Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.Kanzler von Müller über Goethe Bis zu einem gewissen Grade gilt dasselbe von Goethes Stellung zu den Das alles kommt indessen nur beiläufig in Betracht. Gerade die Sicher¬ Kanzler von Müller über Goethe Bis zu einem gewissen Grade gilt dasselbe von Goethes Stellung zu den Das alles kommt indessen nur beiläufig in Betracht. Gerade die Sicher¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0293" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/228595"/> <fw type="header" place="top"> Kanzler von Müller über Goethe</fw><lb/> <p xml:id="ID_1071" prev="#ID_1070"> Bis zu einem gewissen Grade gilt dasselbe von Goethes Stellung zu den<lb/> deutschen politischen und kirchlichen Entwicklungen des neunzehnten Jahrhunderts.<lb/> Der Begriff und die Bedeutung des nationalen Gemeinschaftslebens und der<lb/> Sozialethik hatten dem philosophischen Jahrhundert so weit abgelegen, daß dessen<lb/> großer Sohn es so gut wie ausschließlich mit den Einwirkungen des Zeitalters<lb/> auf die Individuen zu thun hatte. Auf diese Grundanschauung der gesamten<lb/> Zeit ist das Hauptteil dessen zurückzuführen, was gemeinhin als Goethischer Kon¬<lb/> servatismus und Egoismus bezeichnet wird. Auf den im Jahre 1808 gethanen<lb/> Ausspruch, „daß Deutschland nichts und der einzelne Deutsche viel ist," mag<lb/> die Rücksicht auf die damalige Weltlage den maßgebenden Anteil gehabt haben.<lb/> Wenn Goethe es aber noch zwanzig Jahre später als Verdienst rühmt, „niemals<lb/> gegen den übermächtigen Strom der Menge oder des herrschenden Prinzips in<lb/> feindlicher und nutzloser Opposition gestanden zu haben," wenn er jede Oppo¬<lb/> sition „als zuletzt platt und grob" perhorrescirt, und wenn er die Freiheit<lb/> als bloße „Möglichkeit," „unter allen Umständen das Vernünftige zu thun," be¬<lb/> zeichnet — so gemahnt das an Anschauungen, denen man bei Durchschnitts¬<lb/> menschen seiner Zeit beinahe regelmäßig begegnete. Diesen Eindruck hat auch<lb/> der alte Kanzler empfangen, bei dem Klagen über das unerquickliche Vor¬<lb/> drängen politischer Zeitintercsfen keineswegs fehlen, der sich aber im übrigen als<lb/> ein Mann zeigt, der die Erscheinungen der Zeit nach anderm Maßstabe als dem<lb/> des achtzehnten Jahrhunderts bemißt. Während sein großer Freund die Be¬<lb/> deutung der kirchlichen Restaurationsbestrebungcn für das Gemeinschaftsleben<lb/> gründlich genug verkennt, daß er alle Geistlichen, „die nicht wahre Nationalisten<lb/> sind," Betrüger oder Selbstbetrüger schilt, weiß unser Kanzler schon, daß die<lb/> dürre Nüchternheit des Vulgärrationalismus den Gemütsbedürfuissen der Zeit<lb/> nicht mehr genüge, und daß die gepriesene „klare Gediegenheit und aufgeklärte<lb/> Konsequenz" der Rohr und Genossen der Weisheit letzte« Schluß weder auf<lb/> theologischen noch auf kirchlichem Gebiete bedeute.</p><lb/> <p xml:id="ID_1072" next="#ID_1073"> Das alles kommt indessen nur beiläufig in Betracht. Gerade die Sicher¬<lb/> heit, mit der der Verfasser den eignen Standpunkt und das Recht zu un¬<lb/> befangner Beurteilung von Personen und Verhältnissen zu wahren weiß, giebt<lb/> uns einen Maßstab für die Größe und Überlegenheit des Unvergeßlichen,<lb/> dem das Müllersche Erinnerungsbuch gewidmet ist. Mehr als einmal wird der<lb/> Kanzler durch „zweideutige Äußerungen" des Übergewaltigen „beunruhigt" oder<lb/> »tief verwundet," mehr als einmal „tritt ihm vor die Seele, daß man seine<lb/> heiligsten Überzeugungen nicht von irgend eines Menschen — also auch nicht<lb/> von Goethes — Ansichten abhängig machen dürfe"; der Oktober 1817 ist<lb/> wohl auch nicht der einzige Zeitpunkt gewesen, wo er mit dem Freunde wochen¬<lb/> lang „getrotzt" hat — schließlich aber gewinnen Freude und Daukbarkeit für<lb/> die Geschenke, die ihm der Verkehr mit dem wunderbaren Genius bringt, immer<lb/> wieder die Oberhand, und der tüchtige und bescheidne Mann fühlt sich über-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0293]
Kanzler von Müller über Goethe
Bis zu einem gewissen Grade gilt dasselbe von Goethes Stellung zu den
deutschen politischen und kirchlichen Entwicklungen des neunzehnten Jahrhunderts.
Der Begriff und die Bedeutung des nationalen Gemeinschaftslebens und der
Sozialethik hatten dem philosophischen Jahrhundert so weit abgelegen, daß dessen
großer Sohn es so gut wie ausschließlich mit den Einwirkungen des Zeitalters
auf die Individuen zu thun hatte. Auf diese Grundanschauung der gesamten
Zeit ist das Hauptteil dessen zurückzuführen, was gemeinhin als Goethischer Kon¬
servatismus und Egoismus bezeichnet wird. Auf den im Jahre 1808 gethanen
Ausspruch, „daß Deutschland nichts und der einzelne Deutsche viel ist," mag
die Rücksicht auf die damalige Weltlage den maßgebenden Anteil gehabt haben.
Wenn Goethe es aber noch zwanzig Jahre später als Verdienst rühmt, „niemals
gegen den übermächtigen Strom der Menge oder des herrschenden Prinzips in
feindlicher und nutzloser Opposition gestanden zu haben," wenn er jede Oppo¬
sition „als zuletzt platt und grob" perhorrescirt, und wenn er die Freiheit
als bloße „Möglichkeit," „unter allen Umständen das Vernünftige zu thun," be¬
zeichnet — so gemahnt das an Anschauungen, denen man bei Durchschnitts¬
menschen seiner Zeit beinahe regelmäßig begegnete. Diesen Eindruck hat auch
der alte Kanzler empfangen, bei dem Klagen über das unerquickliche Vor¬
drängen politischer Zeitintercsfen keineswegs fehlen, der sich aber im übrigen als
ein Mann zeigt, der die Erscheinungen der Zeit nach anderm Maßstabe als dem
des achtzehnten Jahrhunderts bemißt. Während sein großer Freund die Be¬
deutung der kirchlichen Restaurationsbestrebungcn für das Gemeinschaftsleben
gründlich genug verkennt, daß er alle Geistlichen, „die nicht wahre Nationalisten
sind," Betrüger oder Selbstbetrüger schilt, weiß unser Kanzler schon, daß die
dürre Nüchternheit des Vulgärrationalismus den Gemütsbedürfuissen der Zeit
nicht mehr genüge, und daß die gepriesene „klare Gediegenheit und aufgeklärte
Konsequenz" der Rohr und Genossen der Weisheit letzte« Schluß weder auf
theologischen noch auf kirchlichem Gebiete bedeute.
Das alles kommt indessen nur beiläufig in Betracht. Gerade die Sicher¬
heit, mit der der Verfasser den eignen Standpunkt und das Recht zu un¬
befangner Beurteilung von Personen und Verhältnissen zu wahren weiß, giebt
uns einen Maßstab für die Größe und Überlegenheit des Unvergeßlichen,
dem das Müllersche Erinnerungsbuch gewidmet ist. Mehr als einmal wird der
Kanzler durch „zweideutige Äußerungen" des Übergewaltigen „beunruhigt" oder
»tief verwundet," mehr als einmal „tritt ihm vor die Seele, daß man seine
heiligsten Überzeugungen nicht von irgend eines Menschen — also auch nicht
von Goethes — Ansichten abhängig machen dürfe"; der Oktober 1817 ist
wohl auch nicht der einzige Zeitpunkt gewesen, wo er mit dem Freunde wochen¬
lang „getrotzt" hat — schließlich aber gewinnen Freude und Daukbarkeit für
die Geschenke, die ihm der Verkehr mit dem wunderbaren Genius bringt, immer
wieder die Oberhand, und der tüchtige und bescheidne Mann fühlt sich über-
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