Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Friedrich Nietzsche

finden; vielleicht aus Konkurrenzneid, weil Paulus schon 1800 Jahre vor ihm
die Gesetzesknechtschaft grundsätzlich gebrochen hat. Zu Nietzsches Entschuldi¬
gung glaube ich, daß er seit seiner Konfirmation in den'Briefen des Apostels
nicht mehr gelesen hat.

Die beiden schwersten Vorwürfe, die er gegen das Christentum erhebt,
siud die, daß es den Leib entwürdige, und daß es der Sklavenmoral zur
Herrschaft verholfen habe. In Beziehung auf den ersten Punkt klagt er -- um
aus den vielen Stellen dieser Art nur einige wenige hervorzuheben --, daß
das Christentum nicht allein das Altertum im allgemeinen durchteufelt habe,
was der Gipfel verleumderischer Bosheit sei (XII, 161), sondern auch sich noch
ganz besonders am Geschlechtsleben vergangen habe. "Das Christentum gab
dem Eros Gift zu trinken: er starb zwar nicht daran, aber entartete zum
Laster." Und VIII, 173: "Erst das Christentum, mit seinem Ressentiment
gegen das Leben auf dem Grunde, hat aus der Geschlechtlichkeit etwas Un¬
reines gemacht: es warf Kot auf den Anfang, auf die Voraussetzung des
Lebens." Wir andern, ruft er S. 288 desselben Bandes, "die wir den Mut
zur Gesundheit und auch zur Verachtung haben, wie dürfen wir eine Religion
verachten, die den Leib mißverstehen lehrte!" Wer mißversteht, das ist Nietzsche.
Allerdings ist er zu entschuldigen. Leicht ist die Sache nicht zu verstehen,
viel wird immer darin geheimnisvoll bleiben, und die Vertreter der Kirche
haben sie freilich oft genug noch mehr verwirrt, anstatt daß sie uns zu einem
leidlichen Verständnis verholfen hätten. Das Grundsätzliche, wie ich es ver¬
stehe, habe ich wiederholt bei andern Gelegenheiten dargelegt und kann mich
hier daher kurz fassen. Das Neue Testament lehrt keineswegs den Leib gering
achten und den Geschlechtstrieb sür etwas Böses ansehn. Es ist auch nicht
einmal prüde. Der Begriff vom Leibe, den Nietzsche bekämpft, ist manichüisch;
der Manichäismus, ein Ableger des Parsismus, ist schon zweihundert Jahre
vor dem Auftreten des Mannes, der ihm den Namen gegeben hat, in die noch
ganz junge Kirche eingedrungen, und die Apostel haben ihn bekämpft. Der
erste Timothensbrief z. B. warnt vor Verführern, die verbieten, zu heiraten
und Speisen zu genießen, und erklärt ausdrücklich: "Alles, was Gott geschaffen
hat, ist gut, und nichts verwerflich, was mit Danksagung genossen wird."
Manichüische Anschauungen haben sich nun bis auf den heutigen Tag in der
Kirche behauptet, und mit ihnen hat sich in neuerer Zeit die dem christlichen
Mittelalter ebenso wie den Reformatoren ganz fremde Prüderie verbunden.
Diese ist einerseits aus der Plumpheit des durchschnittlichen Engländers ent¬
standen, bei dem sofort die Bestie hervorbricht, wenn er nicht durch die Fesseln
der strengen Sitte gezügelt wird, andrerseits aus der Vornehmthuerei der
höhern Stunde, und wer will heute nicht zu den höhern Ständen gerechnet
werden! Man will sich als etwas besseres zeigen als die gewöhnlichen Menschen,
und im Wetteifer um die Vornehmheit des Benehmens gelangt man schließlich


Friedrich Nietzsche

finden; vielleicht aus Konkurrenzneid, weil Paulus schon 1800 Jahre vor ihm
die Gesetzesknechtschaft grundsätzlich gebrochen hat. Zu Nietzsches Entschuldi¬
gung glaube ich, daß er seit seiner Konfirmation in den'Briefen des Apostels
nicht mehr gelesen hat.

Die beiden schwersten Vorwürfe, die er gegen das Christentum erhebt,
siud die, daß es den Leib entwürdige, und daß es der Sklavenmoral zur
Herrschaft verholfen habe. In Beziehung auf den ersten Punkt klagt er — um
aus den vielen Stellen dieser Art nur einige wenige hervorzuheben —, daß
das Christentum nicht allein das Altertum im allgemeinen durchteufelt habe,
was der Gipfel verleumderischer Bosheit sei (XII, 161), sondern auch sich noch
ganz besonders am Geschlechtsleben vergangen habe. „Das Christentum gab
dem Eros Gift zu trinken: er starb zwar nicht daran, aber entartete zum
Laster." Und VIII, 173: „Erst das Christentum, mit seinem Ressentiment
gegen das Leben auf dem Grunde, hat aus der Geschlechtlichkeit etwas Un¬
reines gemacht: es warf Kot auf den Anfang, auf die Voraussetzung des
Lebens." Wir andern, ruft er S. 288 desselben Bandes, „die wir den Mut
zur Gesundheit und auch zur Verachtung haben, wie dürfen wir eine Religion
verachten, die den Leib mißverstehen lehrte!" Wer mißversteht, das ist Nietzsche.
Allerdings ist er zu entschuldigen. Leicht ist die Sache nicht zu verstehen,
viel wird immer darin geheimnisvoll bleiben, und die Vertreter der Kirche
haben sie freilich oft genug noch mehr verwirrt, anstatt daß sie uns zu einem
leidlichen Verständnis verholfen hätten. Das Grundsätzliche, wie ich es ver¬
stehe, habe ich wiederholt bei andern Gelegenheiten dargelegt und kann mich
hier daher kurz fassen. Das Neue Testament lehrt keineswegs den Leib gering
achten und den Geschlechtstrieb sür etwas Böses ansehn. Es ist auch nicht
einmal prüde. Der Begriff vom Leibe, den Nietzsche bekämpft, ist manichüisch;
der Manichäismus, ein Ableger des Parsismus, ist schon zweihundert Jahre
vor dem Auftreten des Mannes, der ihm den Namen gegeben hat, in die noch
ganz junge Kirche eingedrungen, und die Apostel haben ihn bekämpft. Der
erste Timothensbrief z. B. warnt vor Verführern, die verbieten, zu heiraten
und Speisen zu genießen, und erklärt ausdrücklich: „Alles, was Gott geschaffen
hat, ist gut, und nichts verwerflich, was mit Danksagung genossen wird."
Manichüische Anschauungen haben sich nun bis auf den heutigen Tag in der
Kirche behauptet, und mit ihnen hat sich in neuerer Zeit die dem christlichen
Mittelalter ebenso wie den Reformatoren ganz fremde Prüderie verbunden.
Diese ist einerseits aus der Plumpheit des durchschnittlichen Engländers ent¬
standen, bei dem sofort die Bestie hervorbricht, wenn er nicht durch die Fesseln
der strengen Sitte gezügelt wird, andrerseits aus der Vornehmthuerei der
höhern Stunde, und wer will heute nicht zu den höhern Ständen gerechnet
werden! Man will sich als etwas besseres zeigen als die gewöhnlichen Menschen,
und im Wetteifer um die Vornehmheit des Benehmens gelangt man schließlich


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0228" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/228530"/>
          <fw type="header" place="top"> Friedrich Nietzsche</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_828" prev="#ID_827"> finden; vielleicht aus Konkurrenzneid, weil Paulus schon 1800 Jahre vor ihm<lb/>
die Gesetzesknechtschaft grundsätzlich gebrochen hat. Zu Nietzsches Entschuldi¬<lb/>
gung glaube ich, daß er seit seiner Konfirmation in den'Briefen des Apostels<lb/>
nicht mehr gelesen hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_829" next="#ID_830"> Die beiden schwersten Vorwürfe, die er gegen das Christentum erhebt,<lb/>
siud die, daß es den Leib entwürdige, und daß es der Sklavenmoral zur<lb/>
Herrschaft verholfen habe. In Beziehung auf den ersten Punkt klagt er &#x2014; um<lb/>
aus den vielen Stellen dieser Art nur einige wenige hervorzuheben &#x2014;, daß<lb/>
das Christentum nicht allein das Altertum im allgemeinen durchteufelt habe,<lb/>
was der Gipfel verleumderischer Bosheit sei (XII, 161), sondern auch sich noch<lb/>
ganz besonders am Geschlechtsleben vergangen habe. &#x201E;Das Christentum gab<lb/>
dem Eros Gift zu trinken: er starb zwar nicht daran, aber entartete zum<lb/>
Laster." Und VIII, 173: &#x201E;Erst das Christentum, mit seinem Ressentiment<lb/>
gegen das Leben auf dem Grunde, hat aus der Geschlechtlichkeit etwas Un¬<lb/>
reines gemacht: es warf Kot auf den Anfang, auf die Voraussetzung des<lb/>
Lebens." Wir andern, ruft er S. 288 desselben Bandes, &#x201E;die wir den Mut<lb/>
zur Gesundheit und auch zur Verachtung haben, wie dürfen wir eine Religion<lb/>
verachten, die den Leib mißverstehen lehrte!" Wer mißversteht, das ist Nietzsche.<lb/>
Allerdings ist er zu entschuldigen. Leicht ist die Sache nicht zu verstehen,<lb/>
viel wird immer darin geheimnisvoll bleiben, und die Vertreter der Kirche<lb/>
haben sie freilich oft genug noch mehr verwirrt, anstatt daß sie uns zu einem<lb/>
leidlichen Verständnis verholfen hätten. Das Grundsätzliche, wie ich es ver¬<lb/>
stehe, habe ich wiederholt bei andern Gelegenheiten dargelegt und kann mich<lb/>
hier daher kurz fassen. Das Neue Testament lehrt keineswegs den Leib gering<lb/>
achten und den Geschlechtstrieb sür etwas Böses ansehn. Es ist auch nicht<lb/>
einmal prüde. Der Begriff vom Leibe, den Nietzsche bekämpft, ist manichüisch;<lb/>
der Manichäismus, ein Ableger des Parsismus, ist schon zweihundert Jahre<lb/>
vor dem Auftreten des Mannes, der ihm den Namen gegeben hat, in die noch<lb/>
ganz junge Kirche eingedrungen, und die Apostel haben ihn bekämpft. Der<lb/>
erste Timothensbrief z. B. warnt vor Verführern, die verbieten, zu heiraten<lb/>
und Speisen zu genießen, und erklärt ausdrücklich: &#x201E;Alles, was Gott geschaffen<lb/>
hat, ist gut, und nichts verwerflich, was mit Danksagung genossen wird."<lb/>
Manichüische Anschauungen haben sich nun bis auf den heutigen Tag in der<lb/>
Kirche behauptet, und mit ihnen hat sich in neuerer Zeit die dem christlichen<lb/>
Mittelalter ebenso wie den Reformatoren ganz fremde Prüderie verbunden.<lb/>
Diese ist einerseits aus der Plumpheit des durchschnittlichen Engländers ent¬<lb/>
standen, bei dem sofort die Bestie hervorbricht, wenn er nicht durch die Fesseln<lb/>
der strengen Sitte gezügelt wird, andrerseits aus der Vornehmthuerei der<lb/>
höhern Stunde, und wer will heute nicht zu den höhern Ständen gerechnet<lb/>
werden! Man will sich als etwas besseres zeigen als die gewöhnlichen Menschen,<lb/>
und im Wetteifer um die Vornehmheit des Benehmens gelangt man schließlich</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0228] Friedrich Nietzsche finden; vielleicht aus Konkurrenzneid, weil Paulus schon 1800 Jahre vor ihm die Gesetzesknechtschaft grundsätzlich gebrochen hat. Zu Nietzsches Entschuldi¬ gung glaube ich, daß er seit seiner Konfirmation in den'Briefen des Apostels nicht mehr gelesen hat. Die beiden schwersten Vorwürfe, die er gegen das Christentum erhebt, siud die, daß es den Leib entwürdige, und daß es der Sklavenmoral zur Herrschaft verholfen habe. In Beziehung auf den ersten Punkt klagt er — um aus den vielen Stellen dieser Art nur einige wenige hervorzuheben —, daß das Christentum nicht allein das Altertum im allgemeinen durchteufelt habe, was der Gipfel verleumderischer Bosheit sei (XII, 161), sondern auch sich noch ganz besonders am Geschlechtsleben vergangen habe. „Das Christentum gab dem Eros Gift zu trinken: er starb zwar nicht daran, aber entartete zum Laster." Und VIII, 173: „Erst das Christentum, mit seinem Ressentiment gegen das Leben auf dem Grunde, hat aus der Geschlechtlichkeit etwas Un¬ reines gemacht: es warf Kot auf den Anfang, auf die Voraussetzung des Lebens." Wir andern, ruft er S. 288 desselben Bandes, „die wir den Mut zur Gesundheit und auch zur Verachtung haben, wie dürfen wir eine Religion verachten, die den Leib mißverstehen lehrte!" Wer mißversteht, das ist Nietzsche. Allerdings ist er zu entschuldigen. Leicht ist die Sache nicht zu verstehen, viel wird immer darin geheimnisvoll bleiben, und die Vertreter der Kirche haben sie freilich oft genug noch mehr verwirrt, anstatt daß sie uns zu einem leidlichen Verständnis verholfen hätten. Das Grundsätzliche, wie ich es ver¬ stehe, habe ich wiederholt bei andern Gelegenheiten dargelegt und kann mich hier daher kurz fassen. Das Neue Testament lehrt keineswegs den Leib gering achten und den Geschlechtstrieb sür etwas Böses ansehn. Es ist auch nicht einmal prüde. Der Begriff vom Leibe, den Nietzsche bekämpft, ist manichüisch; der Manichäismus, ein Ableger des Parsismus, ist schon zweihundert Jahre vor dem Auftreten des Mannes, der ihm den Namen gegeben hat, in die noch ganz junge Kirche eingedrungen, und die Apostel haben ihn bekämpft. Der erste Timothensbrief z. B. warnt vor Verführern, die verbieten, zu heiraten und Speisen zu genießen, und erklärt ausdrücklich: „Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut, und nichts verwerflich, was mit Danksagung genossen wird." Manichüische Anschauungen haben sich nun bis auf den heutigen Tag in der Kirche behauptet, und mit ihnen hat sich in neuerer Zeit die dem christlichen Mittelalter ebenso wie den Reformatoren ganz fremde Prüderie verbunden. Diese ist einerseits aus der Plumpheit des durchschnittlichen Engländers ent¬ standen, bei dem sofort die Bestie hervorbricht, wenn er nicht durch die Fesseln der strengen Sitte gezügelt wird, andrerseits aus der Vornehmthuerei der höhern Stunde, und wer will heute nicht zu den höhern Ständen gerechnet werden! Man will sich als etwas besseres zeigen als die gewöhnlichen Menschen, und im Wetteifer um die Vornehmheit des Benehmens gelangt man schließlich

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/228
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/228>, abgerufen am 28.07.2024.