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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

ihre Mitwesen erkannten, die gleich ihm wirkten und erkennend und wirkend
ihr Dasein genössen, und dazu diente ihm der Komplex von Erscheinungen,
den wir die Körperwelt nennen, als Mittel. Daß wir nun diese Einrichtung,
durch die er uns das Dasein ermöglicht, nicht begreifen, nicht durchschauen,
ist sehr natürlich, da wir ja nicht selbst Gott, nicht unsre Schöpfer sind; wir
dürfen uns daher nicht darüber wundern, daß wir bei der Betrachtung des
Wesens der Dinge nur bis zu einer gewissen Tiefe klar sehen, zuletzt aber auf
unaufhellbares Dunkel und auf unlösliche Widersprüche stoßen. Dadurch sind
wir nicht genötigt, die Welt und uns selbst in lauter Illusion aufzulösen,
bleiben vielmehr unsrer und der Welt Realität, die beide in der realsten Rea¬
lität, in Gott, wurzeln und von ihr getragen werden, vollkommen gewiß.
Aber das ist allerdings nicht zu vermeiden, daß dem Philosophen die religiöse
Wärme verloren geht. Diese strahlt von den sinnlichen Vorstellungen aus,
die sich der kindliche Mensch von Gott macht, und die muß der Philosophi-
rende aufgeben. Darin hat Kant recht, daß wir von der Beschaffenheit der
jenseitigen Dinge nichts wissen, nichts wissen können; wir haben kein Organ
für ihre Wahrnehmung, und wir wissen, daß die Bilder, die man von ihnen
entwirft, der Wirklichkeit nicht entsprechen können. Wir glauben zwar, daß
alles Vergängliche nur ein Gleichnis ist von jener ewigen Welt der Ideen,
die Plato verehren lehrt, aber diese stehen, gleich den Göttern Epikurs, zu
sern, als daß sie einen merkbaren Einfluß auf uns ausüben sollten; Einfluß
üben nur ihre Abbilder, eben die in uns selbst wirkenden Ideen, deren Wirk¬
samkeit allerdings durch den Glauben verstärkt wird, daß sie keine leeren Ein¬
bildungen sind.

Selbst Gelehrte können dem erkältenden Einflüsse der Philosophie entgehen,
wenn sie sich auf ein abseits von diesen Problemen liegendes Fach beschränken.
So konnte Röscher in den von seinem Sohne herausgegebnen religiösen Be¬
trachtungen schreiben: Was für herrliche Dramen wird Sophokles, wird
Shakespeare im Jenseits all die Jahrhunderte hindurch drüben gedichtet haben!
Als ob Lustspiele möglich wären ohne menschliche Thorheiten und Trauerspiele
ohne Unglück und Schuld, und als ob das Stoffe wären für die Seligen,
wie sie sich der Christ vorstellt. In den Himmel wird wohl nur die Lyrik
Einlaß finden. Aber wir wissen überhaupt nichts von ihm und können uns
schlechterdings keine Vorstellung machen von einem Dasein, für das die irdischen
Daseinsbedingungen nicht gelten. Deshalb kann der philosophische Theist, der
sich diese Unzugänglichkeit des Jenseits, diese Unvorstellbarkeit Gottes klar gemacht
hat, nicht mehr im Gebete mit dem lieben Gott wie mit eineni guten Freunde oder
gütigen Vater vertraulich plaudern; weder zu einer leidenschaftlichen Liebe zu
Gott bringt er es. noch zur Sehnsucht nach dem Himmel, denn: issvoti mcklg,
onMo. Aber von der Furcht vor dem Tode ist er befreit, er erwartet, was
sich ihm darüber enthüllen mag, mit Gelassenheit, da es nichts unvernünftiges


Friedrich Nietzsche

ihre Mitwesen erkannten, die gleich ihm wirkten und erkennend und wirkend
ihr Dasein genössen, und dazu diente ihm der Komplex von Erscheinungen,
den wir die Körperwelt nennen, als Mittel. Daß wir nun diese Einrichtung,
durch die er uns das Dasein ermöglicht, nicht begreifen, nicht durchschauen,
ist sehr natürlich, da wir ja nicht selbst Gott, nicht unsre Schöpfer sind; wir
dürfen uns daher nicht darüber wundern, daß wir bei der Betrachtung des
Wesens der Dinge nur bis zu einer gewissen Tiefe klar sehen, zuletzt aber auf
unaufhellbares Dunkel und auf unlösliche Widersprüche stoßen. Dadurch sind
wir nicht genötigt, die Welt und uns selbst in lauter Illusion aufzulösen,
bleiben vielmehr unsrer und der Welt Realität, die beide in der realsten Rea¬
lität, in Gott, wurzeln und von ihr getragen werden, vollkommen gewiß.
Aber das ist allerdings nicht zu vermeiden, daß dem Philosophen die religiöse
Wärme verloren geht. Diese strahlt von den sinnlichen Vorstellungen aus,
die sich der kindliche Mensch von Gott macht, und die muß der Philosophi-
rende aufgeben. Darin hat Kant recht, daß wir von der Beschaffenheit der
jenseitigen Dinge nichts wissen, nichts wissen können; wir haben kein Organ
für ihre Wahrnehmung, und wir wissen, daß die Bilder, die man von ihnen
entwirft, der Wirklichkeit nicht entsprechen können. Wir glauben zwar, daß
alles Vergängliche nur ein Gleichnis ist von jener ewigen Welt der Ideen,
die Plato verehren lehrt, aber diese stehen, gleich den Göttern Epikurs, zu
sern, als daß sie einen merkbaren Einfluß auf uns ausüben sollten; Einfluß
üben nur ihre Abbilder, eben die in uns selbst wirkenden Ideen, deren Wirk¬
samkeit allerdings durch den Glauben verstärkt wird, daß sie keine leeren Ein¬
bildungen sind.

Selbst Gelehrte können dem erkältenden Einflüsse der Philosophie entgehen,
wenn sie sich auf ein abseits von diesen Problemen liegendes Fach beschränken.
So konnte Röscher in den von seinem Sohne herausgegebnen religiösen Be¬
trachtungen schreiben: Was für herrliche Dramen wird Sophokles, wird
Shakespeare im Jenseits all die Jahrhunderte hindurch drüben gedichtet haben!
Als ob Lustspiele möglich wären ohne menschliche Thorheiten und Trauerspiele
ohne Unglück und Schuld, und als ob das Stoffe wären für die Seligen,
wie sie sich der Christ vorstellt. In den Himmel wird wohl nur die Lyrik
Einlaß finden. Aber wir wissen überhaupt nichts von ihm und können uns
schlechterdings keine Vorstellung machen von einem Dasein, für das die irdischen
Daseinsbedingungen nicht gelten. Deshalb kann der philosophische Theist, der
sich diese Unzugänglichkeit des Jenseits, diese Unvorstellbarkeit Gottes klar gemacht
hat, nicht mehr im Gebete mit dem lieben Gott wie mit eineni guten Freunde oder
gütigen Vater vertraulich plaudern; weder zu einer leidenschaftlichen Liebe zu
Gott bringt er es. noch zur Sehnsucht nach dem Himmel, denn: issvoti mcklg,
onMo. Aber von der Furcht vor dem Tode ist er befreit, er erwartet, was
sich ihm darüber enthüllen mag, mit Gelassenheit, da es nichts unvernünftiges


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[0445] Friedrich Nietzsche ihre Mitwesen erkannten, die gleich ihm wirkten und erkennend und wirkend ihr Dasein genössen, und dazu diente ihm der Komplex von Erscheinungen, den wir die Körperwelt nennen, als Mittel. Daß wir nun diese Einrichtung, durch die er uns das Dasein ermöglicht, nicht begreifen, nicht durchschauen, ist sehr natürlich, da wir ja nicht selbst Gott, nicht unsre Schöpfer sind; wir dürfen uns daher nicht darüber wundern, daß wir bei der Betrachtung des Wesens der Dinge nur bis zu einer gewissen Tiefe klar sehen, zuletzt aber auf unaufhellbares Dunkel und auf unlösliche Widersprüche stoßen. Dadurch sind wir nicht genötigt, die Welt und uns selbst in lauter Illusion aufzulösen, bleiben vielmehr unsrer und der Welt Realität, die beide in der realsten Rea¬ lität, in Gott, wurzeln und von ihr getragen werden, vollkommen gewiß. Aber das ist allerdings nicht zu vermeiden, daß dem Philosophen die religiöse Wärme verloren geht. Diese strahlt von den sinnlichen Vorstellungen aus, die sich der kindliche Mensch von Gott macht, und die muß der Philosophi- rende aufgeben. Darin hat Kant recht, daß wir von der Beschaffenheit der jenseitigen Dinge nichts wissen, nichts wissen können; wir haben kein Organ für ihre Wahrnehmung, und wir wissen, daß die Bilder, die man von ihnen entwirft, der Wirklichkeit nicht entsprechen können. Wir glauben zwar, daß alles Vergängliche nur ein Gleichnis ist von jener ewigen Welt der Ideen, die Plato verehren lehrt, aber diese stehen, gleich den Göttern Epikurs, zu sern, als daß sie einen merkbaren Einfluß auf uns ausüben sollten; Einfluß üben nur ihre Abbilder, eben die in uns selbst wirkenden Ideen, deren Wirk¬ samkeit allerdings durch den Glauben verstärkt wird, daß sie keine leeren Ein¬ bildungen sind. Selbst Gelehrte können dem erkältenden Einflüsse der Philosophie entgehen, wenn sie sich auf ein abseits von diesen Problemen liegendes Fach beschränken. So konnte Röscher in den von seinem Sohne herausgegebnen religiösen Be¬ trachtungen schreiben: Was für herrliche Dramen wird Sophokles, wird Shakespeare im Jenseits all die Jahrhunderte hindurch drüben gedichtet haben! Als ob Lustspiele möglich wären ohne menschliche Thorheiten und Trauerspiele ohne Unglück und Schuld, und als ob das Stoffe wären für die Seligen, wie sie sich der Christ vorstellt. In den Himmel wird wohl nur die Lyrik Einlaß finden. Aber wir wissen überhaupt nichts von ihm und können uns schlechterdings keine Vorstellung machen von einem Dasein, für das die irdischen Daseinsbedingungen nicht gelten. Deshalb kann der philosophische Theist, der sich diese Unzugänglichkeit des Jenseits, diese Unvorstellbarkeit Gottes klar gemacht hat, nicht mehr im Gebete mit dem lieben Gott wie mit eineni guten Freunde oder gütigen Vater vertraulich plaudern; weder zu einer leidenschaftlichen Liebe zu Gott bringt er es. noch zur Sehnsucht nach dem Himmel, denn: issvoti mcklg, onMo. Aber von der Furcht vor dem Tode ist er befreit, er erwartet, was sich ihm darüber enthüllen mag, mit Gelassenheit, da es nichts unvernünftiges

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/445>, abgerufen am 23.07.2024.