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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Kanzler von Müller über Goethe

ihm nicht immer für Urteile letzter Instanz gegolten haben. Und was vollends
Goethes Umgebung anlangt, so steht Müller dieser mit vollendeter Unbefangen¬
heit gegenüber. Meinungsäußerungen über den Sohn und über Frau Ottilien
werden der Regel nach vermieden, wo sie sich aufdrängen, indessen mit einer
Schärfe gefällt, die von der Deferenz des Eckermann der "Gespräche" durchaus
verschieden ist -- beiläufig bemerkt, desselben Eckermann, der Theodor von Bern¬
hardt gegenüber den moralischen Charakter der genannten Dame genau so un¬
günstig beurteilte, wie vor ihm Kräuter und L. Tieck gethan hatten.*)

Der historische Charakter des Müllerschen Buches macht sich aber noch
in andrer Rücksicht geltend. Der Verfasser sagt uns nicht nur, wie er den
wirklichen Goethe unter den wechselnden Verhältnissen eines halben Menschen¬
alters gefunden habe, er läßt ihn in den "Unterhaltungen" so sprechen, wie
er wirklich gesprochen hat. Die majestätisch aufgebauten, in prächtigem Flusse
hinrollenden Perioden des Eckermannschen Goethe sehlen auch bei Müller nicht,
sie sind aber nicht die Regel und stellen sich nur da ein, wo der große alte
Herr ganz er selbst war und sozusagen sx ogMeärs, redete. Die alltägliche
Redeweise ist auch bei Goethe je nach Zeiten und Umständen wechselnd ge¬
wesen. Scherzreden, Lpitusts. ornÄntig. se äiLorvxmtiÄ lösten sich mit Kraft-
und Scheltworten, Jnterjektionen und Donnerwettern ab, die die jedesmalige
Stimmung des Redenden und die begleitenden Umstände deutlich wiedergaben.
Der Gewinn davon stellt sich als doppelter dar. Der Leser erführe nicht nur
im einzelnen, wie Goethe über die einzelnen Dinge gedacht und empfunden hat,
er wird zugleich summarisch darüber orientirt, wo und in welchen Beziehungen
der Mann, der seine gesamte Zeit überragte, Kind dieser Zeit geblieben
war. "Die Strahlenkrone abgenommen" erweisen sich Anschauungen und An¬
gewöhnungen, die wir als spezifisch Goethische zu nehmen und aus Goethes
Persönlichkeit abzuleiten gewohnt sind, als Zeiteigentümlichkeiten, die die ältern
von uns wohl auch bei Vätern und Großvätern zu beobachten Gelegenheit
gehabt haben. Die schlichte, wahrheitsmäßige Art der Müllerschen Darstellung
gewährt in dieser Rücksicht Einblicke, die anderweit nur schwer zu gewinnen sind.
Wenn Goethe (wie oben erwähnt) die Kritik "sür eine bloße Angewöhnung
der Modernen" erklärt, wenn er an den dunkeln Seiten des Menschenlebens so
eilig wie immer möglich vorübergeht, wenn er als Schwerkranker von den
Seinigen verlangt, daß sie "ihre Feste nicht unterbrechen" und den gewohnten
geselligen Unterhaltungen nachgehen sollen -- und wenn er von keinem Ver¬
gangnen, sondern nur von "ewig Neuem" wissen will, so stellt sich das uicht nur
als Ausfluß seiner Persönlichkeit dar: es spiegelt sich darin die Eigentümlichkeit
einer Zeit wieder, deren Eudämonismus uns längst abhanden gekommen ist. --



") Vgl. "Aus dein Leben Theodor von Bernhardis" II, S. 91, 94, IIS (Leipzig,
S, Hirzel,
Kanzler von Müller über Goethe

ihm nicht immer für Urteile letzter Instanz gegolten haben. Und was vollends
Goethes Umgebung anlangt, so steht Müller dieser mit vollendeter Unbefangen¬
heit gegenüber. Meinungsäußerungen über den Sohn und über Frau Ottilien
werden der Regel nach vermieden, wo sie sich aufdrängen, indessen mit einer
Schärfe gefällt, die von der Deferenz des Eckermann der „Gespräche" durchaus
verschieden ist — beiläufig bemerkt, desselben Eckermann, der Theodor von Bern¬
hardt gegenüber den moralischen Charakter der genannten Dame genau so un¬
günstig beurteilte, wie vor ihm Kräuter und L. Tieck gethan hatten.*)

Der historische Charakter des Müllerschen Buches macht sich aber noch
in andrer Rücksicht geltend. Der Verfasser sagt uns nicht nur, wie er den
wirklichen Goethe unter den wechselnden Verhältnissen eines halben Menschen¬
alters gefunden habe, er läßt ihn in den „Unterhaltungen" so sprechen, wie
er wirklich gesprochen hat. Die majestätisch aufgebauten, in prächtigem Flusse
hinrollenden Perioden des Eckermannschen Goethe sehlen auch bei Müller nicht,
sie sind aber nicht die Regel und stellen sich nur da ein, wo der große alte
Herr ganz er selbst war und sozusagen sx ogMeärs, redete. Die alltägliche
Redeweise ist auch bei Goethe je nach Zeiten und Umständen wechselnd ge¬
wesen. Scherzreden, Lpitusts. ornÄntig. se äiLorvxmtiÄ lösten sich mit Kraft-
und Scheltworten, Jnterjektionen und Donnerwettern ab, die die jedesmalige
Stimmung des Redenden und die begleitenden Umstände deutlich wiedergaben.
Der Gewinn davon stellt sich als doppelter dar. Der Leser erführe nicht nur
im einzelnen, wie Goethe über die einzelnen Dinge gedacht und empfunden hat,
er wird zugleich summarisch darüber orientirt, wo und in welchen Beziehungen
der Mann, der seine gesamte Zeit überragte, Kind dieser Zeit geblieben
war. „Die Strahlenkrone abgenommen" erweisen sich Anschauungen und An¬
gewöhnungen, die wir als spezifisch Goethische zu nehmen und aus Goethes
Persönlichkeit abzuleiten gewohnt sind, als Zeiteigentümlichkeiten, die die ältern
von uns wohl auch bei Vätern und Großvätern zu beobachten Gelegenheit
gehabt haben. Die schlichte, wahrheitsmäßige Art der Müllerschen Darstellung
gewährt in dieser Rücksicht Einblicke, die anderweit nur schwer zu gewinnen sind.
Wenn Goethe (wie oben erwähnt) die Kritik „sür eine bloße Angewöhnung
der Modernen" erklärt, wenn er an den dunkeln Seiten des Menschenlebens so
eilig wie immer möglich vorübergeht, wenn er als Schwerkranker von den
Seinigen verlangt, daß sie „ihre Feste nicht unterbrechen" und den gewohnten
geselligen Unterhaltungen nachgehen sollen — und wenn er von keinem Ver¬
gangnen, sondern nur von „ewig Neuem" wissen will, so stellt sich das uicht nur
als Ausfluß seiner Persönlichkeit dar: es spiegelt sich darin die Eigentümlichkeit
einer Zeit wieder, deren Eudämonismus uns längst abhanden gekommen ist. —



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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/292>, abgerufen am 28.07.2024.