Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Friedrich Nietzsche

Wahrlich nicht geheilt, sondern täglich nur ärger werden, daß man sie sich hart¬
näckig verbirgt und jedem, der davon reden will, den Mund verschließt. Und
um dem Manne ganz gerecht zu werden, wollen wir noch einen der Aussprüche
anführen, aus denen hervorgeht, daß seine Seele von Haus aus dem Geiste
des Evangeliums weit mehr verwandt war, als den Adlern, Schlangen,
lachenden Löwen und zweibeinigen Bestien des Zarathustra. "namenlos oder
leicht verspottet leben, zu niedrig, um Neid oder Feindschaft zu erwecken, mit
einem Kopf ohne Fieber, einer Handvoll Wissen und einem Beutel voll Er¬
sahrungen ausgerüstet, gleichsam ein Armenarzt des Geistes sein, und dem und
jenem, dessen Kopf durch Meinungen verstört ist, helfen, ohne daß er recht
merkt, wer ihm geholfen hat! Nicht vor ihm recht haben und einen Sieg
feiern wollen, sondern so zu ihm sprechen, daß er das Rechte nach einem kleinen
unvermerkten Fingerzeig oder Widerspruch sich selber sagt und stolz darüber
fortgeht! Wie eine geringe Herberge sein, die niemanden zurückstößt, der be¬
dürftig ist, die aber hinterher vergessen oder verlacht wird! Nichts voraus
haben, weder die bessere Nahrung, noch die reinere Luft, noch den freudigem
Geist, sondern abgeben, zurückgeben, mitteilen, ärmer werden! Niedrig sein
können, um vielen zugänglich und für niemanden demütigend zu sein! Viel
Unrecht auf sich liegen haben und durch die Wurmgänge aller Art Irrtümer
gekrochen sein, um zu vielen verborgnen Seelen auf ihren geheimen Wegen
gelangen zu köunen! Immer in einer Art Liebe und immer in einer Art
Selbstsucht und Selbstgenießens! Im Besitz einer Herrschaft und zugleich ver¬
borgen und entsagend sein! Beständig in der Sonne und Milde der Armut
liegen und doch die Ausstiege zum Erhabnen in der Nähe wissen! Das wäre
ein Leben! Das wäre ein Grund, lange zu leben!" (IV, 305.) Da haben
wir die Bergpredigt und 2. Korinther 6 noch dazu! Und in den Entwürfen
zu Zarathustra finden wir (XII, 311): "Chor der Narren, das heißt der
Weisen, die froh sind, sich zeitweilig als unwissend und thöricht zu fühlen.
Chor der Armen, das heißt der Geringen, Überflüssigem, deren Joch leicht ist,
die sich als die Reichen fühlen. Erfüllung der Vorrede des ersten Teils: Ich
möchte verschenken und austeilen, bis die Weisen unter den Menschen wieder
einmal ihrer Thorheit und die Armen wieder einmal ihres Reichtums froh
geworden sind."

So hat Nietzsche alle Zweifel, Fragen und Widersprüche der modernen
Welt in seinem Innern gehegt, ohne eine einzige zu lösen, hat alle Seelen¬
nöte des modernen Europäers tiefer als irgend ein andrer empfunden, alle
Nöte eines Mannes, der so glücklich ist, von der schlimmsten der modernen
Furien, der der Sorge um das tägliche Brot, frei zu sein und sich daher den
Luxus gönnen kann, ausschließlich seinen Seelennöten zu leben. Einen Versuch
hat er gemacht, diese Nöte zu überwinden, aber die "Morgenröte," die er so
freudig begrüßte, war nur ein Irrlicht, und Zarathustra, der ihm das Land


Friedrich Nietzsche

Wahrlich nicht geheilt, sondern täglich nur ärger werden, daß man sie sich hart¬
näckig verbirgt und jedem, der davon reden will, den Mund verschließt. Und
um dem Manne ganz gerecht zu werden, wollen wir noch einen der Aussprüche
anführen, aus denen hervorgeht, daß seine Seele von Haus aus dem Geiste
des Evangeliums weit mehr verwandt war, als den Adlern, Schlangen,
lachenden Löwen und zweibeinigen Bestien des Zarathustra. „namenlos oder
leicht verspottet leben, zu niedrig, um Neid oder Feindschaft zu erwecken, mit
einem Kopf ohne Fieber, einer Handvoll Wissen und einem Beutel voll Er¬
sahrungen ausgerüstet, gleichsam ein Armenarzt des Geistes sein, und dem und
jenem, dessen Kopf durch Meinungen verstört ist, helfen, ohne daß er recht
merkt, wer ihm geholfen hat! Nicht vor ihm recht haben und einen Sieg
feiern wollen, sondern so zu ihm sprechen, daß er das Rechte nach einem kleinen
unvermerkten Fingerzeig oder Widerspruch sich selber sagt und stolz darüber
fortgeht! Wie eine geringe Herberge sein, die niemanden zurückstößt, der be¬
dürftig ist, die aber hinterher vergessen oder verlacht wird! Nichts voraus
haben, weder die bessere Nahrung, noch die reinere Luft, noch den freudigem
Geist, sondern abgeben, zurückgeben, mitteilen, ärmer werden! Niedrig sein
können, um vielen zugänglich und für niemanden demütigend zu sein! Viel
Unrecht auf sich liegen haben und durch die Wurmgänge aller Art Irrtümer
gekrochen sein, um zu vielen verborgnen Seelen auf ihren geheimen Wegen
gelangen zu köunen! Immer in einer Art Liebe und immer in einer Art
Selbstsucht und Selbstgenießens! Im Besitz einer Herrschaft und zugleich ver¬
borgen und entsagend sein! Beständig in der Sonne und Milde der Armut
liegen und doch die Ausstiege zum Erhabnen in der Nähe wissen! Das wäre
ein Leben! Das wäre ein Grund, lange zu leben!" (IV, 305.) Da haben
wir die Bergpredigt und 2. Korinther 6 noch dazu! Und in den Entwürfen
zu Zarathustra finden wir (XII, 311): „Chor der Narren, das heißt der
Weisen, die froh sind, sich zeitweilig als unwissend und thöricht zu fühlen.
Chor der Armen, das heißt der Geringen, Überflüssigem, deren Joch leicht ist,
die sich als die Reichen fühlen. Erfüllung der Vorrede des ersten Teils: Ich
möchte verschenken und austeilen, bis die Weisen unter den Menschen wieder
einmal ihrer Thorheit und die Armen wieder einmal ihres Reichtums froh
geworden sind."

So hat Nietzsche alle Zweifel, Fragen und Widersprüche der modernen
Welt in seinem Innern gehegt, ohne eine einzige zu lösen, hat alle Seelen¬
nöte des modernen Europäers tiefer als irgend ein andrer empfunden, alle
Nöte eines Mannes, der so glücklich ist, von der schlimmsten der modernen
Furien, der der Sorge um das tägliche Brot, frei zu sein und sich daher den
Luxus gönnen kann, ausschließlich seinen Seelennöten zu leben. Einen Versuch
hat er gemacht, diese Nöte zu überwinden, aber die „Morgenröte," die er so
freudig begrüßte, war nur ein Irrlicht, und Zarathustra, der ihm das Land


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0309" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/228611"/>
          <fw type="header" place="top"> Friedrich Nietzsche</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1114" prev="#ID_1113"> Wahrlich nicht geheilt, sondern täglich nur ärger werden, daß man sie sich hart¬<lb/>
näckig verbirgt und jedem, der davon reden will, den Mund verschließt. Und<lb/>
um dem Manne ganz gerecht zu werden, wollen wir noch einen der Aussprüche<lb/>
anführen, aus denen hervorgeht, daß seine Seele von Haus aus dem Geiste<lb/>
des Evangeliums weit mehr verwandt war, als den Adlern, Schlangen,<lb/>
lachenden Löwen und zweibeinigen Bestien des Zarathustra. &#x201E;namenlos oder<lb/>
leicht verspottet leben, zu niedrig, um Neid oder Feindschaft zu erwecken, mit<lb/>
einem Kopf ohne Fieber, einer Handvoll Wissen und einem Beutel voll Er¬<lb/>
sahrungen ausgerüstet, gleichsam ein Armenarzt des Geistes sein, und dem und<lb/>
jenem, dessen Kopf durch Meinungen verstört ist, helfen, ohne daß er recht<lb/>
merkt, wer ihm geholfen hat! Nicht vor ihm recht haben und einen Sieg<lb/>
feiern wollen, sondern so zu ihm sprechen, daß er das Rechte nach einem kleinen<lb/>
unvermerkten Fingerzeig oder Widerspruch sich selber sagt und stolz darüber<lb/>
fortgeht! Wie eine geringe Herberge sein, die niemanden zurückstößt, der be¬<lb/>
dürftig ist, die aber hinterher vergessen oder verlacht wird! Nichts voraus<lb/>
haben, weder die bessere Nahrung, noch die reinere Luft, noch den freudigem<lb/>
Geist, sondern abgeben, zurückgeben, mitteilen, ärmer werden! Niedrig sein<lb/>
können, um vielen zugänglich und für niemanden demütigend zu sein! Viel<lb/>
Unrecht auf sich liegen haben und durch die Wurmgänge aller Art Irrtümer<lb/>
gekrochen sein, um zu vielen verborgnen Seelen auf ihren geheimen Wegen<lb/>
gelangen zu köunen! Immer in einer Art Liebe und immer in einer Art<lb/>
Selbstsucht und Selbstgenießens! Im Besitz einer Herrschaft und zugleich ver¬<lb/>
borgen und entsagend sein! Beständig in der Sonne und Milde der Armut<lb/>
liegen und doch die Ausstiege zum Erhabnen in der Nähe wissen! Das wäre<lb/>
ein Leben! Das wäre ein Grund, lange zu leben!" (IV, 305.) Da haben<lb/>
wir die Bergpredigt und 2. Korinther 6 noch dazu! Und in den Entwürfen<lb/>
zu Zarathustra finden wir (XII, 311): &#x201E;Chor der Narren, das heißt der<lb/>
Weisen, die froh sind, sich zeitweilig als unwissend und thöricht zu fühlen.<lb/>
Chor der Armen, das heißt der Geringen, Überflüssigem, deren Joch leicht ist,<lb/>
die sich als die Reichen fühlen. Erfüllung der Vorrede des ersten Teils: Ich<lb/>
möchte verschenken und austeilen, bis die Weisen unter den Menschen wieder<lb/>
einmal ihrer Thorheit und die Armen wieder einmal ihres Reichtums froh<lb/>
geworden sind."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1115" next="#ID_1116"> So hat Nietzsche alle Zweifel, Fragen und Widersprüche der modernen<lb/>
Welt in seinem Innern gehegt, ohne eine einzige zu lösen, hat alle Seelen¬<lb/>
nöte des modernen Europäers tiefer als irgend ein andrer empfunden, alle<lb/>
Nöte eines Mannes, der so glücklich ist, von der schlimmsten der modernen<lb/>
Furien, der der Sorge um das tägliche Brot, frei zu sein und sich daher den<lb/>
Luxus gönnen kann, ausschließlich seinen Seelennöten zu leben. Einen Versuch<lb/>
hat er gemacht, diese Nöte zu überwinden, aber die &#x201E;Morgenröte," die er so<lb/>
freudig begrüßte, war nur ein Irrlicht, und Zarathustra, der ihm das Land</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0309] Friedrich Nietzsche Wahrlich nicht geheilt, sondern täglich nur ärger werden, daß man sie sich hart¬ näckig verbirgt und jedem, der davon reden will, den Mund verschließt. Und um dem Manne ganz gerecht zu werden, wollen wir noch einen der Aussprüche anführen, aus denen hervorgeht, daß seine Seele von Haus aus dem Geiste des Evangeliums weit mehr verwandt war, als den Adlern, Schlangen, lachenden Löwen und zweibeinigen Bestien des Zarathustra. „namenlos oder leicht verspottet leben, zu niedrig, um Neid oder Feindschaft zu erwecken, mit einem Kopf ohne Fieber, einer Handvoll Wissen und einem Beutel voll Er¬ sahrungen ausgerüstet, gleichsam ein Armenarzt des Geistes sein, und dem und jenem, dessen Kopf durch Meinungen verstört ist, helfen, ohne daß er recht merkt, wer ihm geholfen hat! Nicht vor ihm recht haben und einen Sieg feiern wollen, sondern so zu ihm sprechen, daß er das Rechte nach einem kleinen unvermerkten Fingerzeig oder Widerspruch sich selber sagt und stolz darüber fortgeht! Wie eine geringe Herberge sein, die niemanden zurückstößt, der be¬ dürftig ist, die aber hinterher vergessen oder verlacht wird! Nichts voraus haben, weder die bessere Nahrung, noch die reinere Luft, noch den freudigem Geist, sondern abgeben, zurückgeben, mitteilen, ärmer werden! Niedrig sein können, um vielen zugänglich und für niemanden demütigend zu sein! Viel Unrecht auf sich liegen haben und durch die Wurmgänge aller Art Irrtümer gekrochen sein, um zu vielen verborgnen Seelen auf ihren geheimen Wegen gelangen zu köunen! Immer in einer Art Liebe und immer in einer Art Selbstsucht und Selbstgenießens! Im Besitz einer Herrschaft und zugleich ver¬ borgen und entsagend sein! Beständig in der Sonne und Milde der Armut liegen und doch die Ausstiege zum Erhabnen in der Nähe wissen! Das wäre ein Leben! Das wäre ein Grund, lange zu leben!" (IV, 305.) Da haben wir die Bergpredigt und 2. Korinther 6 noch dazu! Und in den Entwürfen zu Zarathustra finden wir (XII, 311): „Chor der Narren, das heißt der Weisen, die froh sind, sich zeitweilig als unwissend und thöricht zu fühlen. Chor der Armen, das heißt der Geringen, Überflüssigem, deren Joch leicht ist, die sich als die Reichen fühlen. Erfüllung der Vorrede des ersten Teils: Ich möchte verschenken und austeilen, bis die Weisen unter den Menschen wieder einmal ihrer Thorheit und die Armen wieder einmal ihres Reichtums froh geworden sind." So hat Nietzsche alle Zweifel, Fragen und Widersprüche der modernen Welt in seinem Innern gehegt, ohne eine einzige zu lösen, hat alle Seelen¬ nöte des modernen Europäers tiefer als irgend ein andrer empfunden, alle Nöte eines Mannes, der so glücklich ist, von der schlimmsten der modernen Furien, der der Sorge um das tägliche Brot, frei zu sein und sich daher den Luxus gönnen kann, ausschließlich seinen Seelennöten zu leben. Einen Versuch hat er gemacht, diese Nöte zu überwinden, aber die „Morgenröte," die er so freudig begrüßte, war nur ein Irrlicht, und Zarathustra, der ihm das Land

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/309
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/309>, abgerufen am 28.07.2024.