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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

Gehrock und ein Bändchen im Knopfloch trägt, seiner Frau niemals vor
Zeugen grob kommt und sich niemals bei einem xsovÄtum voudra ssxwin er¬
wischen läßt. (Ob der Kirchenbesuch oder das Kirche schwarzen und die Frei¬
geisterei zur Vollkommenheit gehört, das hängt vom Hofe und von der
Politik ab.)

Es kann gar nicht daran gezweifelt werden, daß es wenig Menschen giebt,
die so aufrichtig nach wirklicher Vollkommenheit strebten, wie Nietzsche in seinen
gesunden Tagen. Er war also natürlich kein Feind der höhern Sittlichkeit,
und -- bei seinem strengen Ordnungs- und Schicklichkeitssinn -- auch nicht
einmal ein Feind der niedern, sondern er bekämpfte nur, geradeso wie Christus,
die Moralfexerei als Heuchelei und Hemmnis des höhern Strebens; wenn er
sich mit Stolz einen Jmmvralisten nannte, so war das Selbsttäuschung oder
Übertreibung aus Oppositionslust. Auch die Wahrheit ist ja längst durch die
alten Philosophen und durch Christus ins Reine gebracht worden, daß alle
Handlungen an sich indifferent sind und erst durch die Gesinnung und die
Absichten des Handelnden und durch die Umstände ihren Wert erhalten, sodaß
schon aus diesem Grunde Sitte und Staatsgesetz, die es nur mit dem Äußer¬
lichen, mit Handlungen zu thun haben, niemals mit dem Reiche der innern
Wertschätzungen zusammenfallen können. Andrerseits haben aber auch Staat
und Sitte, wenn sie nicht gar zu unvernünftig sind, von dem Freien, wie
Paulus den nach seinem eignen innern und höhern Gesetze Lebenden nennt,
nichts zu fürchten, denn über die Versuchungen gemeiner Art: zu stehlen, zu
betrügen, des Nächsten Weib zu verführen, ist er erhaben. Auf einem andern
Gebiet freilich kann er mit dem Staate in Konflikt geraten und etwas begehen,
was dieser als Verbrechen bestraft, wie das denn fast keinem der großen Refor¬
matoren erspart geblieben ist.

Was von der Moral im allgemeinen gilt, das gilt noch ganz besonders
vom Mitleid, gegen das Nietzsche manchmal förmlich tobt. Ich habe es
diesem Toben sofort angesehen, was es zu bedeuten hat, noch ehe ich B. II,
47 ff. gelesen hatte, wo er selbst und seine Schwester es erklären; ich sagte
mir gleich: das ist einer, der furchtbar an Mitleid gelitten hat, und der sich
durch sein Toben und seinen Ruf: werdet hart, werdet hart! vor der ihm von
seiner Überempfindlichkeit drohenden Selbstzerstörung retten will. Wie schön
charakterisirt ihn folgende Aufzeichnung (XII, 157), die er selbst nicht ver¬
öffentlicht hat: "Gesetzt, man ist der Liebhaber einer Sängerin, mit was für
ängstlichen Ohren hört man da sie vor irgend welchen Zuhörern singen! Man
urteilt sein und überfein, keineswegs voreingenommen: vielmehr entgeht uns
keiner ihrer kleinsten Fehler; wir wissen, wenn auch die Zuhörer jubeln und
klatschen, daß sür die Sängerin selber nicht alles so klang und lief, wie ihr
feinstes Gewissen es verlangt hat, und weil wir fühlen, daß ihr selber all ihr
kleines und großes Mißlingen bewußt ist, leiden wir unbeschreiblich dabei."


Friedrich Nietzsche

Gehrock und ein Bändchen im Knopfloch trägt, seiner Frau niemals vor
Zeugen grob kommt und sich niemals bei einem xsovÄtum voudra ssxwin er¬
wischen läßt. (Ob der Kirchenbesuch oder das Kirche schwarzen und die Frei¬
geisterei zur Vollkommenheit gehört, das hängt vom Hofe und von der
Politik ab.)

Es kann gar nicht daran gezweifelt werden, daß es wenig Menschen giebt,
die so aufrichtig nach wirklicher Vollkommenheit strebten, wie Nietzsche in seinen
gesunden Tagen. Er war also natürlich kein Feind der höhern Sittlichkeit,
und — bei seinem strengen Ordnungs- und Schicklichkeitssinn — auch nicht
einmal ein Feind der niedern, sondern er bekämpfte nur, geradeso wie Christus,
die Moralfexerei als Heuchelei und Hemmnis des höhern Strebens; wenn er
sich mit Stolz einen Jmmvralisten nannte, so war das Selbsttäuschung oder
Übertreibung aus Oppositionslust. Auch die Wahrheit ist ja längst durch die
alten Philosophen und durch Christus ins Reine gebracht worden, daß alle
Handlungen an sich indifferent sind und erst durch die Gesinnung und die
Absichten des Handelnden und durch die Umstände ihren Wert erhalten, sodaß
schon aus diesem Grunde Sitte und Staatsgesetz, die es nur mit dem Äußer¬
lichen, mit Handlungen zu thun haben, niemals mit dem Reiche der innern
Wertschätzungen zusammenfallen können. Andrerseits haben aber auch Staat
und Sitte, wenn sie nicht gar zu unvernünftig sind, von dem Freien, wie
Paulus den nach seinem eignen innern und höhern Gesetze Lebenden nennt,
nichts zu fürchten, denn über die Versuchungen gemeiner Art: zu stehlen, zu
betrügen, des Nächsten Weib zu verführen, ist er erhaben. Auf einem andern
Gebiet freilich kann er mit dem Staate in Konflikt geraten und etwas begehen,
was dieser als Verbrechen bestraft, wie das denn fast keinem der großen Refor¬
matoren erspart geblieben ist.

Was von der Moral im allgemeinen gilt, das gilt noch ganz besonders
vom Mitleid, gegen das Nietzsche manchmal förmlich tobt. Ich habe es
diesem Toben sofort angesehen, was es zu bedeuten hat, noch ehe ich B. II,
47 ff. gelesen hatte, wo er selbst und seine Schwester es erklären; ich sagte
mir gleich: das ist einer, der furchtbar an Mitleid gelitten hat, und der sich
durch sein Toben und seinen Ruf: werdet hart, werdet hart! vor der ihm von
seiner Überempfindlichkeit drohenden Selbstzerstörung retten will. Wie schön
charakterisirt ihn folgende Aufzeichnung (XII, 157), die er selbst nicht ver¬
öffentlicht hat: „Gesetzt, man ist der Liebhaber einer Sängerin, mit was für
ängstlichen Ohren hört man da sie vor irgend welchen Zuhörern singen! Man
urteilt sein und überfein, keineswegs voreingenommen: vielmehr entgeht uns
keiner ihrer kleinsten Fehler; wir wissen, wenn auch die Zuhörer jubeln und
klatschen, daß sür die Sängerin selber nicht alles so klang und lief, wie ihr
feinstes Gewissen es verlangt hat, und weil wir fühlen, daß ihr selber all ihr
kleines und großes Mißlingen bewußt ist, leiden wir unbeschreiblich dabei."


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[0490] Friedrich Nietzsche Gehrock und ein Bändchen im Knopfloch trägt, seiner Frau niemals vor Zeugen grob kommt und sich niemals bei einem xsovÄtum voudra ssxwin er¬ wischen läßt. (Ob der Kirchenbesuch oder das Kirche schwarzen und die Frei¬ geisterei zur Vollkommenheit gehört, das hängt vom Hofe und von der Politik ab.) Es kann gar nicht daran gezweifelt werden, daß es wenig Menschen giebt, die so aufrichtig nach wirklicher Vollkommenheit strebten, wie Nietzsche in seinen gesunden Tagen. Er war also natürlich kein Feind der höhern Sittlichkeit, und — bei seinem strengen Ordnungs- und Schicklichkeitssinn — auch nicht einmal ein Feind der niedern, sondern er bekämpfte nur, geradeso wie Christus, die Moralfexerei als Heuchelei und Hemmnis des höhern Strebens; wenn er sich mit Stolz einen Jmmvralisten nannte, so war das Selbsttäuschung oder Übertreibung aus Oppositionslust. Auch die Wahrheit ist ja längst durch die alten Philosophen und durch Christus ins Reine gebracht worden, daß alle Handlungen an sich indifferent sind und erst durch die Gesinnung und die Absichten des Handelnden und durch die Umstände ihren Wert erhalten, sodaß schon aus diesem Grunde Sitte und Staatsgesetz, die es nur mit dem Äußer¬ lichen, mit Handlungen zu thun haben, niemals mit dem Reiche der innern Wertschätzungen zusammenfallen können. Andrerseits haben aber auch Staat und Sitte, wenn sie nicht gar zu unvernünftig sind, von dem Freien, wie Paulus den nach seinem eignen innern und höhern Gesetze Lebenden nennt, nichts zu fürchten, denn über die Versuchungen gemeiner Art: zu stehlen, zu betrügen, des Nächsten Weib zu verführen, ist er erhaben. Auf einem andern Gebiet freilich kann er mit dem Staate in Konflikt geraten und etwas begehen, was dieser als Verbrechen bestraft, wie das denn fast keinem der großen Refor¬ matoren erspart geblieben ist. Was von der Moral im allgemeinen gilt, das gilt noch ganz besonders vom Mitleid, gegen das Nietzsche manchmal förmlich tobt. Ich habe es diesem Toben sofort angesehen, was es zu bedeuten hat, noch ehe ich B. II, 47 ff. gelesen hatte, wo er selbst und seine Schwester es erklären; ich sagte mir gleich: das ist einer, der furchtbar an Mitleid gelitten hat, und der sich durch sein Toben und seinen Ruf: werdet hart, werdet hart! vor der ihm von seiner Überempfindlichkeit drohenden Selbstzerstörung retten will. Wie schön charakterisirt ihn folgende Aufzeichnung (XII, 157), die er selbst nicht ver¬ öffentlicht hat: „Gesetzt, man ist der Liebhaber einer Sängerin, mit was für ängstlichen Ohren hört man da sie vor irgend welchen Zuhörern singen! Man urteilt sein und überfein, keineswegs voreingenommen: vielmehr entgeht uns keiner ihrer kleinsten Fehler; wir wissen, wenn auch die Zuhörer jubeln und klatschen, daß sür die Sängerin selber nicht alles so klang und lief, wie ihr feinstes Gewissen es verlangt hat, und weil wir fühlen, daß ihr selber all ihr kleines und großes Mißlingen bewußt ist, leiden wir unbeschreiblich dabei."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/490>, abgerufen am 23.07.2024.