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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

lichen Propaganda sei auf den Typus des Meisters übergeflossen, wenn er sich
das einbildet, so ist es nur aus dem Umstände zu erklären, daß er als grünt"
sützlicher Feind des' Christentums im Neuen Testament unbedingt allerlei
Schlimmes finden wollte. Sonst würde er sich doch gesagt haben, daß
Jesus mit seiner frohen Botschaft den Häuptern des jüdischen Kirchenstaats
als ihr Todfeind erscheinen mußte, und wenn nun Jesus mit der vollendeten
Sanftmut Kraft und Kühnheit verband, wenn er selbst den unvermeidlichen
Kriegszustand sofort erkannte und als ein tapferer Mann den Angriff als die
beste Art der Verteidigung wählte, also gerade so handelte wie Nietzsche, wie
kann dieser darin eine Vergröberung und Fälschung des Charakterbildes Jesu
finden? Aber das Christentum soll nun einmal unbedingt totgeschlagen werden,
und darum müssen die jüdischen Talmudisten mit ihren läppischen Gebräuchen
und Tifteleien eine edle Herrenrasse sein, und wenn sich Jesus, der freie Geist,
gegen die unvernünftige Einschnürung der Geister kühn erhebt, so muß das
hineingelogen sein in das Neue Testament, hineiugelogen von dem Sklaven-
Pöbel, der sich gegen jene edeln Herren empörte. Übrigens hat Nietzsche
wiederholt versucht, sich die Person Jesu in anmutiger legendenhafter Dichtung
verständlich zu machen, und hat das ihm selbst Verwandte in dieser Person
deutlich ausgesprochen, z. B. XII, 379: "Jesus von Nazareth liebte die Bösen,
aber nicht die Guten: der Anblick von deren moralischer Entrüstung brachte
selbst ihn zum Fluchen. Überall, wo gerichtet wurde, nahm er Partei gegen
die Richtenden: er wollte der Vernichter der Moral sein." Tiefe Wahrheiten,
die freilich ouui AiMo sslis aufgenommen werden wollen, liegen in seinen Be¬
hauptungen, der einzige wirkliche Christ sei am Kreuze gestorben, das Christen¬
tum sei so ziemlich das Gegenteil von dem, was der Name besage, und erst
heute werde Christus verstanden. "Erst wir, wir freigewordnen Geister, haben
die Voraussetzung dafür, etwas zu verstehen, das neunzehn Jahrhunderte mi߬
verstanden haben" (VIII. 261). Der letzte Satz ist dahin zu berichtigen, daß
Christus überhaupt von keinem Geschlecht vollständig verstanden werden kann,
so wenig wie irgend ein Geschlecht das Geheimnis der Gottheit zu ergründen
oder das Welträtsel zu lösen vermag, und daß die amtlichen Hüter und Über¬
lieferer des großen Geheimnisses am weitesten vom Verständnis entfernt zu
sein Pflegen, weil bei der Bibelerklärung ihre eignen Interessen ins Spiel
kommen, und sie daher mehr als irgend ein andrer Mensch an Befangenheit
leiden. Den meisten von ihnen geht es so wie ihren Vorgängern, die auf
dem Stuhle Mosis saßen, und über die Christus Matthäus 23 das vernich¬
tende Urteil sprechen mußte. Und so kann sich das Wunderbare ereignen, daß
ein Atheist Christum besser versteht als ein glaubenseifriger Priester des
Christentums. Urteile also Nietzsche über die Person des Erlösers im ganzen
billig und verständig, so verdient dagegen das, was er gegen Paulus sagt,
gar keine Beachtung. Er haßt ihn tödlich; warum? Das ist nicht leicht zu


Friedrich Nietzsche

lichen Propaganda sei auf den Typus des Meisters übergeflossen, wenn er sich
das einbildet, so ist es nur aus dem Umstände zu erklären, daß er als grünt»
sützlicher Feind des' Christentums im Neuen Testament unbedingt allerlei
Schlimmes finden wollte. Sonst würde er sich doch gesagt haben, daß
Jesus mit seiner frohen Botschaft den Häuptern des jüdischen Kirchenstaats
als ihr Todfeind erscheinen mußte, und wenn nun Jesus mit der vollendeten
Sanftmut Kraft und Kühnheit verband, wenn er selbst den unvermeidlichen
Kriegszustand sofort erkannte und als ein tapferer Mann den Angriff als die
beste Art der Verteidigung wählte, also gerade so handelte wie Nietzsche, wie
kann dieser darin eine Vergröberung und Fälschung des Charakterbildes Jesu
finden? Aber das Christentum soll nun einmal unbedingt totgeschlagen werden,
und darum müssen die jüdischen Talmudisten mit ihren läppischen Gebräuchen
und Tifteleien eine edle Herrenrasse sein, und wenn sich Jesus, der freie Geist,
gegen die unvernünftige Einschnürung der Geister kühn erhebt, so muß das
hineingelogen sein in das Neue Testament, hineiugelogen von dem Sklaven-
Pöbel, der sich gegen jene edeln Herren empörte. Übrigens hat Nietzsche
wiederholt versucht, sich die Person Jesu in anmutiger legendenhafter Dichtung
verständlich zu machen, und hat das ihm selbst Verwandte in dieser Person
deutlich ausgesprochen, z. B. XII, 379: „Jesus von Nazareth liebte die Bösen,
aber nicht die Guten: der Anblick von deren moralischer Entrüstung brachte
selbst ihn zum Fluchen. Überall, wo gerichtet wurde, nahm er Partei gegen
die Richtenden: er wollte der Vernichter der Moral sein." Tiefe Wahrheiten,
die freilich ouui AiMo sslis aufgenommen werden wollen, liegen in seinen Be¬
hauptungen, der einzige wirkliche Christ sei am Kreuze gestorben, das Christen¬
tum sei so ziemlich das Gegenteil von dem, was der Name besage, und erst
heute werde Christus verstanden. „Erst wir, wir freigewordnen Geister, haben
die Voraussetzung dafür, etwas zu verstehen, das neunzehn Jahrhunderte mi߬
verstanden haben" (VIII. 261). Der letzte Satz ist dahin zu berichtigen, daß
Christus überhaupt von keinem Geschlecht vollständig verstanden werden kann,
so wenig wie irgend ein Geschlecht das Geheimnis der Gottheit zu ergründen
oder das Welträtsel zu lösen vermag, und daß die amtlichen Hüter und Über¬
lieferer des großen Geheimnisses am weitesten vom Verständnis entfernt zu
sein Pflegen, weil bei der Bibelerklärung ihre eignen Interessen ins Spiel
kommen, und sie daher mehr als irgend ein andrer Mensch an Befangenheit
leiden. Den meisten von ihnen geht es so wie ihren Vorgängern, die auf
dem Stuhle Mosis saßen, und über die Christus Matthäus 23 das vernich¬
tende Urteil sprechen mußte. Und so kann sich das Wunderbare ereignen, daß
ein Atheist Christum besser versteht als ein glaubenseifriger Priester des
Christentums. Urteile also Nietzsche über die Person des Erlösers im ganzen
billig und verständig, so verdient dagegen das, was er gegen Paulus sagt,
gar keine Beachtung. Er haßt ihn tödlich; warum? Das ist nicht leicht zu


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[0227] Friedrich Nietzsche lichen Propaganda sei auf den Typus des Meisters übergeflossen, wenn er sich das einbildet, so ist es nur aus dem Umstände zu erklären, daß er als grünt» sützlicher Feind des' Christentums im Neuen Testament unbedingt allerlei Schlimmes finden wollte. Sonst würde er sich doch gesagt haben, daß Jesus mit seiner frohen Botschaft den Häuptern des jüdischen Kirchenstaats als ihr Todfeind erscheinen mußte, und wenn nun Jesus mit der vollendeten Sanftmut Kraft und Kühnheit verband, wenn er selbst den unvermeidlichen Kriegszustand sofort erkannte und als ein tapferer Mann den Angriff als die beste Art der Verteidigung wählte, also gerade so handelte wie Nietzsche, wie kann dieser darin eine Vergröberung und Fälschung des Charakterbildes Jesu finden? Aber das Christentum soll nun einmal unbedingt totgeschlagen werden, und darum müssen die jüdischen Talmudisten mit ihren läppischen Gebräuchen und Tifteleien eine edle Herrenrasse sein, und wenn sich Jesus, der freie Geist, gegen die unvernünftige Einschnürung der Geister kühn erhebt, so muß das hineingelogen sein in das Neue Testament, hineiugelogen von dem Sklaven- Pöbel, der sich gegen jene edeln Herren empörte. Übrigens hat Nietzsche wiederholt versucht, sich die Person Jesu in anmutiger legendenhafter Dichtung verständlich zu machen, und hat das ihm selbst Verwandte in dieser Person deutlich ausgesprochen, z. B. XII, 379: „Jesus von Nazareth liebte die Bösen, aber nicht die Guten: der Anblick von deren moralischer Entrüstung brachte selbst ihn zum Fluchen. Überall, wo gerichtet wurde, nahm er Partei gegen die Richtenden: er wollte der Vernichter der Moral sein." Tiefe Wahrheiten, die freilich ouui AiMo sslis aufgenommen werden wollen, liegen in seinen Be¬ hauptungen, der einzige wirkliche Christ sei am Kreuze gestorben, das Christen¬ tum sei so ziemlich das Gegenteil von dem, was der Name besage, und erst heute werde Christus verstanden. „Erst wir, wir freigewordnen Geister, haben die Voraussetzung dafür, etwas zu verstehen, das neunzehn Jahrhunderte mi߬ verstanden haben" (VIII. 261). Der letzte Satz ist dahin zu berichtigen, daß Christus überhaupt von keinem Geschlecht vollständig verstanden werden kann, so wenig wie irgend ein Geschlecht das Geheimnis der Gottheit zu ergründen oder das Welträtsel zu lösen vermag, und daß die amtlichen Hüter und Über¬ lieferer des großen Geheimnisses am weitesten vom Verständnis entfernt zu sein Pflegen, weil bei der Bibelerklärung ihre eignen Interessen ins Spiel kommen, und sie daher mehr als irgend ein andrer Mensch an Befangenheit leiden. Den meisten von ihnen geht es so wie ihren Vorgängern, die auf dem Stuhle Mosis saßen, und über die Christus Matthäus 23 das vernich¬ tende Urteil sprechen mußte. Und so kann sich das Wunderbare ereignen, daß ein Atheist Christum besser versteht als ein glaubenseifriger Priester des Christentums. Urteile also Nietzsche über die Person des Erlösers im ganzen billig und verständig, so verdient dagegen das, was er gegen Paulus sagt, gar keine Beachtung. Er haßt ihn tödlich; warum? Das ist nicht leicht zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/227>, abgerufen am 29.07.2024.