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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Nach der Reichstagswahl

und höchsten, und in Handel, Gewerbe und Landwirtschaft ebenso, wie in den
sogenannten liberalen Berufen. Bringen wir nur die sich über das Sonder¬
interesse grundsätzlich erhebende politische Bildung erst wieder zu Ehren, wir
werden staunen, welche Fülle uninteressirter Vaterlandsliebe und monarchischer
Gesinnung sich unter dem Druck des modernen Parteiwesens und seiner ge¬
fälschten Realpolitik verborgen gehalten hat. Die deutsche Natur ist trotz aller
demagogischen Gewaltkuren, die sie seit zwanzig Jahren vergewaltigt haben,
vornehm geblieben, und die durch und dnrch unvornchme Jnteressenwirtschaft
läuft dem Deutschen auch heute noch wider die Natur. Der deutsche Michel
wird, wenn er nur erst aufwacht, den Demagogen mit Grafenkrone und Schlapp¬
hut gleichermaßen, wie sie es verdienen, die Thür weisen.

Wer sammeln will, muß versöhnlich sein. Einseitigkeiten, Übertreibungen,
Doktrinarismus und Prinzipienreiterei muß er vermeiden. Aus seiner Haut
kann niemand fahren, und unter einen Hut sind alle deutschen Köpfe nun
einmal nicht zu bringen. Fest und unerbittlich aber muß er sein gegen die
Störenfriede, die böswilligen wie die fahrlässigen. Den Störenfrieden gilt
der Kampf!

Wer zu versöhnen, wer zu bekämpfen ist, mag heute im einzelnen uner-
örtert bleiben. Die Grenzboten haben darüber bisher kein Blatt vor den Mund
genommen, und sie werden in der nächsten Zeit das, was sie im Interesse der
wahren deutsch-nationalen Sammelpolitik zu sagen haben, ohne Rücksicht nach
rechts und links, Punkt für Punkt ihren Lesern darlegen. Hier nur noch einige
vorläufige Bemerkungen!

Ganz entschieden zurückzuweisen sind zunächst die schon gemachten Versuche,
einen angeblichen neuesten Kurs des Kaisers und der verbündeten Regierungen
in der Sozialpolitik für die Zunahme der sozialdemokratischen Stimmen ver¬
antwortlich zu machen. Nichts, gar nichts ist von den Regierungen gethan
oder unterlassen worden, was die vatcrlcmdslose Politik der Sozialdemokratie
entschuldigen oder ins Recht setzen und so den stärkern Zulauf der Arbeiter
zur Fahne dieser im vollsten Sinne gemeingefährlichen Volksverderber erklären
könnte.

sonnenklar dagegen sind in dieser Zunahme für jeden gebildeten Mann, der
nicht durch die staatswissenschaftliche Modekrankheit blind gemacht ist, die Wir¬
kungen der kathedersozialistischen Bemühungen zu erkennen, die die sozialdemokra¬
tische Politik als den Arbeitern heilsam darzustellen suchen. Allein die katheder¬
sozialistische und freisinnige Lehre von der Mauserung der Sozialdemokratie mußte
Tausende von Arbeitern dieser in die Arme treiben. Es ist erstaunlich, daß die
Wirkung dieser Lehre bei den Wahlen noch so wenig hervorgetreten ist. Zu ver¬
langen ist deshalb unnachsichtich von den Kathedersozialisten, deren Uneigennützig-
keit damit in keiner Weise bezweifelt werden soll, eine größere Zurückhaltung
und Bescheidenheit in den Fragen der praktischen Sozialpolitik. Es muß als


Nach der Reichstagswahl

und höchsten, und in Handel, Gewerbe und Landwirtschaft ebenso, wie in den
sogenannten liberalen Berufen. Bringen wir nur die sich über das Sonder¬
interesse grundsätzlich erhebende politische Bildung erst wieder zu Ehren, wir
werden staunen, welche Fülle uninteressirter Vaterlandsliebe und monarchischer
Gesinnung sich unter dem Druck des modernen Parteiwesens und seiner ge¬
fälschten Realpolitik verborgen gehalten hat. Die deutsche Natur ist trotz aller
demagogischen Gewaltkuren, die sie seit zwanzig Jahren vergewaltigt haben,
vornehm geblieben, und die durch und dnrch unvornchme Jnteressenwirtschaft
läuft dem Deutschen auch heute noch wider die Natur. Der deutsche Michel
wird, wenn er nur erst aufwacht, den Demagogen mit Grafenkrone und Schlapp¬
hut gleichermaßen, wie sie es verdienen, die Thür weisen.

Wer sammeln will, muß versöhnlich sein. Einseitigkeiten, Übertreibungen,
Doktrinarismus und Prinzipienreiterei muß er vermeiden. Aus seiner Haut
kann niemand fahren, und unter einen Hut sind alle deutschen Köpfe nun
einmal nicht zu bringen. Fest und unerbittlich aber muß er sein gegen die
Störenfriede, die böswilligen wie die fahrlässigen. Den Störenfrieden gilt
der Kampf!

Wer zu versöhnen, wer zu bekämpfen ist, mag heute im einzelnen uner-
örtert bleiben. Die Grenzboten haben darüber bisher kein Blatt vor den Mund
genommen, und sie werden in der nächsten Zeit das, was sie im Interesse der
wahren deutsch-nationalen Sammelpolitik zu sagen haben, ohne Rücksicht nach
rechts und links, Punkt für Punkt ihren Lesern darlegen. Hier nur noch einige
vorläufige Bemerkungen!

Ganz entschieden zurückzuweisen sind zunächst die schon gemachten Versuche,
einen angeblichen neuesten Kurs des Kaisers und der verbündeten Regierungen
in der Sozialpolitik für die Zunahme der sozialdemokratischen Stimmen ver¬
antwortlich zu machen. Nichts, gar nichts ist von den Regierungen gethan
oder unterlassen worden, was die vatcrlcmdslose Politik der Sozialdemokratie
entschuldigen oder ins Recht setzen und so den stärkern Zulauf der Arbeiter
zur Fahne dieser im vollsten Sinne gemeingefährlichen Volksverderber erklären
könnte.

sonnenklar dagegen sind in dieser Zunahme für jeden gebildeten Mann, der
nicht durch die staatswissenschaftliche Modekrankheit blind gemacht ist, die Wir¬
kungen der kathedersozialistischen Bemühungen zu erkennen, die die sozialdemokra¬
tische Politik als den Arbeitern heilsam darzustellen suchen. Allein die katheder¬
sozialistische und freisinnige Lehre von der Mauserung der Sozialdemokratie mußte
Tausende von Arbeitern dieser in die Arme treiben. Es ist erstaunlich, daß die
Wirkung dieser Lehre bei den Wahlen noch so wenig hervorgetreten ist. Zu ver¬
langen ist deshalb unnachsichtich von den Kathedersozialisten, deren Uneigennützig-
keit damit in keiner Weise bezweifelt werden soll, eine größere Zurückhaltung
und Bescheidenheit in den Fragen der praktischen Sozialpolitik. Es muß als


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/13>, abgerufen am 01.09.2024.