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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Stimmenwert, nicht Stimmenzahl

Verdeutlichen wir uns nun die Anwendung dieses Verfahrens an einem
idealen Wahlgänge, worin fünfzigtausend Stimmen derart abgegeben werden,
daß jede unsrer zehn Altersklassen fünftausend Wähler zur Urne oder vielmehr
zu den Urnen geschickt hätte. Wir brauchen nämlich fünf Stimmzettelbehälter,
immer je einen für zwei gleichwertige Altersklassen. Also einen für die jüngste
und die älteste, einen für die zweitjüngste und die Zweitälteste u. s. f. Die
Wähler treten nach einander vor den Leiter der Wahl, dieser bestimmt nach
dem in der Wahllegitimation angesetzten Geburtsdatum die Altersklasse und
legt den Stimmzettel in die entsprechende Urne. Nach Vollendung der Stimmen¬
abgabe enthält jede der fünf Urnen zehntausend Stimmzettel, die in der fol¬
genden Weise angerechnet werden:

die der Urne I mit 1000V Wertstiminen
" " " 11 " I > 000
" " " III " 12000
" " " IV " 13000 "
" " " V " ig 000

Die Gesamtzahl der abgegebnen Wcrtstimmen beträgt 61000, die Mehrheit
also 30501. Diese Mehrheit ist beispielsweise schon erreicht, wenn ein Wahl¬
kandidat die 20000 Stimmzettel der Urnen V und IV und außerdem 2100
ans der Urne III ans sich vereinigt. Er hätte dann mit 22100 Zählstimmen
30520 Wertstimmen. Wenn die Wahl eine Stichwahl ist, so Ware der Gegner
mit 27900 Zählstimmen, die aber nur 29 980 Wertstimmen ergeben, in der
Minderheit geblieben. Der Kandidat der Vollreifen Männer zwischen vierzig
und sechzig Jahren hätte also über den Kandidaten der jungen Leute gesiegt,
obwohl seine Anhänger um 5800 Köpfe weniger zählen als die Gegenpartei.
Mein Stimmrecht schätzt eben das Votum der Väter höher ein als das der
Söhne.

Thut dieses Stimmrecht damit etwas der Allgemeinheit Ersprießliches?

Ehe ich diese Frage beantworte, muß ich den Vorwurf der Wahlrechts-
verschlechternng abthun, der mir von gewisser Seite gewiß gemacht werden wird.
Dieser Einwand ist völlig unbegründet. Mein Stimmrecht ist genau so demo¬
kratisch wie das allgemeine, gleiche, direkte, es ist ja selbst ein allgemeines,
gleiches und direktes. Nur sührt es die patriarchalische Auffassung, die Achtung
vor der Erfahrung und den Verdiensten, die das höhere Alter auszeichnen,
wieder ein. Diese Achtung war in den sehr demokratisch gesinnten Völkern
des Altertums stark entwickelt, während wir heute es allzusehr daran fehlen
lassen. Überdies will die Abstufung des Wahlrechts nach Altersklassen nicht
bloß eine Verbesserung des gleichen Stimmrechts sein; auch in den einzelnen
Wahlkörpcrn, die das Steuerklaffensystem unterscheidet, würde die Abstufung
des Stimmwerts nach Altersklassen für das gemeine Wohl förderlich sein.

Dieser Vorteil würde zunächst in einer wesentlichen Verringerung der Ver-


Stimmenwert, nicht Stimmenzahl

Verdeutlichen wir uns nun die Anwendung dieses Verfahrens an einem
idealen Wahlgänge, worin fünfzigtausend Stimmen derart abgegeben werden,
daß jede unsrer zehn Altersklassen fünftausend Wähler zur Urne oder vielmehr
zu den Urnen geschickt hätte. Wir brauchen nämlich fünf Stimmzettelbehälter,
immer je einen für zwei gleichwertige Altersklassen. Also einen für die jüngste
und die älteste, einen für die zweitjüngste und die Zweitälteste u. s. f. Die
Wähler treten nach einander vor den Leiter der Wahl, dieser bestimmt nach
dem in der Wahllegitimation angesetzten Geburtsdatum die Altersklasse und
legt den Stimmzettel in die entsprechende Urne. Nach Vollendung der Stimmen¬
abgabe enthält jede der fünf Urnen zehntausend Stimmzettel, die in der fol¬
genden Weise angerechnet werden:

die der Urne I mit 1000V Wertstiminen
„ „ „ 11 „ I > 000
„ „ „ III „ 12000
„ „ „ IV „ 13000 „
„ „ „ V „ ig 000

Die Gesamtzahl der abgegebnen Wcrtstimmen beträgt 61000, die Mehrheit
also 30501. Diese Mehrheit ist beispielsweise schon erreicht, wenn ein Wahl¬
kandidat die 20000 Stimmzettel der Urnen V und IV und außerdem 2100
ans der Urne III ans sich vereinigt. Er hätte dann mit 22100 Zählstimmen
30520 Wertstimmen. Wenn die Wahl eine Stichwahl ist, so Ware der Gegner
mit 27900 Zählstimmen, die aber nur 29 980 Wertstimmen ergeben, in der
Minderheit geblieben. Der Kandidat der Vollreifen Männer zwischen vierzig
und sechzig Jahren hätte also über den Kandidaten der jungen Leute gesiegt,
obwohl seine Anhänger um 5800 Köpfe weniger zählen als die Gegenpartei.
Mein Stimmrecht schätzt eben das Votum der Väter höher ein als das der
Söhne.

Thut dieses Stimmrecht damit etwas der Allgemeinheit Ersprießliches?

Ehe ich diese Frage beantworte, muß ich den Vorwurf der Wahlrechts-
verschlechternng abthun, der mir von gewisser Seite gewiß gemacht werden wird.
Dieser Einwand ist völlig unbegründet. Mein Stimmrecht ist genau so demo¬
kratisch wie das allgemeine, gleiche, direkte, es ist ja selbst ein allgemeines,
gleiches und direktes. Nur sührt es die patriarchalische Auffassung, die Achtung
vor der Erfahrung und den Verdiensten, die das höhere Alter auszeichnen,
wieder ein. Diese Achtung war in den sehr demokratisch gesinnten Völkern
des Altertums stark entwickelt, während wir heute es allzusehr daran fehlen
lassen. Überdies will die Abstufung des Wahlrechts nach Altersklassen nicht
bloß eine Verbesserung des gleichen Stimmrechts sein; auch in den einzelnen
Wahlkörpcrn, die das Steuerklaffensystem unterscheidet, würde die Abstufung
des Stimmwerts nach Altersklassen für das gemeine Wohl förderlich sein.

Dieser Vorteil würde zunächst in einer wesentlichen Verringerung der Ver-


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[0479] Stimmenwert, nicht Stimmenzahl Verdeutlichen wir uns nun die Anwendung dieses Verfahrens an einem idealen Wahlgänge, worin fünfzigtausend Stimmen derart abgegeben werden, daß jede unsrer zehn Altersklassen fünftausend Wähler zur Urne oder vielmehr zu den Urnen geschickt hätte. Wir brauchen nämlich fünf Stimmzettelbehälter, immer je einen für zwei gleichwertige Altersklassen. Also einen für die jüngste und die älteste, einen für die zweitjüngste und die Zweitälteste u. s. f. Die Wähler treten nach einander vor den Leiter der Wahl, dieser bestimmt nach dem in der Wahllegitimation angesetzten Geburtsdatum die Altersklasse und legt den Stimmzettel in die entsprechende Urne. Nach Vollendung der Stimmen¬ abgabe enthält jede der fünf Urnen zehntausend Stimmzettel, die in der fol¬ genden Weise angerechnet werden: die der Urne I mit 1000V Wertstiminen „ „ „ 11 „ I > 000 „ „ „ III „ 12000 „ „ „ IV „ 13000 „ „ „ „ V „ ig 000 Die Gesamtzahl der abgegebnen Wcrtstimmen beträgt 61000, die Mehrheit also 30501. Diese Mehrheit ist beispielsweise schon erreicht, wenn ein Wahl¬ kandidat die 20000 Stimmzettel der Urnen V und IV und außerdem 2100 ans der Urne III ans sich vereinigt. Er hätte dann mit 22100 Zählstimmen 30520 Wertstimmen. Wenn die Wahl eine Stichwahl ist, so Ware der Gegner mit 27900 Zählstimmen, die aber nur 29 980 Wertstimmen ergeben, in der Minderheit geblieben. Der Kandidat der Vollreifen Männer zwischen vierzig und sechzig Jahren hätte also über den Kandidaten der jungen Leute gesiegt, obwohl seine Anhänger um 5800 Köpfe weniger zählen als die Gegenpartei. Mein Stimmrecht schätzt eben das Votum der Väter höher ein als das der Söhne. Thut dieses Stimmrecht damit etwas der Allgemeinheit Ersprießliches? Ehe ich diese Frage beantworte, muß ich den Vorwurf der Wahlrechts- verschlechternng abthun, der mir von gewisser Seite gewiß gemacht werden wird. Dieser Einwand ist völlig unbegründet. Mein Stimmrecht ist genau so demo¬ kratisch wie das allgemeine, gleiche, direkte, es ist ja selbst ein allgemeines, gleiches und direktes. Nur sührt es die patriarchalische Auffassung, die Achtung vor der Erfahrung und den Verdiensten, die das höhere Alter auszeichnen, wieder ein. Diese Achtung war in den sehr demokratisch gesinnten Völkern des Altertums stark entwickelt, während wir heute es allzusehr daran fehlen lassen. Überdies will die Abstufung des Wahlrechts nach Altersklassen nicht bloß eine Verbesserung des gleichen Stimmrechts sein; auch in den einzelnen Wahlkörpcrn, die das Steuerklaffensystem unterscheidet, würde die Abstufung des Stimmwerts nach Altersklassen für das gemeine Wohl förderlich sein. Dieser Vorteil würde zunächst in einer wesentlichen Verringerung der Ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/479>, abgerufen am 23.07.2024.