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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Stimmeilwert, nicht Stimmenzahl

sammlungsflucht und der Wahlflucht bestehen. Die säumigen Wähler sind
zumeist unter den ältern Herren zu suchen. Sie haben zwar mehr wirklich
politischen Sinn als die jungen Leute, aber sie erschöpfen ihn in den Kanne¬
gießereien der Bierbank, auf der sie sich zu ihresgleichen setzen. In der Ver¬
sammlung suhlen sie sich unbehaglich. Der Vater gilt dort nicht mehr als
der Sohn oder als der Bursch, der mit seiner Tochter "geht," der Meister
nicht mehr als der Geselle, der Vorgesetzte nicht mehr als der Untergebne. Das
paßt den Leutchen nicht, zumal da sie ganz wohl fühlen, daß ihnen durch
diese Gleichheit Unrecht geschieht. Hätten sie ein gewichtigeres Wort mit¬
zureden als die Grünschnabel, so würden sie zu Haus kommen. Jeder sühlt sich
gern und geht deshalb gern dahin, wo sein Verdienst gewürdigt wird. Zudem
würden diese ältern Männer dann von den Agitatoren viel mehr bearbeitet
als jetzt. Namentlich die extremen Parteien, d. h. ihre Führer und Wühler,
lassen jetzt die ältern Leute gern links liegen und halten sich lieber an die
jungen, die mit tönenden Worten leichter zu ködern sind, und deren Stimmen
ebensoviel wiegen wie die der kritischen, schwer heranzuholenden Alten. Wenn
das anders würde, müßten die Herrschaften andern Köder an ihre Angeln
stecken als jetzt. Mit Schlagworten fängt man die Erfahrnen nicht; wenn die
einen mächtig dreschen sehen, gucken sie erst zu, ob auch Körner auf die Tenne
springen. Für die Gütergemeinschaft sind die Bejahrten, die zäh an ihrem
Besitze hangen, mag er noch so klein sein, schwer zu erwärmen. Wenn sie, von
der Freiheit reden hören, machen sie den Vorbehalt, daß diese Freiheit nicht
auch die schädlichen Kräfte entfesseln dürfe -- kurz, die Freisinnigen und die
Zukunftsstätler würden schlechte Geschäfte machen.

Aber auch der doktrinäre Kvnservativismns würde seinen Weizen nicht
recht zur Blüte komme" sehen. Denn so unwahrscheinlich es klingt, mich auf
dieser Seite sind die extremen Prinzipienreiter zum größten Teil die jüngern
Leute. Sie kochen entweder zu heiß, weil sie rasch vorwärtskommen wollen,
oder weil der ungestüme Idealismus des jugendlichen Theoretikers in ihnen
lodert. Unter besonnenen, kühlen, erfahrnen Leuten aber haben Liberale und
Konservative sehr viele Berührungspunkte. Wenn ihre Meinung bei den Wahlen
entsprechend wirkte, würde sich die Politik der Mittellinie, die jetzt, weil die
Radikalen um ihrer Zahl willen überall die Vorhand haben, in allen Staaten
so mühsam gesucht wird, aus der Mitte der Volksvertretung ganz von selbst
ergeben.

Vielleicht versucht es ein Staat, aller dieser schönen Wirkungen teilhaft
zu werden, indem er sein Wahlsystem nach meinem Gedankengange formt.
Der nächste dazu wäre Osterreich, dessen staatliches Leben ja unter der Herr¬
schaft des famosen Notverordnuugsparagraphen zu einer Kette kleiner Staats-
streichsexplosioncn geworden ist. Zudem redet man in Wien gerade jetzt von
einer drohenden Wahlrechtsoktrohirung. Nach meinem System würde die Ne-


Stimmeilwert, nicht Stimmenzahl

sammlungsflucht und der Wahlflucht bestehen. Die säumigen Wähler sind
zumeist unter den ältern Herren zu suchen. Sie haben zwar mehr wirklich
politischen Sinn als die jungen Leute, aber sie erschöpfen ihn in den Kanne¬
gießereien der Bierbank, auf der sie sich zu ihresgleichen setzen. In der Ver¬
sammlung suhlen sie sich unbehaglich. Der Vater gilt dort nicht mehr als
der Sohn oder als der Bursch, der mit seiner Tochter „geht," der Meister
nicht mehr als der Geselle, der Vorgesetzte nicht mehr als der Untergebne. Das
paßt den Leutchen nicht, zumal da sie ganz wohl fühlen, daß ihnen durch
diese Gleichheit Unrecht geschieht. Hätten sie ein gewichtigeres Wort mit¬
zureden als die Grünschnabel, so würden sie zu Haus kommen. Jeder sühlt sich
gern und geht deshalb gern dahin, wo sein Verdienst gewürdigt wird. Zudem
würden diese ältern Männer dann von den Agitatoren viel mehr bearbeitet
als jetzt. Namentlich die extremen Parteien, d. h. ihre Führer und Wühler,
lassen jetzt die ältern Leute gern links liegen und halten sich lieber an die
jungen, die mit tönenden Worten leichter zu ködern sind, und deren Stimmen
ebensoviel wiegen wie die der kritischen, schwer heranzuholenden Alten. Wenn
das anders würde, müßten die Herrschaften andern Köder an ihre Angeln
stecken als jetzt. Mit Schlagworten fängt man die Erfahrnen nicht; wenn die
einen mächtig dreschen sehen, gucken sie erst zu, ob auch Körner auf die Tenne
springen. Für die Gütergemeinschaft sind die Bejahrten, die zäh an ihrem
Besitze hangen, mag er noch so klein sein, schwer zu erwärmen. Wenn sie, von
der Freiheit reden hören, machen sie den Vorbehalt, daß diese Freiheit nicht
auch die schädlichen Kräfte entfesseln dürfe — kurz, die Freisinnigen und die
Zukunftsstätler würden schlechte Geschäfte machen.

Aber auch der doktrinäre Kvnservativismns würde seinen Weizen nicht
recht zur Blüte komme» sehen. Denn so unwahrscheinlich es klingt, mich auf
dieser Seite sind die extremen Prinzipienreiter zum größten Teil die jüngern
Leute. Sie kochen entweder zu heiß, weil sie rasch vorwärtskommen wollen,
oder weil der ungestüme Idealismus des jugendlichen Theoretikers in ihnen
lodert. Unter besonnenen, kühlen, erfahrnen Leuten aber haben Liberale und
Konservative sehr viele Berührungspunkte. Wenn ihre Meinung bei den Wahlen
entsprechend wirkte, würde sich die Politik der Mittellinie, die jetzt, weil die
Radikalen um ihrer Zahl willen überall die Vorhand haben, in allen Staaten
so mühsam gesucht wird, aus der Mitte der Volksvertretung ganz von selbst
ergeben.

Vielleicht versucht es ein Staat, aller dieser schönen Wirkungen teilhaft
zu werden, indem er sein Wahlsystem nach meinem Gedankengange formt.
Der nächste dazu wäre Osterreich, dessen staatliches Leben ja unter der Herr¬
schaft des famosen Notverordnuugsparagraphen zu einer Kette kleiner Staats-
streichsexplosioncn geworden ist. Zudem redet man in Wien gerade jetzt von
einer drohenden Wahlrechtsoktrohirung. Nach meinem System würde die Ne-


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[0480] Stimmeilwert, nicht Stimmenzahl sammlungsflucht und der Wahlflucht bestehen. Die säumigen Wähler sind zumeist unter den ältern Herren zu suchen. Sie haben zwar mehr wirklich politischen Sinn als die jungen Leute, aber sie erschöpfen ihn in den Kanne¬ gießereien der Bierbank, auf der sie sich zu ihresgleichen setzen. In der Ver¬ sammlung suhlen sie sich unbehaglich. Der Vater gilt dort nicht mehr als der Sohn oder als der Bursch, der mit seiner Tochter „geht," der Meister nicht mehr als der Geselle, der Vorgesetzte nicht mehr als der Untergebne. Das paßt den Leutchen nicht, zumal da sie ganz wohl fühlen, daß ihnen durch diese Gleichheit Unrecht geschieht. Hätten sie ein gewichtigeres Wort mit¬ zureden als die Grünschnabel, so würden sie zu Haus kommen. Jeder sühlt sich gern und geht deshalb gern dahin, wo sein Verdienst gewürdigt wird. Zudem würden diese ältern Männer dann von den Agitatoren viel mehr bearbeitet als jetzt. Namentlich die extremen Parteien, d. h. ihre Führer und Wühler, lassen jetzt die ältern Leute gern links liegen und halten sich lieber an die jungen, die mit tönenden Worten leichter zu ködern sind, und deren Stimmen ebensoviel wiegen wie die der kritischen, schwer heranzuholenden Alten. Wenn das anders würde, müßten die Herrschaften andern Köder an ihre Angeln stecken als jetzt. Mit Schlagworten fängt man die Erfahrnen nicht; wenn die einen mächtig dreschen sehen, gucken sie erst zu, ob auch Körner auf die Tenne springen. Für die Gütergemeinschaft sind die Bejahrten, die zäh an ihrem Besitze hangen, mag er noch so klein sein, schwer zu erwärmen. Wenn sie, von der Freiheit reden hören, machen sie den Vorbehalt, daß diese Freiheit nicht auch die schädlichen Kräfte entfesseln dürfe — kurz, die Freisinnigen und die Zukunftsstätler würden schlechte Geschäfte machen. Aber auch der doktrinäre Kvnservativismns würde seinen Weizen nicht recht zur Blüte komme» sehen. Denn so unwahrscheinlich es klingt, mich auf dieser Seite sind die extremen Prinzipienreiter zum größten Teil die jüngern Leute. Sie kochen entweder zu heiß, weil sie rasch vorwärtskommen wollen, oder weil der ungestüme Idealismus des jugendlichen Theoretikers in ihnen lodert. Unter besonnenen, kühlen, erfahrnen Leuten aber haben Liberale und Konservative sehr viele Berührungspunkte. Wenn ihre Meinung bei den Wahlen entsprechend wirkte, würde sich die Politik der Mittellinie, die jetzt, weil die Radikalen um ihrer Zahl willen überall die Vorhand haben, in allen Staaten so mühsam gesucht wird, aus der Mitte der Volksvertretung ganz von selbst ergeben. Vielleicht versucht es ein Staat, aller dieser schönen Wirkungen teilhaft zu werden, indem er sein Wahlsystem nach meinem Gedankengange formt. Der nächste dazu wäre Osterreich, dessen staatliches Leben ja unter der Herr¬ schaft des famosen Notverordnuugsparagraphen zu einer Kette kleiner Staats- streichsexplosioncn geworden ist. Zudem redet man in Wien gerade jetzt von einer drohenden Wahlrechtsoktrohirung. Nach meinem System würde die Ne-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/480>, abgerufen am 27.12.2024.