar nicht kümmern.
Ein vollkommen unsinniger Gedanke! Womit würden sich diese Halbgötter
wohl die Zeit vertreiben, und wovon würden sie leben? Schon drei Seiten
weiter findet er denn auch, daß die Übermenschen nicht ohne Sklaven bestehen
könnten, daß sie also die Herren der andern Menschenart würden sein müssen.
Und daran schließt sich ein sehr schöner Gedanke: „Die Arbeiter sollen einmal
leben wie jetzt die Bürger, aber über ihnen die höhere Kaste, sich auszeichnend
durch Bedürfnislosigkeit: also ärmer und einfacher, doch im Besitz der Macht."
Also keine Borgias, sondern antike Philosophen oder christliche Heilige! Was
Männer wie Nietzsche am heutigen Leben ganz besonders anwidern muß, das
ist sein vollendeter Gegensatz zu jenen beiden Idealen. Im klassischen Hellas
und im Neuen Testament gilt die Persönlichkeit, sonst nichts. Sokrates ist
der Abgott der vornehmsten Jünglinge, obwohl er in einem schmutzigen, ge¬
flickten Mantel einhergeht und der ärmste der Athener ist, und Epaminondas,
der größte Feldherr seiner Zeit und von allen Griechen wie von den Barbaren
gleich verehrt, kann das Haus nicht verlassen, wenn sein Obergewand gewaschen
wird, weil er kein zweites hat. Der Mann, der heute in Staat und Gesell¬
schaft gilt, ist ein Wust von Häusern, Prunkgeräten, Herren- und Damen-


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[0313] Friedrich Nietzsche die Natur in ihrem Walten beim Zeugungsakte nicht zwingen. Alle vernünf¬ tigen Eltern wünschen, daß ihre Kinder an Leib und Geist recht kräftig aus¬ fallen möchten, aber kein Wünschen und keine noch so gewissenhafte Meidung jedes bewußten Verschuldens sichern den Erfolg. Manchmal gerät der Leib stark und der Geist schwach, manchmal der Geist stark und der Leib schwach. Und die großen Genies haben meistens mittelmäßige, manchmal ungeratne Kinder, und der Fall, daß der Sohn eines Großgeistes wieder ein Großgeist gewesen wäre, ist meines Wissens überhaupt noch nicht da gewesen, womit allein schon alle Züchtungsphantastercien abgethan sind. Es scheint, daß Grvß- geister nur von Eltern gezeugt werden können, die ausgeruhte Gehirne haben und eben deswegen keine Großgeister sind, und daß die Großgeister eben des¬ wegen, weil ihre Gehirne übermäßig angestrengt werden, keine sonderlich be¬ deutenden Söhne zeugen können. Es ist auch fraglich, ob die höchsten Grade geistiger Feinheit mit höchster Körperstärke vereinbar sind, und ob es möglich ist, daß ein Gelehrter, der mit ungeheurer Arbeit eine gewaltige Lebensaufgabe zu vollbringen hat, selbst bei angeborner guter Körperanlage ein Herkules oder Apollo werden oder bleiben kann. Kurz vor der zuletzt erwähnten Stelle hat er bemerkt, daß heute zwei entgegengesetzte Bewegungen thätig seien, die nivellirende, die auf allgemeine Mittelmäßigkeit abziele, und die seine, die die Gegensätze verschärfe und die Klüfte vertiefe. Jene erzeuge den letzten Menschen, diese den Übermenschen. Es sei nicht das Ziel, die zweite Art Menschen als Herren der ersten aufzu¬ fassen, vielmehr sollen beide Arten möglichst getrennt neben einander leben, die zweiten sollen sich wie epikuräische Götter um die ersten gar nicht kümmern. Ein vollkommen unsinniger Gedanke! Womit würden sich diese Halbgötter wohl die Zeit vertreiben, und wovon würden sie leben? Schon drei Seiten weiter findet er denn auch, daß die Übermenschen nicht ohne Sklaven bestehen könnten, daß sie also die Herren der andern Menschenart würden sein müssen. Und daran schließt sich ein sehr schöner Gedanke: „Die Arbeiter sollen einmal leben wie jetzt die Bürger, aber über ihnen die höhere Kaste, sich auszeichnend durch Bedürfnislosigkeit: also ärmer und einfacher, doch im Besitz der Macht." Also keine Borgias, sondern antike Philosophen oder christliche Heilige! Was Männer wie Nietzsche am heutigen Leben ganz besonders anwidern muß, das ist sein vollendeter Gegensatz zu jenen beiden Idealen. Im klassischen Hellas und im Neuen Testament gilt die Persönlichkeit, sonst nichts. Sokrates ist der Abgott der vornehmsten Jünglinge, obwohl er in einem schmutzigen, ge¬ flickten Mantel einhergeht und der ärmste der Athener ist, und Epaminondas, der größte Feldherr seiner Zeit und von allen Griechen wie von den Barbaren gleich verehrt, kann das Haus nicht verlassen, wenn sein Obergewand gewaschen wird, weil er kein zweites hat. Der Mann, der heute in Staat und Gesell¬ schaft gilt, ist ein Wust von Häusern, Prunkgeräten, Herren- und Damen- Gren,boten III 1898 39

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/313>, abgerufen am 28.07.2024.