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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

der Verheißung zu zeigen versprach, war ein falscher Prophet. Das so be¬
titelte Buch ist ein symbolisches Gedicht, dessen Held alle Seelennöte Nietzsches
durchlebt, sich und den Menschen gern helfen möchte und zuletzt als Lösung
des Welträtsels findet, daß die gegenwärtig lebende Menschheit noch nicht das
Ziel der irdischen Entwicklung, sondern dazu berufen sei, eine höhere Gattung
Wesen zu "züchten," den Übermenschen, zu dem sich der jetzige Mensch ver¬
halte, wie zu ihm der Affe und zum Affen der Wurm; dieser jetzige Mensch,
der selbst noch zu sehr Affe und Wurm sei, müsse überwunden werden. Was
jetzt an Hervorragendem vorhanden ist, das tauge alles noch nichts; auch "die
höhern Menschen stinken," und die Freidenker sind Hanswurste. Nietzsche rühmt
sich, mit seinem Zarathustra den Deutschen das tiefste Buch gegeben zu haben.
Da hat er wohl tief mit dunkel verwechselt; das Tiefe ist manchmal dunkel
-- nicht immer, denn das Wasser der tiefen Alpenseen ist durchsichtig, hell
und klar --, aber das Dunkle ist durchaus nicht immer tief. In dem tiefsten
Buche, der Bibel, ist die Zahl der dunkeln Stellen nicht gar groß, und diese
dunkeln läßt man am besten beiseite liegen. Gerade die klaren, deren nächster
Sinn ohne weiteres einleuchtet, sind die tiefen, d. h. ihr voller Inhalt wird
erst im Laufe der Jahrhunderte ergründet und niemals ganz ausgeschöpft.
So z. B. hat jedermann von Anfang an gewußt, was mit dem Ausdruck "un¬
gerechter Mammon" gemeint ist, aber erst nach achtzehn Jahrhunderten ist die
nationalökonomische Wissenschaft dahin gelangt, zu erklären, daß und warum
es andern als ungerechten Mammon gar nicht geben könne. Und in allen
tiefen Gedichten unsrer großen Dichter ist die Zahl der Stellen sehr gering,
von denen ein verständiger Leser sagen müßte: dabei kann ich mir nichts
denken. Kommen im zweiten Teile des Faust einige solche vor, so bilden die
wahrhaftig nicht das Wertvolle von dem großen Gedicht; vielleicht hat sich der
Altmeister selbst nichts dabei gedacht und sich nur den boshaften Scherz ge¬
macht, der Zunft der Kommentarienschreiber Bündel leeren Strohs zum
Dreschen hinzuwerfen. Im Zarathustra aber sind die Stellen allzu häufig,
an denen sich die gläubigen Verehrer und die tief sein Wollenden verrückt
grübeln können, während die verständigen Leser achselzuckend daran vorüber¬
gehen; z.B. Seite 19: "Ich sage euch: man muß noch Chaos in sich haben,
um einen tanzenden Stern gebären zu können. Wehe! Es kommt die Zeit,
wo der Mensch keinen Stern mehr gebären wird." Zarathustra hat ohne
Zweifel viele poetische Schönheiten und enthält auch eine Menge beherzigens¬
werte Wahrheiten, dieselben, die man auch sonst bei Nietzsche findet; aber ein
Buch, das den Menschen die Bibel oder auch nur Homer, oder Sophokles,
oder Shakespeare, oder Goethe ersetzen, oder auch mir den großen Werken der
Weltlitteratur eingereiht werden könnte, ist es nicht, denn es ist eine ungenie߬
bare Kuriosität. Vierhundertsechsundsiebzig Seiten Rätselbilder, im Propheten¬
tone vorgetragen -- das zu lesen, dazu gehört Überwindung. Große Dichter,


Friedrich Nietzsche

der Verheißung zu zeigen versprach, war ein falscher Prophet. Das so be¬
titelte Buch ist ein symbolisches Gedicht, dessen Held alle Seelennöte Nietzsches
durchlebt, sich und den Menschen gern helfen möchte und zuletzt als Lösung
des Welträtsels findet, daß die gegenwärtig lebende Menschheit noch nicht das
Ziel der irdischen Entwicklung, sondern dazu berufen sei, eine höhere Gattung
Wesen zu „züchten," den Übermenschen, zu dem sich der jetzige Mensch ver¬
halte, wie zu ihm der Affe und zum Affen der Wurm; dieser jetzige Mensch,
der selbst noch zu sehr Affe und Wurm sei, müsse überwunden werden. Was
jetzt an Hervorragendem vorhanden ist, das tauge alles noch nichts; auch „die
höhern Menschen stinken," und die Freidenker sind Hanswurste. Nietzsche rühmt
sich, mit seinem Zarathustra den Deutschen das tiefste Buch gegeben zu haben.
Da hat er wohl tief mit dunkel verwechselt; das Tiefe ist manchmal dunkel
— nicht immer, denn das Wasser der tiefen Alpenseen ist durchsichtig, hell
und klar —, aber das Dunkle ist durchaus nicht immer tief. In dem tiefsten
Buche, der Bibel, ist die Zahl der dunkeln Stellen nicht gar groß, und diese
dunkeln läßt man am besten beiseite liegen. Gerade die klaren, deren nächster
Sinn ohne weiteres einleuchtet, sind die tiefen, d. h. ihr voller Inhalt wird
erst im Laufe der Jahrhunderte ergründet und niemals ganz ausgeschöpft.
So z. B. hat jedermann von Anfang an gewußt, was mit dem Ausdruck „un¬
gerechter Mammon" gemeint ist, aber erst nach achtzehn Jahrhunderten ist die
nationalökonomische Wissenschaft dahin gelangt, zu erklären, daß und warum
es andern als ungerechten Mammon gar nicht geben könne. Und in allen
tiefen Gedichten unsrer großen Dichter ist die Zahl der Stellen sehr gering,
von denen ein verständiger Leser sagen müßte: dabei kann ich mir nichts
denken. Kommen im zweiten Teile des Faust einige solche vor, so bilden die
wahrhaftig nicht das Wertvolle von dem großen Gedicht; vielleicht hat sich der
Altmeister selbst nichts dabei gedacht und sich nur den boshaften Scherz ge¬
macht, der Zunft der Kommentarienschreiber Bündel leeren Strohs zum
Dreschen hinzuwerfen. Im Zarathustra aber sind die Stellen allzu häufig,
an denen sich die gläubigen Verehrer und die tief sein Wollenden verrückt
grübeln können, während die verständigen Leser achselzuckend daran vorüber¬
gehen; z.B. Seite 19: „Ich sage euch: man muß noch Chaos in sich haben,
um einen tanzenden Stern gebären zu können. Wehe! Es kommt die Zeit,
wo der Mensch keinen Stern mehr gebären wird." Zarathustra hat ohne
Zweifel viele poetische Schönheiten und enthält auch eine Menge beherzigens¬
werte Wahrheiten, dieselben, die man auch sonst bei Nietzsche findet; aber ein
Buch, das den Menschen die Bibel oder auch nur Homer, oder Sophokles,
oder Shakespeare, oder Goethe ersetzen, oder auch mir den großen Werken der
Weltlitteratur eingereiht werden könnte, ist es nicht, denn es ist eine ungenie߬
bare Kuriosität. Vierhundertsechsundsiebzig Seiten Rätselbilder, im Propheten¬
tone vorgetragen — das zu lesen, dazu gehört Überwindung. Große Dichter,


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[0310] Friedrich Nietzsche der Verheißung zu zeigen versprach, war ein falscher Prophet. Das so be¬ titelte Buch ist ein symbolisches Gedicht, dessen Held alle Seelennöte Nietzsches durchlebt, sich und den Menschen gern helfen möchte und zuletzt als Lösung des Welträtsels findet, daß die gegenwärtig lebende Menschheit noch nicht das Ziel der irdischen Entwicklung, sondern dazu berufen sei, eine höhere Gattung Wesen zu „züchten," den Übermenschen, zu dem sich der jetzige Mensch ver¬ halte, wie zu ihm der Affe und zum Affen der Wurm; dieser jetzige Mensch, der selbst noch zu sehr Affe und Wurm sei, müsse überwunden werden. Was jetzt an Hervorragendem vorhanden ist, das tauge alles noch nichts; auch „die höhern Menschen stinken," und die Freidenker sind Hanswurste. Nietzsche rühmt sich, mit seinem Zarathustra den Deutschen das tiefste Buch gegeben zu haben. Da hat er wohl tief mit dunkel verwechselt; das Tiefe ist manchmal dunkel — nicht immer, denn das Wasser der tiefen Alpenseen ist durchsichtig, hell und klar —, aber das Dunkle ist durchaus nicht immer tief. In dem tiefsten Buche, der Bibel, ist die Zahl der dunkeln Stellen nicht gar groß, und diese dunkeln läßt man am besten beiseite liegen. Gerade die klaren, deren nächster Sinn ohne weiteres einleuchtet, sind die tiefen, d. h. ihr voller Inhalt wird erst im Laufe der Jahrhunderte ergründet und niemals ganz ausgeschöpft. So z. B. hat jedermann von Anfang an gewußt, was mit dem Ausdruck „un¬ gerechter Mammon" gemeint ist, aber erst nach achtzehn Jahrhunderten ist die nationalökonomische Wissenschaft dahin gelangt, zu erklären, daß und warum es andern als ungerechten Mammon gar nicht geben könne. Und in allen tiefen Gedichten unsrer großen Dichter ist die Zahl der Stellen sehr gering, von denen ein verständiger Leser sagen müßte: dabei kann ich mir nichts denken. Kommen im zweiten Teile des Faust einige solche vor, so bilden die wahrhaftig nicht das Wertvolle von dem großen Gedicht; vielleicht hat sich der Altmeister selbst nichts dabei gedacht und sich nur den boshaften Scherz ge¬ macht, der Zunft der Kommentarienschreiber Bündel leeren Strohs zum Dreschen hinzuwerfen. Im Zarathustra aber sind die Stellen allzu häufig, an denen sich die gläubigen Verehrer und die tief sein Wollenden verrückt grübeln können, während die verständigen Leser achselzuckend daran vorüber¬ gehen; z.B. Seite 19: „Ich sage euch: man muß noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch keinen Stern mehr gebären wird." Zarathustra hat ohne Zweifel viele poetische Schönheiten und enthält auch eine Menge beherzigens¬ werte Wahrheiten, dieselben, die man auch sonst bei Nietzsche findet; aber ein Buch, das den Menschen die Bibel oder auch nur Homer, oder Sophokles, oder Shakespeare, oder Goethe ersetzen, oder auch mir den großen Werken der Weltlitteratur eingereiht werden könnte, ist es nicht, denn es ist eine ungenie߬ bare Kuriosität. Vierhundertsechsundsiebzig Seiten Rätselbilder, im Propheten¬ tone vorgetragen — das zu lesen, dazu gehört Überwindung. Große Dichter,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/310>, abgerufen am 28.07.2024.