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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Die letzten Worte hat er selbst unterstrichen. Und welche zarte Menschenliebe,
welcher von allem Gemeinen freie Edelsinn spricht aus folgenden, ebenfalls
aus seinem Nachlaß veröffentlichten Bemerkungen (XI. 163): "Gesetzt, jemand
hat Herzeleid durch einen boshaften anonymen Brief: die gewöhnliche Kur ist
die, feine Empfindung entladen, indem man einem andern Herzeleid macht.
Diese alberne Art uralter Homöopathie müssen wir verlernen: es ist klar, das;
wenn er sofort auch einen anonymen Brief schreibt, womit er jemandem eine
Wohlthat und Artigkeit erweist, er seine Wiedergenesung auch erlangt. --
Sobald wir uns verstimmt und gallsüchtig fühlen, sofort den Geldbeutel her
oder die Vrieffeder oder den nächsten Armen oder das erste beste Kind, und
etwas verschenken, womöglich mit wohlwollendem Gesicht: wenn es aber nicht
geht, dann auch mit verbissenen Zähnen." XII, 226 finden sich die Para-
doxien: "Daß ihr mitleidig seid, setze ich voraus: ohne Mitleid sein heißt,
krank im Geiste und Leibe sein. Aber man soll viel Geist haben, um mitleidig
sein zu dürfen! Denn euer Mitleid ist euch allen schädlich. -- Ich liebe
den, der so mitleidig ist, daß er aus der Härte seine Tugend und seinen Gott
macht." Nietzsches Kampf gegen das Mitleid richtet sich eigentlich nur gegen
die Schopenhauerische Mitleidsmoral und gegen die Altruismusmoral der
modernen Soziologen. Darüber brauche ich mich nicht weiter auszulasten,
deun ich habe oft genug an dieser Stelle ausgeführt, daß beides Unsinn ist.
Die Moral im höhern Sinne, die ich oben beschrieben habe, umfaßt alle
Lebensäußerungen des Menschen und beschränkt sich nicht auf die Nächsten¬
liebe, noch weniger auf eine einzelne Äußerung der Nächstenliebe. Ferner
bildet die Nächstenliebe keinen Gegensatz zur Selbstliebe, sondern eine schließt
die andre ein; Christus hat diese zum Maße jener gemacht. Und die oben
beschriebne UnVollkommenheit der geschöpflichen und irdischen Natur bringt
es mit sich, daß jeder Mensch ein Sünder ist, daß keiner in allen Beziehungen
vollkommen sein kann, daß man daher jeden in dem einen oder dem andern
Stück unmoralisch oder weniger moralisch nennen darf, dieses umso mehr, als
die verschiednen sittlichen Ideen, wenigstens bei lebhafter und starker Be¬
thätigung, mit einander unvereinbar sind. Nietzsches Ansicht vom Mitleid
läuft auf die bekannte Regel der Stoiker hinaus, daß man seinen leidenden
Mitmenschen helfen solle, ohne sich durch mitleidige Empfindungen peinigen zu
lassen. Diese Regel ist ganz vortrefflich für Leute wie Nietzsche, die so
empfindlich sind, daß ihnen, wie er selbst einmal sagt, die Seclenhaut und
jede natürliche Schutzvorrichtung zu fehlen scheint, aber unempfindlichen Na¬
turen muß gerade der entgegengesetzte Rat erteilt werden. Ein berühmter Arzt
schreibt mit Beziehung auf die Verhärtung, die die ärztliche Praxis leicht zur
Folge hat, jeder Arzt sollte mindestens einmal im Jahre recht heftige Zahn¬
schmerzen haben, damit er nicht vergesse, wie Schmerzen thun. Daß das Mit¬
leid oft nur ein weichliches Selbstleid ist (wie wenn uns der Anblick eines


Die letzten Worte hat er selbst unterstrichen. Und welche zarte Menschenliebe,
welcher von allem Gemeinen freie Edelsinn spricht aus folgenden, ebenfalls
aus seinem Nachlaß veröffentlichten Bemerkungen (XI. 163): „Gesetzt, jemand
hat Herzeleid durch einen boshaften anonymen Brief: die gewöhnliche Kur ist
die, feine Empfindung entladen, indem man einem andern Herzeleid macht.
Diese alberne Art uralter Homöopathie müssen wir verlernen: es ist klar, das;
wenn er sofort auch einen anonymen Brief schreibt, womit er jemandem eine
Wohlthat und Artigkeit erweist, er seine Wiedergenesung auch erlangt. —
Sobald wir uns verstimmt und gallsüchtig fühlen, sofort den Geldbeutel her
oder die Vrieffeder oder den nächsten Armen oder das erste beste Kind, und
etwas verschenken, womöglich mit wohlwollendem Gesicht: wenn es aber nicht
geht, dann auch mit verbissenen Zähnen." XII, 226 finden sich die Para-
doxien: „Daß ihr mitleidig seid, setze ich voraus: ohne Mitleid sein heißt,
krank im Geiste und Leibe sein. Aber man soll viel Geist haben, um mitleidig
sein zu dürfen! Denn euer Mitleid ist euch allen schädlich. — Ich liebe
den, der so mitleidig ist, daß er aus der Härte seine Tugend und seinen Gott
macht." Nietzsches Kampf gegen das Mitleid richtet sich eigentlich nur gegen
die Schopenhauerische Mitleidsmoral und gegen die Altruismusmoral der
modernen Soziologen. Darüber brauche ich mich nicht weiter auszulasten,
deun ich habe oft genug an dieser Stelle ausgeführt, daß beides Unsinn ist.
Die Moral im höhern Sinne, die ich oben beschrieben habe, umfaßt alle
Lebensäußerungen des Menschen und beschränkt sich nicht auf die Nächsten¬
liebe, noch weniger auf eine einzelne Äußerung der Nächstenliebe. Ferner
bildet die Nächstenliebe keinen Gegensatz zur Selbstliebe, sondern eine schließt
die andre ein; Christus hat diese zum Maße jener gemacht. Und die oben
beschriebne UnVollkommenheit der geschöpflichen und irdischen Natur bringt
es mit sich, daß jeder Mensch ein Sünder ist, daß keiner in allen Beziehungen
vollkommen sein kann, daß man daher jeden in dem einen oder dem andern
Stück unmoralisch oder weniger moralisch nennen darf, dieses umso mehr, als
die verschiednen sittlichen Ideen, wenigstens bei lebhafter und starker Be¬
thätigung, mit einander unvereinbar sind. Nietzsches Ansicht vom Mitleid
läuft auf die bekannte Regel der Stoiker hinaus, daß man seinen leidenden
Mitmenschen helfen solle, ohne sich durch mitleidige Empfindungen peinigen zu
lassen. Diese Regel ist ganz vortrefflich für Leute wie Nietzsche, die so
empfindlich sind, daß ihnen, wie er selbst einmal sagt, die Seclenhaut und
jede natürliche Schutzvorrichtung zu fehlen scheint, aber unempfindlichen Na¬
turen muß gerade der entgegengesetzte Rat erteilt werden. Ein berühmter Arzt
schreibt mit Beziehung auf die Verhärtung, die die ärztliche Praxis leicht zur
Folge hat, jeder Arzt sollte mindestens einmal im Jahre recht heftige Zahn¬
schmerzen haben, damit er nicht vergesse, wie Schmerzen thun. Daß das Mit¬
leid oft nur ein weichliches Selbstleid ist (wie wenn uns der Anblick eines


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/491>, abgerufen am 23.07.2024.