Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.Friedrich Nietzsche "Asketismus und Puritcmismus sind fast unentbehrliche Erziehungs- und Ver¬ Nicht minder widerspruchsvoll sind Nietzsches Urteile über die Reforma¬ Die Urteile Nietzsches über Jesus sind im ganzen weniger anstößig, als Friedrich Nietzsche „Asketismus und Puritcmismus sind fast unentbehrliche Erziehungs- und Ver¬ Nicht minder widerspruchsvoll sind Nietzsches Urteile über die Reforma¬ Die Urteile Nietzsches über Jesus sind im ganzen weniger anstößig, als <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0226" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/228528"/> <fw type="header" place="top"> Friedrich Nietzsche</fw><lb/> <p xml:id="ID_824" prev="#ID_823"> „Asketismus und Puritcmismus sind fast unentbehrliche Erziehungs- und Ver¬<lb/> edlungsmittel, wenn eine Rasse über ihre Herkunft aus dem Pöbel Herr<lb/> werden will Und sich zur einstmaligen Herrschaft emporarbeitet."</p><lb/> <p xml:id="ID_825"> Nicht minder widerspruchsvoll sind Nietzsches Urteile über die Reforma¬<lb/> tion. Er kann nicht umhin, Luther zu verehren. Die verfluchte Volksseele!<lb/> ruft er einmal; „wenn wir vom deutschen Geiste reden, so meinen wir Luther,<lb/> Goethe, Schiller und einige andre." Namentlich dafür dankt er Luther, daß<lb/> er die Geister von dem mönchischen Ideal abgezogen und ihnen die Thatkraft<lb/> wiedergegeben habe. Im Kloster habe er als Durchforscher der Seelentiefen<lb/> entdeckt: „es giebt gar keine wirkliche vitg, eontsrQvIMva! Wir haben uns<lb/> betrügen lassen! Die Heiligen sind nicht mehr wert gewesen als wir alle."<lb/> Dann wieder beschimpft er Luthern wegen seines bäurischen Wesens mit einem<lb/> Worte, das ich nicht wiederholen mag (VII, 463), und charakterisirt ihn als<lb/> einen groben Geist, der das Wesen der römischen Kirche und ihre Bedeutung<lb/> für die Kultur nicht begriffen habe. Ja er beklagt es, daß Luther überhaupt<lb/> gekommen sei und den christlichen Aberglauben neu belebt habe in einer Zeit,<lb/> wo man auf dem besten Wege gewesen sei, das alte Heidentum wieder herzu¬<lb/> stellen; wäre doch Cesare Borgia Papst geworden! „Damit war das Christen¬<lb/> tum abgeschafft! Was geschah? Ein deutscher Mönch, Luther, kam nach<lb/> Rom. Dieser Mönch, mit allen rachsüchtigen Instinkten eines verunglückten<lb/> Priesters im Leibe, empörte sich in Rom gegen die Renaissance" (VIII, 311).<lb/> Andrerseits wiederum erspart er Luthern nicht die entgegengesetzte Beschuldi¬<lb/> gung, er habe deu Cölibat, das Priestertum und damit „den höhern Menschen"<lb/> abgeschafft und die Bibel den Philologen ausgeliefert. Gleich Buckle, den er<lb/> übrigens zu tief verachtet, um sich auf ihn zu berufen, findet er, daß die Refor¬<lb/> mation darum im Norden Europas gesiegt habe, weil dieser in der Kultur<lb/> hinter dem Süden zurückgeweseu sei.</p><lb/> <p xml:id="ID_826" next="#ID_827"> Die Urteile Nietzsches über Jesus sind im ganzen weniger anstößig, als<lb/> man erwarte» sollte. Sei es, daß ein Rest der Ehrfurcht, die sich dem<lb/> Europäergemüte durch jahrtausendelange Übung eingeprägt hat, in ihm<lb/> zurückgeblieben War, sei es, daß er die Gestalt Jesu wirklich anziehend fand,<lb/> er betrachtet sie mit Liebe und Interesse, analhsirt sie und gelangt zu wür¬<lb/> digern Ergebnissen als Leute vom Schlage Nenans. Einmal schildert er ihn<lb/> sehr schön als den wahrhaft göttlichen Mann, der die ganze jüdische Buß-<lb/> und Vcrsöhnungspraxis abgethan und die frohe Botschaft gebracht habe, daß<lb/> der Mensch nur recht zu leben brauche, um sich ohne Gesetz, Ritus, Dogma<lb/> und dergleichen mit Gott eins zu wissen. Wenn er sich nun einbildet, die<lb/> Evangelisten Hütten die Gestalt Jesu vergröbert und gefälscht, indem sie ihn<lb/> als einen Fanatiker des Angriffs darstellten, als einen Todfeind der Priester<lb/> und Theologen, der sich aber selbst als ein richtender, hadernder, zürnender,<lb/> bösartig-spitzfindiger Theologe benehme, der gallig erregte Zustand der tires-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0226]
Friedrich Nietzsche
„Asketismus und Puritcmismus sind fast unentbehrliche Erziehungs- und Ver¬
edlungsmittel, wenn eine Rasse über ihre Herkunft aus dem Pöbel Herr
werden will Und sich zur einstmaligen Herrschaft emporarbeitet."
Nicht minder widerspruchsvoll sind Nietzsches Urteile über die Reforma¬
tion. Er kann nicht umhin, Luther zu verehren. Die verfluchte Volksseele!
ruft er einmal; „wenn wir vom deutschen Geiste reden, so meinen wir Luther,
Goethe, Schiller und einige andre." Namentlich dafür dankt er Luther, daß
er die Geister von dem mönchischen Ideal abgezogen und ihnen die Thatkraft
wiedergegeben habe. Im Kloster habe er als Durchforscher der Seelentiefen
entdeckt: „es giebt gar keine wirkliche vitg, eontsrQvIMva! Wir haben uns
betrügen lassen! Die Heiligen sind nicht mehr wert gewesen als wir alle."
Dann wieder beschimpft er Luthern wegen seines bäurischen Wesens mit einem
Worte, das ich nicht wiederholen mag (VII, 463), und charakterisirt ihn als
einen groben Geist, der das Wesen der römischen Kirche und ihre Bedeutung
für die Kultur nicht begriffen habe. Ja er beklagt es, daß Luther überhaupt
gekommen sei und den christlichen Aberglauben neu belebt habe in einer Zeit,
wo man auf dem besten Wege gewesen sei, das alte Heidentum wieder herzu¬
stellen; wäre doch Cesare Borgia Papst geworden! „Damit war das Christen¬
tum abgeschafft! Was geschah? Ein deutscher Mönch, Luther, kam nach
Rom. Dieser Mönch, mit allen rachsüchtigen Instinkten eines verunglückten
Priesters im Leibe, empörte sich in Rom gegen die Renaissance" (VIII, 311).
Andrerseits wiederum erspart er Luthern nicht die entgegengesetzte Beschuldi¬
gung, er habe deu Cölibat, das Priestertum und damit „den höhern Menschen"
abgeschafft und die Bibel den Philologen ausgeliefert. Gleich Buckle, den er
übrigens zu tief verachtet, um sich auf ihn zu berufen, findet er, daß die Refor¬
mation darum im Norden Europas gesiegt habe, weil dieser in der Kultur
hinter dem Süden zurückgeweseu sei.
Die Urteile Nietzsches über Jesus sind im ganzen weniger anstößig, als
man erwarte» sollte. Sei es, daß ein Rest der Ehrfurcht, die sich dem
Europäergemüte durch jahrtausendelange Übung eingeprägt hat, in ihm
zurückgeblieben War, sei es, daß er die Gestalt Jesu wirklich anziehend fand,
er betrachtet sie mit Liebe und Interesse, analhsirt sie und gelangt zu wür¬
digern Ergebnissen als Leute vom Schlage Nenans. Einmal schildert er ihn
sehr schön als den wahrhaft göttlichen Mann, der die ganze jüdische Buß-
und Vcrsöhnungspraxis abgethan und die frohe Botschaft gebracht habe, daß
der Mensch nur recht zu leben brauche, um sich ohne Gesetz, Ritus, Dogma
und dergleichen mit Gott eins zu wissen. Wenn er sich nun einbildet, die
Evangelisten Hütten die Gestalt Jesu vergröbert und gefälscht, indem sie ihn
als einen Fanatiker des Angriffs darstellten, als einen Todfeind der Priester
und Theologen, der sich aber selbst als ein richtender, hadernder, zürnender,
bösartig-spitzfindiger Theologe benehme, der gallig erregte Zustand der tires-
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