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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

zeichnen. Nietzsche hat also den tiefen Sinn des letzten Teils von Dantes
Hölleninschrift") nicht verstanden, wenn er VII, 332 schreibt, Dante habe sich
gröblich vergriffen; mit größerm Recht hätte er über die Pforte des Paradieses
schreiben können: auch mich schuf der ewige Haß. Wir können uns die Sache
durch ein Gleichnis klar machen, das mir bei einem andern Ausspruche
Nietzsches eingefallen ist. Zu den Verwirrungen, die die Sprache im Denken
anrichte, rechnet er auch (III, 237), daß wir uns gewöhnten, in der Natur
Gegensätze zu sehen, wo nur Gradunterschiede seien, z. B. warm und kalt,
und diese Gewohnheit aufs geistige und sittliche Gebiet zu übertragen. Der
Gedanke ist äußerst fruchtbar. Aber Nietzsche irrt sich, wenn er in warm und
kalt nur einen Gradunterschied, keinen Gegensatz sieht. Die Physiker haben
vollkommen recht daran gethan, daß sie an den Gefrierpunkt des Wassers
Null gesetzt haben und von da aufwärts positiv und abwärts negativ weiter
zählen, also einen Gegensatz statuiren. Denn die Verdunstung des Wassers,
die bei den positiven Graden, und seine Verfestigung, die bei den negativen
vor sich geht, sind zwei entgegengesetzte Arten des Verhaltens, und dieser
Gegensatz ist von der größten Wichtigkeit für den Haushalt der Natur. Für
die organischen Geschöpfe aber liegt der Nullpunkt in ihrer Blutwärme.
Stimmt die äußere Temperatur mit dieser überein, so fühlen sie sich wohl,
steigt sie bedeutend darüber oder sinkt sie darunter, so fühlen sie sich unbe¬
haglich, desto unbehaglicher, je größer der Abstand von der Eigenwärme wird;
erreicht der Abstand einen gewissen Grad, so erleidet der Organismus eine
ernstliche Störung, und bei einem bestimmten noch höhern Grade wird er ver¬
nichtet. Wir können uns diesen Einfluß der Temperatur folgendermaßen an¬
schaulich machen. Die Wärmeempfindung ist bekanntlich die Wirkung einer
eigentümlichen Molekularbewegung; geht diese langsam vor sich, so empfinden
wir Kälte, je mehr sie sich beschleunigt, desto wärmer sühlen wir es werden.
Behaglich ist uns die Temperatur dann, wenn die Molekeln unsrer Umgebung
in demselben Tempo schwingen wie die unsers Körpers; die Zähne der
Rädchen der uutermikroskopischeu Außenwelt greifen dann in die Zahnlücken
unsrer eignen uutermikrvskopischen Gewebeteile ein, ohne deren Bewegung weder
zu beschleunigen noch zu hemmen. Wirbeln dagegen die äußern Rädchen
schneller oder langsamer als unsre innern, dann treiben oder hemmen sie diese,
und wir fühlen die Störung als Hitze oder Kälte, sodaß ein zweifacher Gegen¬
satz entsteht, einmal der Gegensatz der uns zuträglichen Normaltemperatur zu jeder
unserm Organismus feindlichen, dann der Gegensatz der Wärmeempfindung zur
Kälteempfindung. Erreicht der Unterschied der Tempi einen gewissen Grad, dann
zerreißt die zu langsame oder zu rasche Bewegung des uns durchströmendem



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Friedrich Nietzsche

zeichnen. Nietzsche hat also den tiefen Sinn des letzten Teils von Dantes
Hölleninschrift") nicht verstanden, wenn er VII, 332 schreibt, Dante habe sich
gröblich vergriffen; mit größerm Recht hätte er über die Pforte des Paradieses
schreiben können: auch mich schuf der ewige Haß. Wir können uns die Sache
durch ein Gleichnis klar machen, das mir bei einem andern Ausspruche
Nietzsches eingefallen ist. Zu den Verwirrungen, die die Sprache im Denken
anrichte, rechnet er auch (III, 237), daß wir uns gewöhnten, in der Natur
Gegensätze zu sehen, wo nur Gradunterschiede seien, z. B. warm und kalt,
und diese Gewohnheit aufs geistige und sittliche Gebiet zu übertragen. Der
Gedanke ist äußerst fruchtbar. Aber Nietzsche irrt sich, wenn er in warm und
kalt nur einen Gradunterschied, keinen Gegensatz sieht. Die Physiker haben
vollkommen recht daran gethan, daß sie an den Gefrierpunkt des Wassers
Null gesetzt haben und von da aufwärts positiv und abwärts negativ weiter
zählen, also einen Gegensatz statuiren. Denn die Verdunstung des Wassers,
die bei den positiven Graden, und seine Verfestigung, die bei den negativen
vor sich geht, sind zwei entgegengesetzte Arten des Verhaltens, und dieser
Gegensatz ist von der größten Wichtigkeit für den Haushalt der Natur. Für
die organischen Geschöpfe aber liegt der Nullpunkt in ihrer Blutwärme.
Stimmt die äußere Temperatur mit dieser überein, so fühlen sie sich wohl,
steigt sie bedeutend darüber oder sinkt sie darunter, so fühlen sie sich unbe¬
haglich, desto unbehaglicher, je größer der Abstand von der Eigenwärme wird;
erreicht der Abstand einen gewissen Grad, so erleidet der Organismus eine
ernstliche Störung, und bei einem bestimmten noch höhern Grade wird er ver¬
nichtet. Wir können uns diesen Einfluß der Temperatur folgendermaßen an¬
schaulich machen. Die Wärmeempfindung ist bekanntlich die Wirkung einer
eigentümlichen Molekularbewegung; geht diese langsam vor sich, so empfinden
wir Kälte, je mehr sie sich beschleunigt, desto wärmer sühlen wir es werden.
Behaglich ist uns die Temperatur dann, wenn die Molekeln unsrer Umgebung
in demselben Tempo schwingen wie die unsers Körpers; die Zähne der
Rädchen der uutermikroskopischeu Außenwelt greifen dann in die Zahnlücken
unsrer eignen uutermikrvskopischen Gewebeteile ein, ohne deren Bewegung weder
zu beschleunigen noch zu hemmen. Wirbeln dagegen die äußern Rädchen
schneller oder langsamer als unsre innern, dann treiben oder hemmen sie diese,
und wir fühlen die Störung als Hitze oder Kälte, sodaß ein zweifacher Gegen¬
satz entsteht, einmal der Gegensatz der uns zuträglichen Normaltemperatur zu jeder
unserm Organismus feindlichen, dann der Gegensatz der Wärmeempfindung zur
Kälteempfindung. Erreicht der Unterschied der Tempi einen gewissen Grad, dann
zerreißt die zu langsame oder zu rasche Bewegung des uns durchströmendem



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[0487] Friedrich Nietzsche zeichnen. Nietzsche hat also den tiefen Sinn des letzten Teils von Dantes Hölleninschrift") nicht verstanden, wenn er VII, 332 schreibt, Dante habe sich gröblich vergriffen; mit größerm Recht hätte er über die Pforte des Paradieses schreiben können: auch mich schuf der ewige Haß. Wir können uns die Sache durch ein Gleichnis klar machen, das mir bei einem andern Ausspruche Nietzsches eingefallen ist. Zu den Verwirrungen, die die Sprache im Denken anrichte, rechnet er auch (III, 237), daß wir uns gewöhnten, in der Natur Gegensätze zu sehen, wo nur Gradunterschiede seien, z. B. warm und kalt, und diese Gewohnheit aufs geistige und sittliche Gebiet zu übertragen. Der Gedanke ist äußerst fruchtbar. Aber Nietzsche irrt sich, wenn er in warm und kalt nur einen Gradunterschied, keinen Gegensatz sieht. Die Physiker haben vollkommen recht daran gethan, daß sie an den Gefrierpunkt des Wassers Null gesetzt haben und von da aufwärts positiv und abwärts negativ weiter zählen, also einen Gegensatz statuiren. Denn die Verdunstung des Wassers, die bei den positiven Graden, und seine Verfestigung, die bei den negativen vor sich geht, sind zwei entgegengesetzte Arten des Verhaltens, und dieser Gegensatz ist von der größten Wichtigkeit für den Haushalt der Natur. Für die organischen Geschöpfe aber liegt der Nullpunkt in ihrer Blutwärme. Stimmt die äußere Temperatur mit dieser überein, so fühlen sie sich wohl, steigt sie bedeutend darüber oder sinkt sie darunter, so fühlen sie sich unbe¬ haglich, desto unbehaglicher, je größer der Abstand von der Eigenwärme wird; erreicht der Abstand einen gewissen Grad, so erleidet der Organismus eine ernstliche Störung, und bei einem bestimmten noch höhern Grade wird er ver¬ nichtet. Wir können uns diesen Einfluß der Temperatur folgendermaßen an¬ schaulich machen. Die Wärmeempfindung ist bekanntlich die Wirkung einer eigentümlichen Molekularbewegung; geht diese langsam vor sich, so empfinden wir Kälte, je mehr sie sich beschleunigt, desto wärmer sühlen wir es werden. Behaglich ist uns die Temperatur dann, wenn die Molekeln unsrer Umgebung in demselben Tempo schwingen wie die unsers Körpers; die Zähne der Rädchen der uutermikroskopischeu Außenwelt greifen dann in die Zahnlücken unsrer eignen uutermikrvskopischen Gewebeteile ein, ohne deren Bewegung weder zu beschleunigen noch zu hemmen. Wirbeln dagegen die äußern Rädchen schneller oder langsamer als unsre innern, dann treiben oder hemmen sie diese, und wir fühlen die Störung als Hitze oder Kälte, sodaß ein zweifacher Gegen¬ satz entsteht, einmal der Gegensatz der uns zuträglichen Normaltemperatur zu jeder unserm Organismus feindlichen, dann der Gegensatz der Wärmeempfindung zur Kälteempfindung. Erreicht der Unterschied der Tempi einen gewissen Grad, dann zerreißt die zu langsame oder zu rasche Bewegung des uns durchströmendem ?schol 1s, alpins, xotsswts, I.Ä soirmik 8ÄPi,su?is, o it primo amors. ")

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/487>, abgerufen am 23.07.2024.