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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Nach der Reichstagswahl

eine unverantwortliche Leichtfertigkeit bezeichnet werden, wenn Anhänger dieser
Schule seit Jahren den Kaiser und seine Verantwortlicher Ratgeber deshalb
vor der großen Masse eines antisozialen und arbeiterfeindlichen Gesinnungs¬
wechsels bezichtigen, weil der Staat nicht alle in der Studirstubentheorie ge-
bornen Sozialreformen ohne weiteres gesetzlich verwirklicht hat. Der wissen¬
schaftlichen Arbeit dieser Schule ist dadurch ein agitatorischer, ja teilweise ein
demagogischer Charakter verliehen worden, der die Würde der Staatswissen¬
schaft untergräbt und die Versöhnung der von der Sozialdemokratie erfaßten
Arbeitermassen mit dem Staat thatsächlich unmöglich zu machen droht.

Ebenso ist entgegenzutreten den Einseitigkeiten und den Übertreibungen in
der Wirtschaftspolitik. So wertvoll die Erhaltung einer leistungsfähigen Land¬
wirtschaft und einer zahlreichen und zufriedner landwirtschaftlichen Bevölkerung
ist, so verlangt doch die Zukunft gerade auch eine ganz besondre Fürsorge für Ge¬
werbe und Handel als die zur Hauptquelle des Unterhalts für die stark zunehmende
Bevölkerung und des dringend nötigen Wachstums des Nationalreichtums ge-
wordnen Wirtschaftszweige. Eine gesunde Landwirtschaft ist neben blühendem
und fortschreitendem Handel und Gewerbe möglich. Zurückzuweisen sind
namentlich alle Versuche, die insbesondre im Osten durch fehlerhafte Speku¬
lationen herbeigeführten übermäßigen Güterpreise durch eine staatlich garantirte
Hohe der Grundrente künstlich zu erhalten. Der demagogische Pseudosozialismus
hat in dieser Hinsicht besonders schweres Unheil angerichtet. Die Rechts¬
begriffe sind dadurch ins Wanken gebracht, die Vornehmheit der politischen
Gesinnung untergraben, ja die sittlichen Anschauungen zum Teil schon ver¬
wirrt worden.

Trotzdem sind hoffentlich diese Erscheinungen nur als vorübergehende zu
betrachten. Der monarchische Geist und die Vaterlandsliebe sind der Masse
der preußischen Gutsbesitzer noch keineswegs verloren gegangen, und gerade der
Agrardemagogie werden der Kaiser und die Negierung durch Festigkeit und Ernst
am leichtesten Herr werden. Am schwersten würde sich aber gerade hier Schwäch¬
lichkeit und ungerechte Bevorzugung rächen. Die innere Kolonisation hat ein
großes praktisches Interesse gewonnen. Aber auch für sie ist der Doktrinarismus
eine Gefahr. Die einseitige Schwärmerei für kleinere und mittlere Bauern-
betriebe würde im Osten Deutschlands jede höhere Bildung vom platten Lande
verscheuchen; auch bei der Erhaltung zahlreicher Rittergüter ist eine kräftige
Kolonisation im Osten möglich.

Die "Expansion" wird für die deutsche Nation von Jahrzehnt zu Jahr¬
zehnt ein immer dringenderes Bedürfnis. Die Weltpolitik des Kaisers und die
Flottenverstärkung schafft für sie die unerläßlichen Vorbedingungen.

Eine schwere Aufgabe wird die Gewinnung der zur ultramontanen Fahne
schwörenden Deutschen sein. Der Ultramontanismus ist gegen das Deutsche
Reich unversöhnlich, aber die Versöhnung der deutschen Katholiken mit dem


Nach der Reichstagswahl

eine unverantwortliche Leichtfertigkeit bezeichnet werden, wenn Anhänger dieser
Schule seit Jahren den Kaiser und seine Verantwortlicher Ratgeber deshalb
vor der großen Masse eines antisozialen und arbeiterfeindlichen Gesinnungs¬
wechsels bezichtigen, weil der Staat nicht alle in der Studirstubentheorie ge-
bornen Sozialreformen ohne weiteres gesetzlich verwirklicht hat. Der wissen¬
schaftlichen Arbeit dieser Schule ist dadurch ein agitatorischer, ja teilweise ein
demagogischer Charakter verliehen worden, der die Würde der Staatswissen¬
schaft untergräbt und die Versöhnung der von der Sozialdemokratie erfaßten
Arbeitermassen mit dem Staat thatsächlich unmöglich zu machen droht.

Ebenso ist entgegenzutreten den Einseitigkeiten und den Übertreibungen in
der Wirtschaftspolitik. So wertvoll die Erhaltung einer leistungsfähigen Land¬
wirtschaft und einer zahlreichen und zufriedner landwirtschaftlichen Bevölkerung
ist, so verlangt doch die Zukunft gerade auch eine ganz besondre Fürsorge für Ge¬
werbe und Handel als die zur Hauptquelle des Unterhalts für die stark zunehmende
Bevölkerung und des dringend nötigen Wachstums des Nationalreichtums ge-
wordnen Wirtschaftszweige. Eine gesunde Landwirtschaft ist neben blühendem
und fortschreitendem Handel und Gewerbe möglich. Zurückzuweisen sind
namentlich alle Versuche, die insbesondre im Osten durch fehlerhafte Speku¬
lationen herbeigeführten übermäßigen Güterpreise durch eine staatlich garantirte
Hohe der Grundrente künstlich zu erhalten. Der demagogische Pseudosozialismus
hat in dieser Hinsicht besonders schweres Unheil angerichtet. Die Rechts¬
begriffe sind dadurch ins Wanken gebracht, die Vornehmheit der politischen
Gesinnung untergraben, ja die sittlichen Anschauungen zum Teil schon ver¬
wirrt worden.

Trotzdem sind hoffentlich diese Erscheinungen nur als vorübergehende zu
betrachten. Der monarchische Geist und die Vaterlandsliebe sind der Masse
der preußischen Gutsbesitzer noch keineswegs verloren gegangen, und gerade der
Agrardemagogie werden der Kaiser und die Negierung durch Festigkeit und Ernst
am leichtesten Herr werden. Am schwersten würde sich aber gerade hier Schwäch¬
lichkeit und ungerechte Bevorzugung rächen. Die innere Kolonisation hat ein
großes praktisches Interesse gewonnen. Aber auch für sie ist der Doktrinarismus
eine Gefahr. Die einseitige Schwärmerei für kleinere und mittlere Bauern-
betriebe würde im Osten Deutschlands jede höhere Bildung vom platten Lande
verscheuchen; auch bei der Erhaltung zahlreicher Rittergüter ist eine kräftige
Kolonisation im Osten möglich.

Die „Expansion" wird für die deutsche Nation von Jahrzehnt zu Jahr¬
zehnt ein immer dringenderes Bedürfnis. Die Weltpolitik des Kaisers und die
Flottenverstärkung schafft für sie die unerläßlichen Vorbedingungen.

Eine schwere Aufgabe wird die Gewinnung der zur ultramontanen Fahne
schwörenden Deutschen sein. Der Ultramontanismus ist gegen das Deutsche
Reich unversöhnlich, aber die Versöhnung der deutschen Katholiken mit dem


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[0014] Nach der Reichstagswahl eine unverantwortliche Leichtfertigkeit bezeichnet werden, wenn Anhänger dieser Schule seit Jahren den Kaiser und seine Verantwortlicher Ratgeber deshalb vor der großen Masse eines antisozialen und arbeiterfeindlichen Gesinnungs¬ wechsels bezichtigen, weil der Staat nicht alle in der Studirstubentheorie ge- bornen Sozialreformen ohne weiteres gesetzlich verwirklicht hat. Der wissen¬ schaftlichen Arbeit dieser Schule ist dadurch ein agitatorischer, ja teilweise ein demagogischer Charakter verliehen worden, der die Würde der Staatswissen¬ schaft untergräbt und die Versöhnung der von der Sozialdemokratie erfaßten Arbeitermassen mit dem Staat thatsächlich unmöglich zu machen droht. Ebenso ist entgegenzutreten den Einseitigkeiten und den Übertreibungen in der Wirtschaftspolitik. So wertvoll die Erhaltung einer leistungsfähigen Land¬ wirtschaft und einer zahlreichen und zufriedner landwirtschaftlichen Bevölkerung ist, so verlangt doch die Zukunft gerade auch eine ganz besondre Fürsorge für Ge¬ werbe und Handel als die zur Hauptquelle des Unterhalts für die stark zunehmende Bevölkerung und des dringend nötigen Wachstums des Nationalreichtums ge- wordnen Wirtschaftszweige. Eine gesunde Landwirtschaft ist neben blühendem und fortschreitendem Handel und Gewerbe möglich. Zurückzuweisen sind namentlich alle Versuche, die insbesondre im Osten durch fehlerhafte Speku¬ lationen herbeigeführten übermäßigen Güterpreise durch eine staatlich garantirte Hohe der Grundrente künstlich zu erhalten. Der demagogische Pseudosozialismus hat in dieser Hinsicht besonders schweres Unheil angerichtet. Die Rechts¬ begriffe sind dadurch ins Wanken gebracht, die Vornehmheit der politischen Gesinnung untergraben, ja die sittlichen Anschauungen zum Teil schon ver¬ wirrt worden. Trotzdem sind hoffentlich diese Erscheinungen nur als vorübergehende zu betrachten. Der monarchische Geist und die Vaterlandsliebe sind der Masse der preußischen Gutsbesitzer noch keineswegs verloren gegangen, und gerade der Agrardemagogie werden der Kaiser und die Negierung durch Festigkeit und Ernst am leichtesten Herr werden. Am schwersten würde sich aber gerade hier Schwäch¬ lichkeit und ungerechte Bevorzugung rächen. Die innere Kolonisation hat ein großes praktisches Interesse gewonnen. Aber auch für sie ist der Doktrinarismus eine Gefahr. Die einseitige Schwärmerei für kleinere und mittlere Bauern- betriebe würde im Osten Deutschlands jede höhere Bildung vom platten Lande verscheuchen; auch bei der Erhaltung zahlreicher Rittergüter ist eine kräftige Kolonisation im Osten möglich. Die „Expansion" wird für die deutsche Nation von Jahrzehnt zu Jahr¬ zehnt ein immer dringenderes Bedürfnis. Die Weltpolitik des Kaisers und die Flottenverstärkung schafft für sie die unerläßlichen Vorbedingungen. Eine schwere Aufgabe wird die Gewinnung der zur ultramontanen Fahne schwörenden Deutschen sein. Der Ultramontanismus ist gegen das Deutsche Reich unversöhnlich, aber die Versöhnung der deutschen Katholiken mit dem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/14>, abgerufen am 01.09.2024.