Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.Friedrich Nietzsche ekelhaft aussehenden Kranken oder einer häßlichen Verstümmelung Übelkeit er¬ Um nicht allein die Regungen und Äußerungen des Mitleids, sondern Friedrich Nietzsche ekelhaft aussehenden Kranken oder einer häßlichen Verstümmelung Übelkeit er¬ Um nicht allein die Regungen und Äußerungen des Mitleids, sondern <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0492" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/228128"/> <fw type="header" place="top"> Friedrich Nietzsche</fw><lb/> <p xml:id="ID_1346" prev="#ID_1345"> ekelhaft aussehenden Kranken oder einer häßlichen Verstümmelung Übelkeit er¬<lb/> regt), daß es oft unverständig angewendet und daß viel Unfug damit getrieben<lb/> wird, z. B. von den Tierschutzvereinlern, deren Lehren und Praxis sich zu<lb/> den Tollheiten der Jndier zu steigern drohen, das alles sind allgemein be¬<lb/> kannte Dinge.</p><lb/> <p xml:id="ID_1347" next="#ID_1348"> Um nicht allein die Regungen und Äußerungen des Mitleids, sondern<lb/> überhaupt unser Verhalten zum Nächsten vernünftig regeln zu können, müssen<lb/> wir immer ans den Kern dessen zurückgehen, was als das Gottgefällige be¬<lb/> zeichnet worden ist, und was man auch Humanität nennen kann. Es ist das<lb/> Wohlgefallen an gesundem und schön geordnetem Leben und das Bestreben,<lb/> solches Leben zu erhalten, zu schaffen und zu verbreiten. Daraus folgen für<lb/> das Mitleid unter anderm zwei Regeln. Man wird es nicht jedem beliebigen<lb/> Schmerze zuwenden, sondern nur solchen Schmerzen, die mit ernstlicher<lb/> Schädigung des Lebens verbunden sind. Wegen einer Tracht Prügel, auch<lb/> wenn sie sehr schmerzt, braucht man einen gesunden, kräftigen Burschen, der<lb/> sie lachend oder mit zusammengebissenen Zähnen tapfer trügt, nicht zu bemit¬<lb/> leiden, wohl aber wegen eines Schlages, der einem seiner Augen die Sehkraft<lb/> raubt, oder der gewisser Umstände wegen, z. B. weil er sein Gerechtigkeits¬<lb/> gefühl empfindlich verletzt, auf seine Seele eine verschlechternde und für seine<lb/> Zukunft verhängnisvolle Wirkung ausübt. Aus demselben Grnnde, das ist<lb/> die andre Regel, wird man Kindermißhandlung immer und unter allen Um¬<lb/> ständen verabscheuen, weil sie stets eine Zerstörung oder Verkrüppelung zu¬<lb/> künftigen Lebens bewirkt, dagegen durch die Leiden eines alten Strolches nur<lb/> mäßig gerührt werden, weil an dem nichts mehr zu zerstören ist. Er mag<lb/> früher zu bedauern gewesen sein, aber nachdem er ins höhere Mannesalter ge¬<lb/> kommen war, hätte er, wenn er sein Los zu ändern keine Kraft hatte, sich<lb/> und die Menschheit von der unnützen Last befreien sollen. Auch Nietzsche<lb/> billigt den Selbstmord in Fällen, wo es keinen andern Ausweg aus einer un¬<lb/> würdigen Lage giebt, und die Bibel? Sie enthält auch nicht ein einziges<lb/> Wort gegen den Selbstmord. Aus derselben Betrachtungsweise ergiebt sich<lb/> die Grenze der Berechtigung des Bösen in der Moral. Es kommt vor, daß<lb/> Gerechtigkeit nur mit Verletzung der Liebe, Liebe nur mit Verletzung der<lb/> Gerechtigkeit geübt werden kann, oder daß ein Staatsmann seine dem Wohle<lb/> des Vaterlands förderlichen, vielleicht zur Rettung seines Volks notwendigen<lb/> Pläne nicht ohne vielfache Verletzung der Liebe und Gerechtigkeit ausführen<lb/> kann. In solchen Fällen soll man nicht sagen, der Zweck heilige die Mittel,<lb/> und soll andrerseits einen Aristides, der in solcher Lage aus zarter Gewissen¬<lb/> haftigkeit auf das Handeln verzichtet, weder tadeln noch preisen. Man soll<lb/> die Tragik nicht wegvernünfteln aus der Welt, sondern soll das Verhängnis<lb/> anerkennen, das den Menschen oft in Lagen bringt, wo er in jedem Falle<lb/> sündigen muß, sei es durch Handeln oder durch Unterlassung; das Böse bleibt</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0492]
Friedrich Nietzsche
ekelhaft aussehenden Kranken oder einer häßlichen Verstümmelung Übelkeit er¬
regt), daß es oft unverständig angewendet und daß viel Unfug damit getrieben
wird, z. B. von den Tierschutzvereinlern, deren Lehren und Praxis sich zu
den Tollheiten der Jndier zu steigern drohen, das alles sind allgemein be¬
kannte Dinge.
Um nicht allein die Regungen und Äußerungen des Mitleids, sondern
überhaupt unser Verhalten zum Nächsten vernünftig regeln zu können, müssen
wir immer ans den Kern dessen zurückgehen, was als das Gottgefällige be¬
zeichnet worden ist, und was man auch Humanität nennen kann. Es ist das
Wohlgefallen an gesundem und schön geordnetem Leben und das Bestreben,
solches Leben zu erhalten, zu schaffen und zu verbreiten. Daraus folgen für
das Mitleid unter anderm zwei Regeln. Man wird es nicht jedem beliebigen
Schmerze zuwenden, sondern nur solchen Schmerzen, die mit ernstlicher
Schädigung des Lebens verbunden sind. Wegen einer Tracht Prügel, auch
wenn sie sehr schmerzt, braucht man einen gesunden, kräftigen Burschen, der
sie lachend oder mit zusammengebissenen Zähnen tapfer trügt, nicht zu bemit¬
leiden, wohl aber wegen eines Schlages, der einem seiner Augen die Sehkraft
raubt, oder der gewisser Umstände wegen, z. B. weil er sein Gerechtigkeits¬
gefühl empfindlich verletzt, auf seine Seele eine verschlechternde und für seine
Zukunft verhängnisvolle Wirkung ausübt. Aus demselben Grnnde, das ist
die andre Regel, wird man Kindermißhandlung immer und unter allen Um¬
ständen verabscheuen, weil sie stets eine Zerstörung oder Verkrüppelung zu¬
künftigen Lebens bewirkt, dagegen durch die Leiden eines alten Strolches nur
mäßig gerührt werden, weil an dem nichts mehr zu zerstören ist. Er mag
früher zu bedauern gewesen sein, aber nachdem er ins höhere Mannesalter ge¬
kommen war, hätte er, wenn er sein Los zu ändern keine Kraft hatte, sich
und die Menschheit von der unnützen Last befreien sollen. Auch Nietzsche
billigt den Selbstmord in Fällen, wo es keinen andern Ausweg aus einer un¬
würdigen Lage giebt, und die Bibel? Sie enthält auch nicht ein einziges
Wort gegen den Selbstmord. Aus derselben Betrachtungsweise ergiebt sich
die Grenze der Berechtigung des Bösen in der Moral. Es kommt vor, daß
Gerechtigkeit nur mit Verletzung der Liebe, Liebe nur mit Verletzung der
Gerechtigkeit geübt werden kann, oder daß ein Staatsmann seine dem Wohle
des Vaterlands förderlichen, vielleicht zur Rettung seines Volks notwendigen
Pläne nicht ohne vielfache Verletzung der Liebe und Gerechtigkeit ausführen
kann. In solchen Fällen soll man nicht sagen, der Zweck heilige die Mittel,
und soll andrerseits einen Aristides, der in solcher Lage aus zarter Gewissen¬
haftigkeit auf das Handeln verzichtet, weder tadeln noch preisen. Man soll
die Tragik nicht wegvernünfteln aus der Welt, sondern soll das Verhängnis
anerkennen, das den Menschen oft in Lagen bringt, wo er in jedem Falle
sündigen muß, sei es durch Handeln oder durch Unterlassung; das Böse bleibt
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |