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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

daß ihnen das Himmelreich gehöre, und daß der Erwachsene werden müsse
wie ein Kind, wenn er hineinkommen wolle. Goethe bemerkt einmal, die Kinder
hielten nicht, was sie versprachen; gewiß nicht, das können sie nicht, oder viel¬
mehr die Erwachsenen können es nicht.

Die Gefahren, die dieser Gedanke der Prädestination mit sich bringt,
liegen auf der Hand; die katholische Kirche hat daher aus pädagogischen
Gründen die Deutung vorgezogen, daß die Gnade eine geheimnisvolle innere
Kraft sei, die den Christen, wofern er nur guten Willens ist, zu sittlichen
Leistungen befähige, die der Unerlöste nicht vollbringen könne. Die Erfahrung
hat bis jetzt diese Deutung wenig bestätigt; man findet nicht, daß die Ge¬
tauften und die Betenden durchschnittlich idealere und vollkommnere Menschen
wären als die Ungetauften und die nicht Betenden. Aber indem die vorge¬
stellte Gabe die Pflicht einschließt, sich ihrer würdig zu beweisen, ist diese Vor¬
stellung nicht ohne Nutzen.

Die dritte Art der Erlösung besteht darin, daß Gott die Sünden der
Menschen nicht ansieht im Hinblick darauf, daß sie unvermeidlich sind, und daß
sie nicht bösem Willen entspringen, oder, was dasselbe ist. im Hinblick auf
den Sohn, der den Willen des Vaters zu erfüllen willig ist. Wie in der
Schöpfung und Weltregierung, so ist Gott auch in der Erlösung an ein
Gesetz gebunden; die Moira der Hellenen kann man auf beide Gesetze beziehen;
das zweite wird in der Bibel als die Heiligkeit Gottes, die Übereinstimmung
seines Wesens mit sich selbst, bezeichnet. Es ist Gott unmöglich, ein Wesen
zu beseligen, das sich der natürlichen Bedingung geschöpflicher Seligkeit
widersetzt. Diese Bedingung ist: daß das Geschöpf sich als Geschöpf, als ein
begrenztes, daher notwendig unvollkommnes, der Ergänzung bedürftiges, auf
das Empfangen von andern angewiesenes, daher auch zum Vergelter durch
Spenden verpflichtetes, also nur in Wechselwirkung lebensfähiges anerkenne
und verhalte; eben in solcher Wechselwirkung verwirklicht es seine Idee. Wenn
wir nachforschen, welche Klassen von Menschen Christus verdammt, d. h. für
unfähig der Beseligung erklärt, so finden wir, daß es einmal die Unbarm¬
herzigen und Liebkosen sind, die sich also der Pflicht des Sperbers, des segens¬
vollen und beglückenden Austausches von Liebe und Liebesgaben entziehen
wollen, und dann die Pharisäer, die Selbstgerechten, die in der lächerlichen
Einbildung der Vollkommenheit und Selbstgenügsamkeit befangen sind, also
das Unmögliche unternehmen, die Grenzen der Individuation zu überspringen,
die sich Sonnen oder Sonnensysteme oder gar Welten zu sein dünken, während
der Mensch höchstens ein Planet sein kann. So erwächst also die Unseligkeit
des Geschöpfes daraus, daß es sich gegen die unabänderlichen Daseins¬
bedingungen des Geschöpfes sträubt, gegen die in Gott wurzelnde Ordnung
des All. Man kann daher, je nachdem, entweder die ungeordnete Seele des
Unerlösten oder das geordnete Universum oder Gott selbst als die Hölle be-


Friedrich Nietzsche

daß ihnen das Himmelreich gehöre, und daß der Erwachsene werden müsse
wie ein Kind, wenn er hineinkommen wolle. Goethe bemerkt einmal, die Kinder
hielten nicht, was sie versprachen; gewiß nicht, das können sie nicht, oder viel¬
mehr die Erwachsenen können es nicht.

Die Gefahren, die dieser Gedanke der Prädestination mit sich bringt,
liegen auf der Hand; die katholische Kirche hat daher aus pädagogischen
Gründen die Deutung vorgezogen, daß die Gnade eine geheimnisvolle innere
Kraft sei, die den Christen, wofern er nur guten Willens ist, zu sittlichen
Leistungen befähige, die der Unerlöste nicht vollbringen könne. Die Erfahrung
hat bis jetzt diese Deutung wenig bestätigt; man findet nicht, daß die Ge¬
tauften und die Betenden durchschnittlich idealere und vollkommnere Menschen
wären als die Ungetauften und die nicht Betenden. Aber indem die vorge¬
stellte Gabe die Pflicht einschließt, sich ihrer würdig zu beweisen, ist diese Vor¬
stellung nicht ohne Nutzen.

Die dritte Art der Erlösung besteht darin, daß Gott die Sünden der
Menschen nicht ansieht im Hinblick darauf, daß sie unvermeidlich sind, und daß
sie nicht bösem Willen entspringen, oder, was dasselbe ist. im Hinblick auf
den Sohn, der den Willen des Vaters zu erfüllen willig ist. Wie in der
Schöpfung und Weltregierung, so ist Gott auch in der Erlösung an ein
Gesetz gebunden; die Moira der Hellenen kann man auf beide Gesetze beziehen;
das zweite wird in der Bibel als die Heiligkeit Gottes, die Übereinstimmung
seines Wesens mit sich selbst, bezeichnet. Es ist Gott unmöglich, ein Wesen
zu beseligen, das sich der natürlichen Bedingung geschöpflicher Seligkeit
widersetzt. Diese Bedingung ist: daß das Geschöpf sich als Geschöpf, als ein
begrenztes, daher notwendig unvollkommnes, der Ergänzung bedürftiges, auf
das Empfangen von andern angewiesenes, daher auch zum Vergelter durch
Spenden verpflichtetes, also nur in Wechselwirkung lebensfähiges anerkenne
und verhalte; eben in solcher Wechselwirkung verwirklicht es seine Idee. Wenn
wir nachforschen, welche Klassen von Menschen Christus verdammt, d. h. für
unfähig der Beseligung erklärt, so finden wir, daß es einmal die Unbarm¬
herzigen und Liebkosen sind, die sich also der Pflicht des Sperbers, des segens¬
vollen und beglückenden Austausches von Liebe und Liebesgaben entziehen
wollen, und dann die Pharisäer, die Selbstgerechten, die in der lächerlichen
Einbildung der Vollkommenheit und Selbstgenügsamkeit befangen sind, also
das Unmögliche unternehmen, die Grenzen der Individuation zu überspringen,
die sich Sonnen oder Sonnensysteme oder gar Welten zu sein dünken, während
der Mensch höchstens ein Planet sein kann. So erwächst also die Unseligkeit
des Geschöpfes daraus, daß es sich gegen die unabänderlichen Daseins¬
bedingungen des Geschöpfes sträubt, gegen die in Gott wurzelnde Ordnung
des All. Man kann daher, je nachdem, entweder die ungeordnete Seele des
Unerlösten oder das geordnete Universum oder Gott selbst als die Hölle be-


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[0486] Friedrich Nietzsche daß ihnen das Himmelreich gehöre, und daß der Erwachsene werden müsse wie ein Kind, wenn er hineinkommen wolle. Goethe bemerkt einmal, die Kinder hielten nicht, was sie versprachen; gewiß nicht, das können sie nicht, oder viel¬ mehr die Erwachsenen können es nicht. Die Gefahren, die dieser Gedanke der Prädestination mit sich bringt, liegen auf der Hand; die katholische Kirche hat daher aus pädagogischen Gründen die Deutung vorgezogen, daß die Gnade eine geheimnisvolle innere Kraft sei, die den Christen, wofern er nur guten Willens ist, zu sittlichen Leistungen befähige, die der Unerlöste nicht vollbringen könne. Die Erfahrung hat bis jetzt diese Deutung wenig bestätigt; man findet nicht, daß die Ge¬ tauften und die Betenden durchschnittlich idealere und vollkommnere Menschen wären als die Ungetauften und die nicht Betenden. Aber indem die vorge¬ stellte Gabe die Pflicht einschließt, sich ihrer würdig zu beweisen, ist diese Vor¬ stellung nicht ohne Nutzen. Die dritte Art der Erlösung besteht darin, daß Gott die Sünden der Menschen nicht ansieht im Hinblick darauf, daß sie unvermeidlich sind, und daß sie nicht bösem Willen entspringen, oder, was dasselbe ist. im Hinblick auf den Sohn, der den Willen des Vaters zu erfüllen willig ist. Wie in der Schöpfung und Weltregierung, so ist Gott auch in der Erlösung an ein Gesetz gebunden; die Moira der Hellenen kann man auf beide Gesetze beziehen; das zweite wird in der Bibel als die Heiligkeit Gottes, die Übereinstimmung seines Wesens mit sich selbst, bezeichnet. Es ist Gott unmöglich, ein Wesen zu beseligen, das sich der natürlichen Bedingung geschöpflicher Seligkeit widersetzt. Diese Bedingung ist: daß das Geschöpf sich als Geschöpf, als ein begrenztes, daher notwendig unvollkommnes, der Ergänzung bedürftiges, auf das Empfangen von andern angewiesenes, daher auch zum Vergelter durch Spenden verpflichtetes, also nur in Wechselwirkung lebensfähiges anerkenne und verhalte; eben in solcher Wechselwirkung verwirklicht es seine Idee. Wenn wir nachforschen, welche Klassen von Menschen Christus verdammt, d. h. für unfähig der Beseligung erklärt, so finden wir, daß es einmal die Unbarm¬ herzigen und Liebkosen sind, die sich also der Pflicht des Sperbers, des segens¬ vollen und beglückenden Austausches von Liebe und Liebesgaben entziehen wollen, und dann die Pharisäer, die Selbstgerechten, die in der lächerlichen Einbildung der Vollkommenheit und Selbstgenügsamkeit befangen sind, also das Unmögliche unternehmen, die Grenzen der Individuation zu überspringen, die sich Sonnen oder Sonnensysteme oder gar Welten zu sein dünken, während der Mensch höchstens ein Planet sein kann. So erwächst also die Unseligkeit des Geschöpfes daraus, daß es sich gegen die unabänderlichen Daseins¬ bedingungen des Geschöpfes sträubt, gegen die in Gott wurzelnde Ordnung des All. Man kann daher, je nachdem, entweder die ungeordnete Seele des Unerlösten oder das geordnete Universum oder Gott selbst als die Hölle be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/486>, abgerufen am 28.12.2024.