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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Frühlingstage am Garigliano

quer durch Italien ostwärts führende Bahn nach Castellamare Adriatico. Man
benutzt sie bis Avezzmio. Die Bahn von dort ins Liristhal ist seit langer
Zeit im Bau, aber etwas zu voreilig in die Karte des Bädeker von 1396
eingetragen; denn bis heute ist wegen der großen Terrninschwierigkeiten noch
kein Ende des Baues abzusehen. Deshalb muß man die Strecke von Avezzmio
bis Balsorano am Liris (fünfzig Kilometer) zu Fuß oder besser im Wagen
zurücklegen. Und auch weiter abwärts kann man neben der Bahn Wagen
oder Reitesel kaum entbehren, da die Ortschaften oft hoch über der Thalsohle
und dem Niveau der Bahn gelegen sind. Doch ist das Fuhrwerk billig und
meist gut. Für ängstliche Gemüter sei ausdrücklich bemerkt, daß man von den
ehedem berüchtigten Räubern und Briganten der Abruzzen keine Spur findet;
die Vorstädte von Rom und Neapel und die ländliche Umgebung dieser Städte
sind für den Reisenden viel unsichrer als die innern Gebirge, in denen es keine
Fremden und eben deswegen anch keine berufsmüßigen Bettler und Räuber,
sondern fleißige Bauern und schlichte Hirten giebt. Selbstverständlich wird
man gut thun, sich nicht, wie es manche Leute lieben, von oben bis unten mit
Gold und Brillanten zu behängen; denn solcher Glanz, prahlerisch zur Schau
getragen, kann wohl einmal bei einem naturwüchsigen und sonst unverdorbnen
Hirten eine unbezähmbare Habgier erwecken.

Wir verließen Rom in der Frühe des Ostersonnabends und fuhren zu¬
nächst nach dem "kühlen Tibur." Es verdient seinen großen Ruf. Denn es
liegt herrlich am Eingang zu den Sabinerbergen, an einer grünen Schlucht,
in die der zweigeteilte Anio in mächtigen Kaskaden hinunterstürze, sodaß er die
ganze Umgebung durch seinen Wasserstaub feucht und saftig grün erhält. Außer¬
dem liegt auf dem trefflich erhaltenen zierlichen Rundtempel der Sibylle, ferner
in den Trümmern der nahen Riescnvilla Hadrians und der romantischen Ver-
sunkenheit der Villa d'Este soviel zaubervolle Schönheit, daß man darüber die
lästige Zudringlichkeit der Führer und Bettler und die elende Verpflegung
einigermaßen vergessen kann. Aber bis nach Tibur und an allen berühmten
Plätzen seiner Umgebung bleibt man doch inmitten des Stromes der fünfzig-
tausend Reisenden, die um diese Zeit in und um Rom ihr Wesen treiben.
Man wird beobachtet, geschoben, gedrängt, man macht halb widerwillig Be¬
kanntschaften, und das Drehpicmino und die Mmidolina ersetzen stimmungsvoll
die Drehorgel des Prebischthors. Aber sowie man den Fuß über Tibur
hinaus nach Osten setzt, in die Berge der Sabiner und Marser hinein, ist man
allein. Von der nächsten Station hinter Tibur ostwärts bis hinab zum
Mündungsgebiet des Liris habe ich keinen Touristen getroffen, nicht einmal
einen Maler, weil die italienische Landschaft aus der Mode gekommen ist.

Die Eisenbahn von Tibur nach Avezzano führt zunächst im Thal des
Aniene (Anio) aufwärts, eine kunstvolle Anlage, die den italienischen Ingenieuren
alle Ehre macht, nur daß oft der Genuß gerade der schönsten Landschaftsbilder


Frühlingstage am Garigliano

quer durch Italien ostwärts führende Bahn nach Castellamare Adriatico. Man
benutzt sie bis Avezzmio. Die Bahn von dort ins Liristhal ist seit langer
Zeit im Bau, aber etwas zu voreilig in die Karte des Bädeker von 1396
eingetragen; denn bis heute ist wegen der großen Terrninschwierigkeiten noch
kein Ende des Baues abzusehen. Deshalb muß man die Strecke von Avezzmio
bis Balsorano am Liris (fünfzig Kilometer) zu Fuß oder besser im Wagen
zurücklegen. Und auch weiter abwärts kann man neben der Bahn Wagen
oder Reitesel kaum entbehren, da die Ortschaften oft hoch über der Thalsohle
und dem Niveau der Bahn gelegen sind. Doch ist das Fuhrwerk billig und
meist gut. Für ängstliche Gemüter sei ausdrücklich bemerkt, daß man von den
ehedem berüchtigten Räubern und Briganten der Abruzzen keine Spur findet;
die Vorstädte von Rom und Neapel und die ländliche Umgebung dieser Städte
sind für den Reisenden viel unsichrer als die innern Gebirge, in denen es keine
Fremden und eben deswegen anch keine berufsmüßigen Bettler und Räuber,
sondern fleißige Bauern und schlichte Hirten giebt. Selbstverständlich wird
man gut thun, sich nicht, wie es manche Leute lieben, von oben bis unten mit
Gold und Brillanten zu behängen; denn solcher Glanz, prahlerisch zur Schau
getragen, kann wohl einmal bei einem naturwüchsigen und sonst unverdorbnen
Hirten eine unbezähmbare Habgier erwecken.

Wir verließen Rom in der Frühe des Ostersonnabends und fuhren zu¬
nächst nach dem „kühlen Tibur." Es verdient seinen großen Ruf. Denn es
liegt herrlich am Eingang zu den Sabinerbergen, an einer grünen Schlucht,
in die der zweigeteilte Anio in mächtigen Kaskaden hinunterstürze, sodaß er die
ganze Umgebung durch seinen Wasserstaub feucht und saftig grün erhält. Außer¬
dem liegt auf dem trefflich erhaltenen zierlichen Rundtempel der Sibylle, ferner
in den Trümmern der nahen Riescnvilla Hadrians und der romantischen Ver-
sunkenheit der Villa d'Este soviel zaubervolle Schönheit, daß man darüber die
lästige Zudringlichkeit der Führer und Bettler und die elende Verpflegung
einigermaßen vergessen kann. Aber bis nach Tibur und an allen berühmten
Plätzen seiner Umgebung bleibt man doch inmitten des Stromes der fünfzig-
tausend Reisenden, die um diese Zeit in und um Rom ihr Wesen treiben.
Man wird beobachtet, geschoben, gedrängt, man macht halb widerwillig Be¬
kanntschaften, und das Drehpicmino und die Mmidolina ersetzen stimmungsvoll
die Drehorgel des Prebischthors. Aber sowie man den Fuß über Tibur
hinaus nach Osten setzt, in die Berge der Sabiner und Marser hinein, ist man
allein. Von der nächsten Station hinter Tibur ostwärts bis hinab zum
Mündungsgebiet des Liris habe ich keinen Touristen getroffen, nicht einmal
einen Maler, weil die italienische Landschaft aus der Mode gekommen ist.

Die Eisenbahn von Tibur nach Avezzano führt zunächst im Thal des
Aniene (Anio) aufwärts, eine kunstvolle Anlage, die den italienischen Ingenieuren
alle Ehre macht, nur daß oft der Genuß gerade der schönsten Landschaftsbilder


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[0277] Frühlingstage am Garigliano quer durch Italien ostwärts führende Bahn nach Castellamare Adriatico. Man benutzt sie bis Avezzmio. Die Bahn von dort ins Liristhal ist seit langer Zeit im Bau, aber etwas zu voreilig in die Karte des Bädeker von 1396 eingetragen; denn bis heute ist wegen der großen Terrninschwierigkeiten noch kein Ende des Baues abzusehen. Deshalb muß man die Strecke von Avezzmio bis Balsorano am Liris (fünfzig Kilometer) zu Fuß oder besser im Wagen zurücklegen. Und auch weiter abwärts kann man neben der Bahn Wagen oder Reitesel kaum entbehren, da die Ortschaften oft hoch über der Thalsohle und dem Niveau der Bahn gelegen sind. Doch ist das Fuhrwerk billig und meist gut. Für ängstliche Gemüter sei ausdrücklich bemerkt, daß man von den ehedem berüchtigten Räubern und Briganten der Abruzzen keine Spur findet; die Vorstädte von Rom und Neapel und die ländliche Umgebung dieser Städte sind für den Reisenden viel unsichrer als die innern Gebirge, in denen es keine Fremden und eben deswegen anch keine berufsmüßigen Bettler und Räuber, sondern fleißige Bauern und schlichte Hirten giebt. Selbstverständlich wird man gut thun, sich nicht, wie es manche Leute lieben, von oben bis unten mit Gold und Brillanten zu behängen; denn solcher Glanz, prahlerisch zur Schau getragen, kann wohl einmal bei einem naturwüchsigen und sonst unverdorbnen Hirten eine unbezähmbare Habgier erwecken. Wir verließen Rom in der Frühe des Ostersonnabends und fuhren zu¬ nächst nach dem „kühlen Tibur." Es verdient seinen großen Ruf. Denn es liegt herrlich am Eingang zu den Sabinerbergen, an einer grünen Schlucht, in die der zweigeteilte Anio in mächtigen Kaskaden hinunterstürze, sodaß er die ganze Umgebung durch seinen Wasserstaub feucht und saftig grün erhält. Außer¬ dem liegt auf dem trefflich erhaltenen zierlichen Rundtempel der Sibylle, ferner in den Trümmern der nahen Riescnvilla Hadrians und der romantischen Ver- sunkenheit der Villa d'Este soviel zaubervolle Schönheit, daß man darüber die lästige Zudringlichkeit der Führer und Bettler und die elende Verpflegung einigermaßen vergessen kann. Aber bis nach Tibur und an allen berühmten Plätzen seiner Umgebung bleibt man doch inmitten des Stromes der fünfzig- tausend Reisenden, die um diese Zeit in und um Rom ihr Wesen treiben. Man wird beobachtet, geschoben, gedrängt, man macht halb widerwillig Be¬ kanntschaften, und das Drehpicmino und die Mmidolina ersetzen stimmungsvoll die Drehorgel des Prebischthors. Aber sowie man den Fuß über Tibur hinaus nach Osten setzt, in die Berge der Sabiner und Marser hinein, ist man allein. Von der nächsten Station hinter Tibur ostwärts bis hinab zum Mündungsgebiet des Liris habe ich keinen Touristen getroffen, nicht einmal einen Maler, weil die italienische Landschaft aus der Mode gekommen ist. Die Eisenbahn von Tibur nach Avezzano führt zunächst im Thal des Aniene (Anio) aufwärts, eine kunstvolle Anlage, die den italienischen Ingenieuren alle Ehre macht, nur daß oft der Genuß gerade der schönsten Landschaftsbilder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/277>, abgerufen am 28.07.2024.