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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

Äthers unser Zellgewebe, und die Extreme berühren sich wie in der mechanischen
Wirkung so anch in der Empfindung: der Schmerz des Erfrierens wird beinahe
ebenso empfunden wie der des Verbrennens.

Bei der Übertragung dieses Verhältnisses ins geistige Gebiet müssen wir
eine Umkehrung vornehmen. Im leiblichen Gebiete haben wir den Organismus,
der immer dieselbe Temperatur behält, während die Temperatur seines Me¬
diums wechselt und ihm dadurch bald wohl, bald wehe thut. Im geistigen
Gebiet haben wir ein Medium von stets gleichbleibender Temperatur: Gott,
und die darin lebenden Geschöpfe, deren Temperatur oft wechselt; die sich
wohlfühlen, wenn sie im Einklang mit ihrem Medium schwingen, und übel,
wenn sie sich ihm widersetzen; denn anstatt dieses ändern zu können, setzen sie
sich der Gefahr aus, von ihm zerrissen zu werden. So ist es das eine Feuer
der göttlichen Liebe, das die einen als Lebenswärme beseligt, die andern als
Höllenbrand verzehrt. Die Bibel deutet nun an, daß dem Menschen auf Erden
sein wirkliches Verhältnis zu Gott durch mancherlei Täuschungen verdeckt wird
und erst im Jenseits völlig zum Bewußtsein kommen wird, wo er ohne die
irdischen Hüllen unmittelbar in das Urwesen eintaucht. Das entspricht der
oben beschriebnen Beschaffenheit der Welt, die, obwohl Gottes Schöpfung, doch
in vielen Beziehungen uugöttlich sein muß, daher einer ungöttlichen Seele
dnrch die Übereinstimmung mit ihrer irdischen Umgebung Wohlbefinden zu be¬
reiten vermag. Wie dem ins Jenseits Versetzten sein Zustand der Seligkeit
oder Verdammnis -- diese braucht nicht als ewige gedacht zu werden --
bewußt werden wird, davon können wir uns keine Vorstellung machen. Was
die Henkerphantasten fanatischer Priester und roher Zeitalter in den Höllen-
begriff hineingelegt haben, das geht uns natürlich nichts an.*) Pädagogisch
sind die Höllenschrecken, die von Dogmatikern, Mystikern, frommen Dichtern
und Malern erregt werden, vielleicht nicht ganz wertlos, wie ja auch Athene
in des Äschylus Eumeniden den Athenern rät: "Und nicht entfernt euch alles
Furcht erweckende, denn wer bleibt, wenn er nichts mehr scheut, gerecht?"
Doch beschränkt sich die Wirksamkeit der Höllenfurcht auf solche Frevelthaten,
die überlegt werden, die man verüben und auch lassen kann, und das ist immer¬
hin eine nicht zu verachtende Leistung. In den Fällen, wo Not oder ein
Naturtrieb zur Sünde drängt und zwingt, oder wo ein augenblicklicher Anfall
von Leidenschaft überwältigt und wo nicht einmal die Furcht vor dem Zucht¬
hause stark genug ist, abzuschrecken, nützt sie, wie tausendfältige Erfahrung be¬
weist, rein gar nichts; soll auch nichts nützen, denn die meisten dieser Sünden



Auch der im vorigen Artikel erwähnte Ausspruch des Thomas von Aqui" ist die Aus¬
geburt einer Henlerphantnsie; die Seligkeit der Seligen durch den Anblick der Qualen der Ver¬
dammten erhöhen wollen, darauf kann nur ein Teufel oder ein geborner Folterknecht verfallen.
Ob Nietzsche den Ausspruch richtig zitirt hat, vermag ich nicht zu beurteilen, da ich die Lnouva
iluzalciMÄL nicht zur Hand habe.
Friedrich Nietzsche

Äthers unser Zellgewebe, und die Extreme berühren sich wie in der mechanischen
Wirkung so anch in der Empfindung: der Schmerz des Erfrierens wird beinahe
ebenso empfunden wie der des Verbrennens.

Bei der Übertragung dieses Verhältnisses ins geistige Gebiet müssen wir
eine Umkehrung vornehmen. Im leiblichen Gebiete haben wir den Organismus,
der immer dieselbe Temperatur behält, während die Temperatur seines Me¬
diums wechselt und ihm dadurch bald wohl, bald wehe thut. Im geistigen
Gebiet haben wir ein Medium von stets gleichbleibender Temperatur: Gott,
und die darin lebenden Geschöpfe, deren Temperatur oft wechselt; die sich
wohlfühlen, wenn sie im Einklang mit ihrem Medium schwingen, und übel,
wenn sie sich ihm widersetzen; denn anstatt dieses ändern zu können, setzen sie
sich der Gefahr aus, von ihm zerrissen zu werden. So ist es das eine Feuer
der göttlichen Liebe, das die einen als Lebenswärme beseligt, die andern als
Höllenbrand verzehrt. Die Bibel deutet nun an, daß dem Menschen auf Erden
sein wirkliches Verhältnis zu Gott durch mancherlei Täuschungen verdeckt wird
und erst im Jenseits völlig zum Bewußtsein kommen wird, wo er ohne die
irdischen Hüllen unmittelbar in das Urwesen eintaucht. Das entspricht der
oben beschriebnen Beschaffenheit der Welt, die, obwohl Gottes Schöpfung, doch
in vielen Beziehungen uugöttlich sein muß, daher einer ungöttlichen Seele
dnrch die Übereinstimmung mit ihrer irdischen Umgebung Wohlbefinden zu be¬
reiten vermag. Wie dem ins Jenseits Versetzten sein Zustand der Seligkeit
oder Verdammnis — diese braucht nicht als ewige gedacht zu werden —
bewußt werden wird, davon können wir uns keine Vorstellung machen. Was
die Henkerphantasten fanatischer Priester und roher Zeitalter in den Höllen-
begriff hineingelegt haben, das geht uns natürlich nichts an.*) Pädagogisch
sind die Höllenschrecken, die von Dogmatikern, Mystikern, frommen Dichtern
und Malern erregt werden, vielleicht nicht ganz wertlos, wie ja auch Athene
in des Äschylus Eumeniden den Athenern rät: „Und nicht entfernt euch alles
Furcht erweckende, denn wer bleibt, wenn er nichts mehr scheut, gerecht?"
Doch beschränkt sich die Wirksamkeit der Höllenfurcht auf solche Frevelthaten,
die überlegt werden, die man verüben und auch lassen kann, und das ist immer¬
hin eine nicht zu verachtende Leistung. In den Fällen, wo Not oder ein
Naturtrieb zur Sünde drängt und zwingt, oder wo ein augenblicklicher Anfall
von Leidenschaft überwältigt und wo nicht einmal die Furcht vor dem Zucht¬
hause stark genug ist, abzuschrecken, nützt sie, wie tausendfältige Erfahrung be¬
weist, rein gar nichts; soll auch nichts nützen, denn die meisten dieser Sünden



Auch der im vorigen Artikel erwähnte Ausspruch des Thomas von Aqui» ist die Aus¬
geburt einer Henlerphantnsie; die Seligkeit der Seligen durch den Anblick der Qualen der Ver¬
dammten erhöhen wollen, darauf kann nur ein Teufel oder ein geborner Folterknecht verfallen.
Ob Nietzsche den Ausspruch richtig zitirt hat, vermag ich nicht zu beurteilen, da ich die Lnouva
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[0488] Friedrich Nietzsche Äthers unser Zellgewebe, und die Extreme berühren sich wie in der mechanischen Wirkung so anch in der Empfindung: der Schmerz des Erfrierens wird beinahe ebenso empfunden wie der des Verbrennens. Bei der Übertragung dieses Verhältnisses ins geistige Gebiet müssen wir eine Umkehrung vornehmen. Im leiblichen Gebiete haben wir den Organismus, der immer dieselbe Temperatur behält, während die Temperatur seines Me¬ diums wechselt und ihm dadurch bald wohl, bald wehe thut. Im geistigen Gebiet haben wir ein Medium von stets gleichbleibender Temperatur: Gott, und die darin lebenden Geschöpfe, deren Temperatur oft wechselt; die sich wohlfühlen, wenn sie im Einklang mit ihrem Medium schwingen, und übel, wenn sie sich ihm widersetzen; denn anstatt dieses ändern zu können, setzen sie sich der Gefahr aus, von ihm zerrissen zu werden. So ist es das eine Feuer der göttlichen Liebe, das die einen als Lebenswärme beseligt, die andern als Höllenbrand verzehrt. Die Bibel deutet nun an, daß dem Menschen auf Erden sein wirkliches Verhältnis zu Gott durch mancherlei Täuschungen verdeckt wird und erst im Jenseits völlig zum Bewußtsein kommen wird, wo er ohne die irdischen Hüllen unmittelbar in das Urwesen eintaucht. Das entspricht der oben beschriebnen Beschaffenheit der Welt, die, obwohl Gottes Schöpfung, doch in vielen Beziehungen uugöttlich sein muß, daher einer ungöttlichen Seele dnrch die Übereinstimmung mit ihrer irdischen Umgebung Wohlbefinden zu be¬ reiten vermag. Wie dem ins Jenseits Versetzten sein Zustand der Seligkeit oder Verdammnis — diese braucht nicht als ewige gedacht zu werden — bewußt werden wird, davon können wir uns keine Vorstellung machen. Was die Henkerphantasten fanatischer Priester und roher Zeitalter in den Höllen- begriff hineingelegt haben, das geht uns natürlich nichts an.*) Pädagogisch sind die Höllenschrecken, die von Dogmatikern, Mystikern, frommen Dichtern und Malern erregt werden, vielleicht nicht ganz wertlos, wie ja auch Athene in des Äschylus Eumeniden den Athenern rät: „Und nicht entfernt euch alles Furcht erweckende, denn wer bleibt, wenn er nichts mehr scheut, gerecht?" Doch beschränkt sich die Wirksamkeit der Höllenfurcht auf solche Frevelthaten, die überlegt werden, die man verüben und auch lassen kann, und das ist immer¬ hin eine nicht zu verachtende Leistung. In den Fällen, wo Not oder ein Naturtrieb zur Sünde drängt und zwingt, oder wo ein augenblicklicher Anfall von Leidenschaft überwältigt und wo nicht einmal die Furcht vor dem Zucht¬ hause stark genug ist, abzuschrecken, nützt sie, wie tausendfältige Erfahrung be¬ weist, rein gar nichts; soll auch nichts nützen, denn die meisten dieser Sünden Auch der im vorigen Artikel erwähnte Ausspruch des Thomas von Aqui» ist die Aus¬ geburt einer Henlerphantnsie; die Seligkeit der Seligen durch den Anblick der Qualen der Ver¬ dammten erhöhen wollen, darauf kann nur ein Teufel oder ein geborner Folterknecht verfallen. Ob Nietzsche den Ausspruch richtig zitirt hat, vermag ich nicht zu beurteilen, da ich die Lnouva iluzalciMÄL nicht zur Hand habe.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/488>, abgerufen am 28.12.2024.