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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Frühlingstage am Garigliano

durch zahlreiche Tunnel gestört wird. Das Flußthal zeigt, wie manche Alpen¬
thäler, verschiedne Böden. Ist eine steilere Steigung erklommen, so befindet
man sich in einem breiten, von hohen Kalkbergen umrahmten, reich angebauten
Kessel. Bei Cineto Romano verläßt die Bahn das Thal des Anio und steigt
zum Kessel von Arsoli empor. Hier beginnt das Gebiet der alten Äquer; zur
Seite begleitet uus schon von Tibur an und auch weiterhin die alte Via Valeria.
Auch sonst ist die Gegend reich an klassischen Erinnerungen. Am Bach der
Lieenza (Digeutia). die am Berge Lucretius entspringend und von Norden her
kommend östlich von Vieovarv (Varia) in den Anio stürzt, lag das sabinische
Landgut des Horaz, eine umfangreiche Anlage, zu dessen Bestellung ein Ver¬
walter und acht Knechte erforderlich waren, und zu dem außerdem noch fünf
zinspflichtige Kolonenhöfe gehörten. Zwischen Arsoli und Carsoli findet man
Ruinen der alten Äquerstadt Carsioli, aus denen im Mittelalter die beiden
genannten Bergflecken erbaut wurden. Bald hinter Carsoli öffnet sich eine
von gewaltigen Schneebergen umschlossene Hochebne, das Plateau von Avezzcmo.
Es ist im Norden begrenzt von der weißen Pyramide des Monte Velino
(2487 Meter), an die sich ostwärts weißschimmernde Ketten anschließen. Der
im Süden gegenüberliegende gewaltig aufragende Monte Biglio, der "Wächter"
am Liristhal, ist einstweilen noch durch vvrgelagerte niedrigere Bergkämme
verdeckt. Wir befinden uns im südlichen Teile der Abruzzen und verlassen
den Zug in Avezzanv (etwa 700 Meter hoch), einem Städtchen von 7000 Ein¬
wohnern, das uns im Albergo Viktorin einfache, aber saubere Unterkunft und
genügende Verpflegung gewährt. Der Ort, mittelalterlichen Ursprungs, bietet
anßer seiner entzückenden alpinen Lage im Innern wenig bemerkenswertes;
nur Spuren der alten Feudalherrschaft und ihrer wirtschaftlichen Folgen sind
reichlich vorhanden: ein altes Schloß der Colonna und ein fürstlich Torloniaischcs
Verwaltungsgebäude. Auffällig ist in Avezzcmo der große dreieckige Markt.
Er war am Ostersonnabend fast leer. Nur an einer Seite hatte eine Familie
fahrenden Volkes eine Lg.8g. uÜ8tsri.08g. aufgeschlagen, eine Zeltbude, in der
Schlangen und andre Merkwürdigkeiten zu sehen waren. Interessant waren die
italisch-rhetorischen Kunstmittel, mit denen die Insassen der Bude die Avez-
znner zum Besuch aufforderten. Vater, Tochter und Sohn, dieser in Kostüm
und Haltung an den ewig geprügelten Dossennus der alten Volkskomödie er¬
innernd, führten vor dem Eingange eine förmliche dramatische Szene auf in
geberdenreichen Wechselreden, wobei der Dossennus, "der Mann mit dem Buckel
voll Prügel," häusig den Stock zu kosten bekam, wenn er die ihm vorgesprvchnen
Worte absichtlich verdreht wiedergab. So lebt uralter Volksgebrauch in den
Marserbergen fort.

Es war in der Feiertagsstille des ersten Ostermorgens, als uns bei
wolkenlosem blauem Himmel die feinfüßigcn, schnellen Rosse des Wirtes von
Avezzcmo in einem leichten, aber behaglichen Wagen die ersten Kehren des-


Frühlingstage am Garigliano

durch zahlreiche Tunnel gestört wird. Das Flußthal zeigt, wie manche Alpen¬
thäler, verschiedne Böden. Ist eine steilere Steigung erklommen, so befindet
man sich in einem breiten, von hohen Kalkbergen umrahmten, reich angebauten
Kessel. Bei Cineto Romano verläßt die Bahn das Thal des Anio und steigt
zum Kessel von Arsoli empor. Hier beginnt das Gebiet der alten Äquer; zur
Seite begleitet uus schon von Tibur an und auch weiterhin die alte Via Valeria.
Auch sonst ist die Gegend reich an klassischen Erinnerungen. Am Bach der
Lieenza (Digeutia). die am Berge Lucretius entspringend und von Norden her
kommend östlich von Vieovarv (Varia) in den Anio stürzt, lag das sabinische
Landgut des Horaz, eine umfangreiche Anlage, zu dessen Bestellung ein Ver¬
walter und acht Knechte erforderlich waren, und zu dem außerdem noch fünf
zinspflichtige Kolonenhöfe gehörten. Zwischen Arsoli und Carsoli findet man
Ruinen der alten Äquerstadt Carsioli, aus denen im Mittelalter die beiden
genannten Bergflecken erbaut wurden. Bald hinter Carsoli öffnet sich eine
von gewaltigen Schneebergen umschlossene Hochebne, das Plateau von Avezzcmo.
Es ist im Norden begrenzt von der weißen Pyramide des Monte Velino
(2487 Meter), an die sich ostwärts weißschimmernde Ketten anschließen. Der
im Süden gegenüberliegende gewaltig aufragende Monte Biglio, der „Wächter"
am Liristhal, ist einstweilen noch durch vvrgelagerte niedrigere Bergkämme
verdeckt. Wir befinden uns im südlichen Teile der Abruzzen und verlassen
den Zug in Avezzanv (etwa 700 Meter hoch), einem Städtchen von 7000 Ein¬
wohnern, das uns im Albergo Viktorin einfache, aber saubere Unterkunft und
genügende Verpflegung gewährt. Der Ort, mittelalterlichen Ursprungs, bietet
anßer seiner entzückenden alpinen Lage im Innern wenig bemerkenswertes;
nur Spuren der alten Feudalherrschaft und ihrer wirtschaftlichen Folgen sind
reichlich vorhanden: ein altes Schloß der Colonna und ein fürstlich Torloniaischcs
Verwaltungsgebäude. Auffällig ist in Avezzcmo der große dreieckige Markt.
Er war am Ostersonnabend fast leer. Nur an einer Seite hatte eine Familie
fahrenden Volkes eine Lg.8g. uÜ8tsri.08g. aufgeschlagen, eine Zeltbude, in der
Schlangen und andre Merkwürdigkeiten zu sehen waren. Interessant waren die
italisch-rhetorischen Kunstmittel, mit denen die Insassen der Bude die Avez-
znner zum Besuch aufforderten. Vater, Tochter und Sohn, dieser in Kostüm
und Haltung an den ewig geprügelten Dossennus der alten Volkskomödie er¬
innernd, führten vor dem Eingange eine förmliche dramatische Szene auf in
geberdenreichen Wechselreden, wobei der Dossennus, „der Mann mit dem Buckel
voll Prügel," häusig den Stock zu kosten bekam, wenn er die ihm vorgesprvchnen
Worte absichtlich verdreht wiedergab. So lebt uralter Volksgebrauch in den
Marserbergen fort.

Es war in der Feiertagsstille des ersten Ostermorgens, als uns bei
wolkenlosem blauem Himmel die feinfüßigcn, schnellen Rosse des Wirtes von
Avezzcmo in einem leichten, aber behaglichen Wagen die ersten Kehren des-


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[0278] Frühlingstage am Garigliano durch zahlreiche Tunnel gestört wird. Das Flußthal zeigt, wie manche Alpen¬ thäler, verschiedne Böden. Ist eine steilere Steigung erklommen, so befindet man sich in einem breiten, von hohen Kalkbergen umrahmten, reich angebauten Kessel. Bei Cineto Romano verläßt die Bahn das Thal des Anio und steigt zum Kessel von Arsoli empor. Hier beginnt das Gebiet der alten Äquer; zur Seite begleitet uus schon von Tibur an und auch weiterhin die alte Via Valeria. Auch sonst ist die Gegend reich an klassischen Erinnerungen. Am Bach der Lieenza (Digeutia). die am Berge Lucretius entspringend und von Norden her kommend östlich von Vieovarv (Varia) in den Anio stürzt, lag das sabinische Landgut des Horaz, eine umfangreiche Anlage, zu dessen Bestellung ein Ver¬ walter und acht Knechte erforderlich waren, und zu dem außerdem noch fünf zinspflichtige Kolonenhöfe gehörten. Zwischen Arsoli und Carsoli findet man Ruinen der alten Äquerstadt Carsioli, aus denen im Mittelalter die beiden genannten Bergflecken erbaut wurden. Bald hinter Carsoli öffnet sich eine von gewaltigen Schneebergen umschlossene Hochebne, das Plateau von Avezzcmo. Es ist im Norden begrenzt von der weißen Pyramide des Monte Velino (2487 Meter), an die sich ostwärts weißschimmernde Ketten anschließen. Der im Süden gegenüberliegende gewaltig aufragende Monte Biglio, der „Wächter" am Liristhal, ist einstweilen noch durch vvrgelagerte niedrigere Bergkämme verdeckt. Wir befinden uns im südlichen Teile der Abruzzen und verlassen den Zug in Avezzanv (etwa 700 Meter hoch), einem Städtchen von 7000 Ein¬ wohnern, das uns im Albergo Viktorin einfache, aber saubere Unterkunft und genügende Verpflegung gewährt. Der Ort, mittelalterlichen Ursprungs, bietet anßer seiner entzückenden alpinen Lage im Innern wenig bemerkenswertes; nur Spuren der alten Feudalherrschaft und ihrer wirtschaftlichen Folgen sind reichlich vorhanden: ein altes Schloß der Colonna und ein fürstlich Torloniaischcs Verwaltungsgebäude. Auffällig ist in Avezzcmo der große dreieckige Markt. Er war am Ostersonnabend fast leer. Nur an einer Seite hatte eine Familie fahrenden Volkes eine Lg.8g. uÜ8tsri.08g. aufgeschlagen, eine Zeltbude, in der Schlangen und andre Merkwürdigkeiten zu sehen waren. Interessant waren die italisch-rhetorischen Kunstmittel, mit denen die Insassen der Bude die Avez- znner zum Besuch aufforderten. Vater, Tochter und Sohn, dieser in Kostüm und Haltung an den ewig geprügelten Dossennus der alten Volkskomödie er¬ innernd, führten vor dem Eingange eine förmliche dramatische Szene auf in geberdenreichen Wechselreden, wobei der Dossennus, „der Mann mit dem Buckel voll Prügel," häusig den Stock zu kosten bekam, wenn er die ihm vorgesprvchnen Worte absichtlich verdreht wiedergab. So lebt uralter Volksgebrauch in den Marserbergen fort. Es war in der Feiertagsstille des ersten Ostermorgens, als uns bei wolkenlosem blauem Himmel die feinfüßigcn, schnellen Rosse des Wirtes von Avezzcmo in einem leichten, aber behaglichen Wagen die ersten Kehren des-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/278>, abgerufen am 28.07.2024.