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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Makedonien

haust haben, daß die Einwohner mit Freuden die Einnahme der Stadt im
Jahre 1430 durch die Türken begrüßten, die sich mit Leichtigkeit ihrer be¬
mächtigten und sie dann auch mit einer kurzen Unterbrechung in ihrer Hand
behielten.

Unter den Türken gewann Salonik sein heutiges Aussehen und seinen
jetzigen Charakter. Damit soll nicht etwa die Umwandlung des größern Teils
der christlichen Kirchen in muhcimmedanische Dschamis gemeint sein, denn damit
wurde wenig geändert, es wurden eben die Mosaikbilder in diesen Kirchen zu-
geschmiert und ein paar Minareh angesetzt; ebenso wurde an den Befestigungen
nichts namhaftes geändert^ nur verfallen sind sie etwas mit der Zeit. Aber
auch nicht den Verfall der öffentlichen und noch mehr der privaten Bauten
meine ich mit dem eigentlichen Charakter, den Salonik unter den Türken ge¬
wann; alle türkischen Städte machen mehr oder weniger diesen ruinenhaften
und vernachlässigten Eindruck. Man führt dies auf die Trägheit des Türken
zurück, der ja auch in Salonik der Besitzer der meisten Hänser ist, und auf
seine Abneigung, etwas in gutem Stande zu halten. Vielleicht aber liegt der
Hauptanlaß zu diesem Elend der allgemeinen Baufälligkeit in der Türkei doch
weniger in einem Charakterfehler der Türken, als in einer thörichten gesetz¬
lichen Bestimmung. Diese Bestimmung lautet, daß kein Haus oder Grund¬
eigentum gepfändet oder eingezogen werden darf, mögen unbezahlte Steuern
von Jahren auch darauf liegen; dagegen kann der Staat vorgehen, nicht nur
wenn der Mieter wechselt, sondern auch wenn der Besitzer des Hauses etwas
ausbessern will. Die Folge ist dann, daß beides unterbleibt, das Steuerzahler
sowohl als das Ausbessern, und wie dann so eine Stadt nach einiger Zeit
aussieht, kann man sich denken.

Was Salonik seine Eigentümlichkeit verleiht ist der Umstand, daß es die
größte Judenstadt nicht nur des Orients, sondern der ganzen Welt ist.
Amsterdam hat unter 600000 Einwohnern 60000 Juden, Salonik aber hat
unter 130000 Einwohnern mehr als 80000 Jsraeliten. Es sind dies aber
-- jedenfalls der Hauptsache nach -- nicht Abkömmlinge der großen Juden¬
gemeinde, die schon Paulus an diesem Welthandelsplatz vorfand, sondern sie
stammen eben daher, woher auch so viele der Amsterdamer Judenfamilien sind,
aus Spanien, und nur ein kleiner Prozentsatz stammt von den in Wesen und
Erscheinung sehr von diesen Spagnolen verschiednen polnischen Juden, die sich
vor den Verfolgungen in Rußland und Rumänien neuerdings unter den Schutz
des Halbmonds flüchten. Die Spagnolen, wie die Franken sie nennen wegen
ihres nicht allzusehr vom heutigen kastellanischen verschiednen Dialekts, nennen
sich selbst Sefardim nach der hebräischen Bezeichnung für Spanien, Sefard.
Von hier wanderten sie zu Ende des fünfzehnten Jahrhunderts aus infolge
der grausamen Verfolgungen, die man unter Ferdinand dem Katholischen und
Jsabella von Aragonien zuerst gegen die Marannen, d. h. die zum Christen¬
tum gewaltsam gepreßten, dann aber heimlich rückfällig gewordnen Juden er-


Makedonien

haust haben, daß die Einwohner mit Freuden die Einnahme der Stadt im
Jahre 1430 durch die Türken begrüßten, die sich mit Leichtigkeit ihrer be¬
mächtigten und sie dann auch mit einer kurzen Unterbrechung in ihrer Hand
behielten.

Unter den Türken gewann Salonik sein heutiges Aussehen und seinen
jetzigen Charakter. Damit soll nicht etwa die Umwandlung des größern Teils
der christlichen Kirchen in muhcimmedanische Dschamis gemeint sein, denn damit
wurde wenig geändert, es wurden eben die Mosaikbilder in diesen Kirchen zu-
geschmiert und ein paar Minareh angesetzt; ebenso wurde an den Befestigungen
nichts namhaftes geändert^ nur verfallen sind sie etwas mit der Zeit. Aber
auch nicht den Verfall der öffentlichen und noch mehr der privaten Bauten
meine ich mit dem eigentlichen Charakter, den Salonik unter den Türken ge¬
wann; alle türkischen Städte machen mehr oder weniger diesen ruinenhaften
und vernachlässigten Eindruck. Man führt dies auf die Trägheit des Türken
zurück, der ja auch in Salonik der Besitzer der meisten Hänser ist, und auf
seine Abneigung, etwas in gutem Stande zu halten. Vielleicht aber liegt der
Hauptanlaß zu diesem Elend der allgemeinen Baufälligkeit in der Türkei doch
weniger in einem Charakterfehler der Türken, als in einer thörichten gesetz¬
lichen Bestimmung. Diese Bestimmung lautet, daß kein Haus oder Grund¬
eigentum gepfändet oder eingezogen werden darf, mögen unbezahlte Steuern
von Jahren auch darauf liegen; dagegen kann der Staat vorgehen, nicht nur
wenn der Mieter wechselt, sondern auch wenn der Besitzer des Hauses etwas
ausbessern will. Die Folge ist dann, daß beides unterbleibt, das Steuerzahler
sowohl als das Ausbessern, und wie dann so eine Stadt nach einiger Zeit
aussieht, kann man sich denken.

Was Salonik seine Eigentümlichkeit verleiht ist der Umstand, daß es die
größte Judenstadt nicht nur des Orients, sondern der ganzen Welt ist.
Amsterdam hat unter 600000 Einwohnern 60000 Juden, Salonik aber hat
unter 130000 Einwohnern mehr als 80000 Jsraeliten. Es sind dies aber
— jedenfalls der Hauptsache nach — nicht Abkömmlinge der großen Juden¬
gemeinde, die schon Paulus an diesem Welthandelsplatz vorfand, sondern sie
stammen eben daher, woher auch so viele der Amsterdamer Judenfamilien sind,
aus Spanien, und nur ein kleiner Prozentsatz stammt von den in Wesen und
Erscheinung sehr von diesen Spagnolen verschiednen polnischen Juden, die sich
vor den Verfolgungen in Rußland und Rumänien neuerdings unter den Schutz
des Halbmonds flüchten. Die Spagnolen, wie die Franken sie nennen wegen
ihres nicht allzusehr vom heutigen kastellanischen verschiednen Dialekts, nennen
sich selbst Sefardim nach der hebräischen Bezeichnung für Spanien, Sefard.
Von hier wanderten sie zu Ende des fünfzehnten Jahrhunderts aus infolge
der grausamen Verfolgungen, die man unter Ferdinand dem Katholischen und
Jsabella von Aragonien zuerst gegen die Marannen, d. h. die zum Christen¬
tum gewaltsam gepreßten, dann aber heimlich rückfällig gewordnen Juden er-


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[0118] Makedonien haust haben, daß die Einwohner mit Freuden die Einnahme der Stadt im Jahre 1430 durch die Türken begrüßten, die sich mit Leichtigkeit ihrer be¬ mächtigten und sie dann auch mit einer kurzen Unterbrechung in ihrer Hand behielten. Unter den Türken gewann Salonik sein heutiges Aussehen und seinen jetzigen Charakter. Damit soll nicht etwa die Umwandlung des größern Teils der christlichen Kirchen in muhcimmedanische Dschamis gemeint sein, denn damit wurde wenig geändert, es wurden eben die Mosaikbilder in diesen Kirchen zu- geschmiert und ein paar Minareh angesetzt; ebenso wurde an den Befestigungen nichts namhaftes geändert^ nur verfallen sind sie etwas mit der Zeit. Aber auch nicht den Verfall der öffentlichen und noch mehr der privaten Bauten meine ich mit dem eigentlichen Charakter, den Salonik unter den Türken ge¬ wann; alle türkischen Städte machen mehr oder weniger diesen ruinenhaften und vernachlässigten Eindruck. Man führt dies auf die Trägheit des Türken zurück, der ja auch in Salonik der Besitzer der meisten Hänser ist, und auf seine Abneigung, etwas in gutem Stande zu halten. Vielleicht aber liegt der Hauptanlaß zu diesem Elend der allgemeinen Baufälligkeit in der Türkei doch weniger in einem Charakterfehler der Türken, als in einer thörichten gesetz¬ lichen Bestimmung. Diese Bestimmung lautet, daß kein Haus oder Grund¬ eigentum gepfändet oder eingezogen werden darf, mögen unbezahlte Steuern von Jahren auch darauf liegen; dagegen kann der Staat vorgehen, nicht nur wenn der Mieter wechselt, sondern auch wenn der Besitzer des Hauses etwas ausbessern will. Die Folge ist dann, daß beides unterbleibt, das Steuerzahler sowohl als das Ausbessern, und wie dann so eine Stadt nach einiger Zeit aussieht, kann man sich denken. Was Salonik seine Eigentümlichkeit verleiht ist der Umstand, daß es die größte Judenstadt nicht nur des Orients, sondern der ganzen Welt ist. Amsterdam hat unter 600000 Einwohnern 60000 Juden, Salonik aber hat unter 130000 Einwohnern mehr als 80000 Jsraeliten. Es sind dies aber — jedenfalls der Hauptsache nach — nicht Abkömmlinge der großen Juden¬ gemeinde, die schon Paulus an diesem Welthandelsplatz vorfand, sondern sie stammen eben daher, woher auch so viele der Amsterdamer Judenfamilien sind, aus Spanien, und nur ein kleiner Prozentsatz stammt von den in Wesen und Erscheinung sehr von diesen Spagnolen verschiednen polnischen Juden, die sich vor den Verfolgungen in Rußland und Rumänien neuerdings unter den Schutz des Halbmonds flüchten. Die Spagnolen, wie die Franken sie nennen wegen ihres nicht allzusehr vom heutigen kastellanischen verschiednen Dialekts, nennen sich selbst Sefardim nach der hebräischen Bezeichnung für Spanien, Sefard. Von hier wanderten sie zu Ende des fünfzehnten Jahrhunderts aus infolge der grausamen Verfolgungen, die man unter Ferdinand dem Katholischen und Jsabella von Aragonien zuerst gegen die Marannen, d. h. die zum Christen¬ tum gewaltsam gepreßten, dann aber heimlich rückfällig gewordnen Juden er-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/118>, abgerufen am 28.07.2024.